Ein Tsunami fegt durch die ERP-Welt

Im Vergleich zu den Megatrends wie Cloud Computing, Mobility oder Big Data scheint der ERP-Markt weiterhin ein geradezu beschauliches Dasein zu führen. Doch dieser Eindruck trügt erheblich. [...]

Gartner prägte 1990 erstmals das Akronym ERP (enterprise resource planning) als Vision einer evolutionären Erweiterung für die „resource planning domain“ von MRP, eines lange zuvor etablierten Konzepts für den produzierenden Sektor. MRP stammt übrigens als „material requirement planning“ aus dem Jahr 1964, Black & Decker war der erste Anwender. 1983 wurde das Konzept zu MRP-II (manufacturing resource planning) erweitert. Aus ERP ist jedoch weit mehr geworden. Heute verstehen wir unter ERP allgemein Business-Applikationen für interne und externe Geschäftsprozess-Transaktionen inklusive Finanz- und Rechnungswesen. Und zwar längst nicht mehr nur für Produktionsbetriebe, sondern auch für Nicht-Produzenten, unabhängig von Branche oder Region.

Im Jahr 2000 publizierte Gartner einen Artikel mit dem Titel „ERP ist tot – lang lebe ERP-II“. Auch wenn inzwischen in diversen Kreisen schon der Begriff „ERP-III“ herumgeistert, so gelang Gartner mit der erstmals 2013 erwähnten Bezeichnung „postmodern ERP“ erneut die Etablierung eines marktprägenden Begriffes samt Konzept für eine neue ERP-Ära. Damit einhergehend erklärte Gartner das Zeitalter für die bisherige automatische Heilssuchung in lokal betriebenen, alleinstehenden und monolithischen ERP-Systemen für tot.

Doch was steht hinter dem Epochenwechsel, was sind bedeutende Treiber und Motivatoren? Die Antworten lassen sich in drei Bereiche gliedern: IKT-Ökosystem, ERP-Anwender und ERP-Anbieter.

IKT-ÖKOSYSTEM
1.: Eine wichtige Rolle spielt das Zusammenwirken von wesentlichen neuen Markt- und Technologie-Kräften.
IDC bezeichnet diese als „3rd Platform“, basierend auf mobilen Geräten, Cloud-Services, Social Technologies und Big Data. Gartner spricht vom „Nexus of Forces“, dem sich gegenseitig verstärkenden Zusammenwirken von vier ineinandergreifenden Faktoren: soziale Interaktion, Mobilität, Cloud und Informationen. Aber hier kommt noch einiges hinzu, nicht nur an Nebenwirkungen. So erfährt beispielsweise das „Digital Business“, etwa Online-Handel und -Services, ein weiterhin exorbitantes Wachstum. Es tun sich dafür ständig neue Geschäftsmodelle und Geschäftsprozesse auf und alte, traditionelle Modelle werden gravierend verändert. Das digitale Business wird wohl in den meisten Unternehmen zur wichtigsten Quelle für Innovation. Völlig neue Player entern über Nacht bislang gut besetzte Marktplätze und fahren so soliden Firmen, gar Konzernen, in die Parade oder erschaffen komplett neue Optionen. Aber auch dies ist noch nicht das Ende der Fahnenstange, denken wir zum Beispiel an das Internet der Dinge. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Internet, Cloud, Mobility und Social Networks haben die Welt zum 24/7-Dorf gemacht, mit völlig neuen Spielregeln.

ERP-ANWENDER
2.: Die User sind inzwischen IKT-technisch sehr mündig geworden und voll auf den Geschmack gekommen. Nicht nur die jüngeren Generationen, sondern auch die meisten Berufstätigen. Selbst Senioren finden Spaß daran. Die große Verbreitung und Akzeptanz von Mobility, Cloud, Social Networks sowie die rasante Entwicklung von Smart-Phones, Tablets, Bandbreite, der schier unzähligen Apps und Anwendungsbereiche haben ihnen gezeigt, wie easy der Umgang mit IKT heute de facto möglich ist. Wie flexibel man rund um die Uhr mit Vergnügen online sein sowie sein Büro in der Tasche haben kann. Immer mehr User sind sogar bereit, ihre privaten Geräte auch beruflich einzusetzen (BYOD), um möglichst komfortabel, frei, zu jeder Zeit und von überall aus zu arbeiten.

