Die Methoden des klassischen Zeitmanagement reichen nicht mehr aus. Wer innovativ sein will, muss seinen Mitarbeitern scheinbar unproduktive Zeiten lassen, erklärt Jonas Geißler. Der Zeitforscher und Berater spricht mit cio.de über neues Führen und die Sehnsucht nach Resonanz. [...]
Pünktlich um halb zwölf klingelt das Telefon, und auf dem Display erscheint eine Mobilnummer. Das ist unerwartet, denn die Anbahnung des Gesprächs mit Jonas Geißler kam ausschließlich über E-Mail und einer einseitigen Übermittlung von Telefondaten (unsere Telefonnummer) zustande. Der junge Zeitforscher trägt übrigens wie sein Vater keine Uhr, denn „Handy und Computer zeigen ja an, wie spät es ist!“ Geißlers Vater Karlheinz versteht sich nicht nur als Forscher, sondern auch als Zeitpolitiker. Für den Junior hat das Thema etwas mit agilen Methoden zu tun, wie er im Gespräch mit cio.de erklären wird.
- Die besten Ideen haben Menschen unter der Dusche und beim Bügeln, wissen Innovations-Manager
- Chefs sind musterprägend, Anforderungen wie „As soon as possible“ darf es nur im Notfall geben
- Zeitberatung setzt an drei Punkten an: Logik der Aufgaben, die eigene Psyche, die Erwartungen des sozialen Umfelds
Was ist Zeitpolitik? Grob gesagt: So, wie etwa Stadtplaner den urbanen Raum verplanen, sollten sie auch Zeit verplanen. Sie sollten „nachhaltig öffentliche, wirtschaftliche und politische Zeitstrukturen mit den Bedürfnissen von Individuen, Familien und Gruppen vereinbar machen“. Analog beispielsweise zur Frauenbeauftragten wird ein Zeitbeauftragter gefordert. Die Landeshauptstadt von Südtirol, Bozen, hat bereits ein Zeitbüro eingerichtet. Die Bürger werden nach ihren Tagesabläufen gefragt, um zum Beispiel Busfahrpläne darauf abzustimmen.
Es geht bei Zeitforschung und -politik nicht um Zeitmanagement im Sinne eines Effizienter, Schneller, Produktiver. In die Münchener Praxis der Geißlers, die sich als Zeitberater verstehen, kommen einzelne Manager wie ganze Teams. Die meisten davon gestresst.
„Ich lehne die Methoden des Zeitmanagements nicht ab“, sagt Jonas Geißler. „Aber ich sehe, dass sie in unseren immer komplexeren Zeiten nicht ausreichen.“ Seine Beratung setzt an drei Punkten an: Wie stellt sich die Logik meiner Aufgaben dar? Was motiviert mich, wie erlebe ich meine Psyche? Welche Erwartungen stellt mein soziales Umfeld – beruflich wie privat – an mich? „Innerhalb dieses Dreiecks arbeiten wir an der Frage, wo der Einzelne intervenieren kann“, erklärt Geißler.
„SOCIAL JETLAGS“ IM TEAM AUFDECKEN
Ein Unternehmen hat dann eine gute Zeitkultur, wenn Führungskräfte die Zeitnatur ihrer Mitarbeiter berücksichtigen. Dazu gehört nicht nur Gleitzeit. Sondern auch die Möglichkeit zu ungestörter Fokus-Zeit, Selbstbestimmung, Zeiten der Wertschätzung und des kollegialen Austauschs. Kommen in einer Teambesprechung die Anforderungen erstmal auf den Tisch, zeigen sich „Social Jetlags“. Wer Teamentwicklung durch die zeitliche Brille betrachtet, sieht aber auch das, was gut läuft, versichert Geißler.
Führungskräfte sind „musterprägend“, so der junge Berater weiter. Er fordert, Zeitkompetenz als eine Basiskompetenz von Chefs zu definieren. Konkret: Anforderungen wie „as soon as possible“ (asap) darf ein Chef nur in echten Notsituationen aussprechen. „Eine Führungskraft darf nicht wochenlang etwas vor sich herschieben, es dann dem Mitarbeiter hinknallen und erklären, das müsse bis morgen fertig sein“, sagt Geißler. Außerdem muss ein Chef für zeitliche Klarheit sorgen: Wie detailliert soll der Mitarbeiter diese oder jene Präsentation ausarbeiten? Zeitkompetenz heißt laut Geißler auch, dass Chefs die Aufgaben angehen, die wichtig, aber nicht dringend sind. Die Beschäftigung mit Strategischem, Reflektierendem mag nicht unmittelbar produktiv sein – aber notwendig.
