Im Vergleich zu den Megatrends wie Cloud Computing, Mobility oder Big Data scheint der ERP-Markt weiterhin ein geradezu beschauliches Dasein zu führen. Doch dieser Eindruck trügt erheblich. [...]
Die freie Marktwirtschaft wird auch für dieses Spannungsfeld der drei genannten Bereiche ihre Lösungen finden. Eventuell schneller, als so manchem ERP-Hersteller lieb sein wird, dennoch nicht über Nacht. Trotzdem: hier haben wir es mit einer sehr ernst zu nehmenden, disruptiven Entwicklung im ERP-Markt zu tun, einem Tsunami, der das Potenzial hat, die ERP-Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern. Wie sehen die daraus abzuleitenden Antworten des Marktes, die transformierenden, postmodernen ERP-Trends aus?
LOSE GEKOPPELTE APPLIKATIONEN
Zunächst zum Hauptfaktor, dem alles verändernden Schlüssel zu „postmodern ERP“: „Loosely Coupled Applications“, um abermals Gartner zu zitieren. Gartner zeichnet einen Weg des Rückbaus von „suite-centric ERP“, also von ERP-Komplettpaketen, zu lose gekoppelten Anwendungen, die per se losgelöst von der Herkunft bzw. Quelle der Geschäftsprozess-Regeln arbeiten, jedoch in ihrer Architektur Cloud, Mobility und soziale Möglichkeiten integrieren und dabei dennoch Prozess-getrieben flexibel agieren. Diese künftige Mischform von ERP-Komponenten wird somit aus verschiedensten Applikationen unterschiedlichster Hersteller bestehen. Das ergibt Sinn und eröffnet ein völlig neues Spielfeld mit teilweise oder gar großteils neuen Playern. Dazu werden sowohl größere Allianzen wie jene von Apple und IBM zählen, wie auch völlig neue, spezialisierte Anbieter und Quereinsteiger.
WICHTIGE TRENDS
Allerdings zieht dieser Umbruch einen Rattenschwanz an Konsequenzen, Chancen und Herausforderungen nach sich. Nachfolgend seien nur einige der wesentlichen Trends aufgezeigt:
Künftig wird das Sagen nicht mehr führend der bisherige Haus-und-Hof-ERP-Lieferant haben, sondern überwiegend der ERP-Anwender. Sucht der Anwender neue Lösungen, sei es für Teilbereiche oder auch für mehr, wird er sich nicht mehr ziemlich alternativlos an seinen bisherigen ERP-Komplett-Anbieter wenden, sondern wird sich aktuell am Markt orientieren und frei wählen. Damit ist die Zeit der langjährigen Bindung zum alleinigen ERP-Lieferanten vorbei.
Damit einhergehend hat auch die schöne Rentenfunktion an Dauereinnahmen aus Lizenzen, Wartung und Dienstleistung für den ERP-Anbieter ein Ende. Postmoderne ERP-Software wird wohl kaum mehr gekauft, sondern nur Laufzeit-offen im Komponentenpaket mit Cloud-Services gemietet bzw. auf Basis einer messbaren Nutzung adäquat vergütet. Dies erschüttert die heutige Anbieterstruktur kommerziell erheblich – das ERP-Angebot wird sich in Folge massiv differenzieren, fragmentieren und monolithische ERP-Lösungen verlieren an Markt.
Postmoderne ERP-Lösungen erfordern eine Vielzahl an neuen, unterstützenden Technologien und Services zur vollen Ausschöpfung der Möglichkeiten.
Nachdem weiterhin IKT-technisch Daten und Geschäftsprozesse eines Anwenderunternehmens das wichtigste Asset bleiben, werden Stamm- und Basisdaten zum vorrangigen, kritischen Kern. Deshalb wird dem Master-Data-Management eine zentrale Rolle zukommen und es werden sich hierfür ebenso abgekoppelte, eigene, hochwertige Tools und Anwendungen etablieren, die auf lange Sicht große Vorteile bieten.
IMC (in-memory computing) wird zum Muss, nicht nur für herkömmliche Analysen, Simulationen und Berichte. Dies wird die Performance von Anwendungen, inklusive Big Data, immens steigern, ganz neue Möglichkeiten der Datenverarbeitung eröffnen und die Entscheidungsfindungen des Managements revolutionieren. Informierte Entscheidungen brauchen hochqualitative Daten, interne und externe, strukturierte und unstrukturierte. Letztere sind im ERP-Umfeld noch rar, Big Data wird dies aber zügig ändern.