Durch diese neue Reife der Anwender, Technologien und Infrastruktur steigt jedoch die Unzufriedenheit, der Frust und das Unverständnis gegenüber den vielen altbackenen, schwerfälligen, monolithisch-gigantischen, oft wenig userfreundlichen, nur aufwendig anpassbaren und kaum auf der Höhe der Zeit zu haltenden ERP-Systemen immens. Das erzeugt massiven Druck für Veränderung in Richtung bessere Usability. Diverse Faceliftings für ERP-Systeme, die seinerzeit bestenfalls für Desktop-Frontends, nicht aber für Browser und Mobility konzipiert wurden, können immer schwerer darüber hinwegtäuschen: Die User-Akzeptanz erodiert regelrecht.

Die bislang langfristige Bindung zum meist alleinigen, beim Kunden dominierenden ERP-Lieferanten empfindet man zunehmend als Korsett. Aber auch die Wirtschaftlichkeit vieler ERP-Systeme wird verstärkt infrage gestellt, wenn in der Regel 80 Prozent des IT-Budgets der Kunden nur dafür verbrannt wird, die Maschinerie überhaupt am Laufen zu halten. Da bleibt wenig Spielraum für Innovation und Anwender lechzen nach attraktiveren, agileren, produktiveren Alternativen, die sie im rasanten Wettbewerb schneller und günstiger vorwärts bringen.

ERP-ANBIETER
3.: Die meisten der ERP-Suiten sind im Laufe ihrer Jahrzehnte zu großen, immer schwieriger wartbaren, hyperkomplexen Monolithen geworden. Sie bestehen aus Millionen von überwiegend handgestrickten Code-Zeilen, wie eine in ihrer Offenheit überraschende Aussage von SAP-Aufsichtsratsboss Hasso Plattner Anfang 2014 zeigt: „SAP hat derzeit ein Barock-System. Und wenn wir 400 Millionen Codezeilen umschreiben müssen, dann müssen wir das tun.“ Re-Designs, insbesondere in ihrer grundlegenden Architektur, sind für viele ERP-Hersteller zur Mammut-Aufgabe geworden, die gerade kleinere bzw. mittlere ERP-Anbieter im zum Haifischbecken mutierten Markt kaum mehr alleine stemmen können.

Auf breiter Front der Marktanforderungen mit neuesten Technologien stets der Beste und Schnellste zu sein, ist nicht möglich. „One size fit’s all“ bzw. „yes, we can everything“ ebenso nicht. ERP-Einführungen sind noch immer schwierig und die Zahl der Projekte die scheitern bzw. Budget und Zeitplan massiv überschreiten, ist beträchtlich. Das alles haben die meisten Kunden mittlerweile durchschaut. Dennoch sind auch die Anwender nicht ganz unschuldig an dieser Misere. Zu oft war die Bereitschaft gering, sich an Branchen-Standard-Lösungen anzupassen, einem vernünftigen 80/20-Pragmatismus den Vorrang zu geben. Statt dessen wurde auf Kosten von Flexibilität und Schnelligkeit Perfektionierung, Zentralisierung und überzogene Integration betrieben, wodurch jene zusätzlichen 20 Prozent die Pyramide auf den Kopf stellen und 80 Prozent des Entwicklungs- und Wartungsaufwands schlucken.

AUTOMOBILINDUSTRIE ZEIGT VOR, WIE ES GEHT
Verwunderlicher Weise hat sich das, was uns die Automobilindustrie seit Jahrzehnten höchst erfolgreich vorlebt, bis heute in der ERP-Industrie nicht wirklich etabliert: Die arbeitsteilige Entwicklung und Produktion von Komponenten mithilfe von herstellerübergreifend arbeitenden Zuliefer-Partnern, um so die Komplexität sowie Spezialisierung besser zu schultern, die eigene Fertigungstiefe stark zu reduzieren sowie rascher auf die Märkte und Bedürfnisse der Kunden zu reagieren. Dies geht sogar so weit, dass sich der Autokäufer ein Produkt in beliebigen Varianten selbst online konfigurieren kann, vorher den genauen Preis samt standardisierter Eigenschaften und den Liefertermin kennt, und sich auch darauf verlassen kann. Und falls er Lust oder Bedarf hat, kann er das Produkt jederzeit austauschen und sogar auf einen Gebrauchtmarkt zurückgreifen.


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