UNGESCHRIEBENE GESETZE WIE „KEINER VERLÄSST VOR DEM CHEF DAS BÜRO“
Die Zeitkultur eines Betriebs zeigt sich an den ungeschriebenen Gesetzen. Beispiele dafür sind „Keiner verlässt vor dem Chef das Büro!“ oder „Wir sind immer für unsere Kunden da!“. Ein anderer Indikator ist die Haltung der Führungskraft zu Pausen. Wo diese als überflüssiges Zeitloch gelten, wo dem Mitarbeiter zugemutet wird, in der Mittagspause am Rechner ein Brötchen zu essen, herrscht Stress.
Das Bewusstsein für diese Problematik wächst, beobachtet Geißler. „Sie können heute in einem Leadership-Workshop für einen DAX 30-Konzern Themen anbieten, für die Sie zehn Jahre früher vom Hof gejagt worden wären“, sagt er. Zu verdanken sei das auch der IT. Deren Idee der agilen Software-Entwicklung etabliert sich als agile Methoden im Business. Flexibles Arbeiten, kurze Entscheidungswege, die Praxis der Sprints aus Scrum eignen sich gut, um komplexe Anforderungen zu bewältigen, bestätigt Geißler. „Ich darf gerade zwei Unternehmen beim Umstieg auf agile Methoden begleiten“, erzählt er. Was heißt das für die Führung? „Agile Methoden funktionieren nur mit dienender Führung, nicht mit einem Patriarchen an der Firmenspitze.“
Manche Forderung der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik setzen Unternehmen bereits um. Die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten zum Beispiel. Einen weiteren Push in die richtige Richtung erwartet Geißler von der wachsenden Zahl an Innovations-Managern. Aus einem ganz einfachen Grund: „Die besten Ideen hat man nicht am Schreibtisch. Sondern unter der Dusche oder beim Bügeln.“ Meist jedenfalls in Zeiten, die nicht mit Aufgaben vollgestopft sind. Unternehmen seien einfach gezwungen, zeitpolitisch umzudenken und „reizarme Zeiten“ als Produktivitätsfaktor anzuerkennen.
TANZEN HILFT, DEN UMGANG MIT RHYTHMUS, PAUSE UND BEWEGUNG WAHRZUNEHMEN
Das Ganze hat aus Sicht der Zeitforschung auch eine tieferliegende Ebene. Geißler spricht von der „Sehnsucht nach Resonanz-Beziehungen“. Der Einzelne – ob Mitarbeiter oder Führungskraft – braucht die Erfahrung, etwas bewirken zu können. Dass er gehört wird und Dinge mitgestalten kann, dass er Antwort bekommt und darauf wiederum reagieren kann.Gestressten Arbeitnehmern empfiehlt Geißler deshalb ein Tool für die Selbstwirksamkeit. Abends zu reflektieren, was man den ganzen Tag über gemacht hat, soll vermeiden, dass sich jemand vor lauter Arbeiten nicht mehr spürt.
Der starke Gegentrend rund um Yoga und Achtsamkeit überrascht Geißler nicht. Sein persönlicher Tipp: Tanzen. Alles in der Natur ist rhythmisch, das menschliche Herz schlägt im Rhythmus. Tanzen hilft, den Umgang mit Takt und Rhythmus, mit Bewegung und Pause bewusst wahrzunehmen, so der Zeitforscher. Geißler will sich nicht als Gegner der Zeitmessung verstanden wissen, aber als Gegner von Stress. Dem Motto „Time is money“ setzt er „Time is honey“ entgegen.
Sein Lesestipp ist übrigens Michael Endes Kinderbuch „Momo“. Ein kleines Mädchen begegnet hier den grauen Herren der Zeitsparkasse, die etwa einem freundlichen Friseur erklären, er solle mit seinen Besuchen bei der behinderten Nachbarin aufhören. Er wolle die Dame ja nicht heiraten, also sei das Zeitverschwendung. Aber dann trifft Momo Meister Hora, der ihr und den Menschen zeigt, wie unwiederbringlich und wertvoll jede einzelne Stunde ist und wie sehr der nette Friseur die Zeit mit der Nachbarin schätzt. „Meine größere Tochter ist gerade in dem Alter dafür“, sagt Geißler, „und ich freue mich schon darauf, das Buch mit ihr zu lesen!“
*Christiane Pütter ist Journalistin aus München und arbeitet unter anderem für CIO und Computerwoche
Be the first to comment