Aus der Natur der Sache dieser neuen Architekturen ergibt sich, dass Geschäftsprozesse applikationsübergreifend und trotzdem koordiniert arbeiten müssen, egal von welchen verschiedenen Anbietern die lose gekoppelten Anwendungen auch stammen mögen. Dies ist ziemlich anspruchsvoll. Somit wird den „intelligent business process mangagement suites“ (iBPMS) eine extrem wichtige Rolle zuteil.
Zur Sicherstellung des technischen Zusammenwirkens der lose gekoppelten Anwendungen werden zusätzliche Technologien und Standards (connecting technologies, packaged integration, cloudstreams, etc.) entstehen.
Viele Anwendungsbereiche werden sich überwiegend oder sogar nur noch in der Cloud oder zumindest in Hybrid-Clouds abspielen.
Cloud-Service-Anbieter werden zwecks Steigerung der Wertschöpfung zu Quereinsteigern mit stark angereicherten Angeboten. Erste diesbezügliche Schritte sieht man zum Beispiel von Google und Microsoft.
Die rapide steigende Akzeptanz von Cloud-Lösungen und -Services schafft den Bedarf für alle möglichen Unterstützungstools und -technologien wie Cloud-Service-Brokerage (CSB) oder Platform as a Service (PaaS). Diese Angebote und deren Möglichkeiten wachsen beflügelt (siehe beispielsweise das österreichische Unternehmen Braintribe) und es werden wohl noch etliche neue Player in den Ring steigen.
Einhergehend werden sich neue Supportkonzepte für postmoderne ERP-Lösungen, die auf andere Weise komplex sind, etablieren.
Das digitale Business führt zu einer noch nie zuvor dagewesenen Verzahnung von Mensch, Business und Dingen. Dies bewirkt gravierende, derzeit unabschätzbare Veränderungen in den Geschäftsmodellen, selbst von solchen aus der bisherigen Internet- oder E-Commerce-Zeit. Digital Business beeinflusst die Geschäftsprozesse und -modelle von nahezu allen Branchen kolossal, die Auswirkungen treffen zwangsläufig auch die ERP-Welt.
Auch im Bereich Security sind unbedingt neue Wege zu beschreiten. Dabei kommt der durchgängigen Dezentralisierung eine wichtige Rolle zu, denn die bisher praktizierte Zentralisierung ist zu kritisch, zu riskant geworden. Selbst für Cloud-Nutzung wären beispielsweise Wege anzudenken, Daten ähnlich einem Raid-5-Modell verschlüsselt und parallel auf mehrere Clouds gesplittet aufzuteilen, sodass im Falle eines Hackings der Angreifer mit den erbeuteten Daten nichts anfangen kann, weil sie nur Fragmente und kein verwertbares Ganzes abbilden.
Die Ausbildung der ERP-IKT-Fachkräfte wird zur Herkules-Aufgabe, denn mit dem bisherigen Knowhow wird man künftig bei Weitem nicht mehr das Auslangen finden, viel bisheriges Wissen wird gar obsolet.
FAZIT
Die manchmal aufgeregt geführte Diskussion über Transformation, Technologieumbrüche etc. ist auch im ERP-Bereich kein leeres Gerede, sondern Realität. Dahinter steht eine Entwicklung, die wie ein Tsunami über weite Strecken zunächst nicht sichtbar oder spürbar ist, dann aber mit umso größerer Wucht über alle hereinbricht. Damit daraus keine Katastrophe wird, sollten Hersteller und Kunden die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkennen und handeln.
* Der Autor Reinhold Karner besitzt über 30 Jahre an ERP-, Unternehmer- und Berater-Knowhow. Seit einigen Jahren ist er als multinationaler Unternehmer mit einem Kontinente-übergreifenden Netzwerk international als Ratgeber und Vortragender in den Bereichen Entrepreneurship, IKT und Industrie 4.0 für Unternehmer, Executives, Manager, Startups, Wagniskapitalgebern, Forschungseinrichtungen, Universitäten und als Co-Investor tätig. Außerdem ist Karner Vorsitzender des Advisory Boards für Enterprise Systems der Universität Innsbrucks.
Be the first to comment