ERP-Systeme müssen sich massiv verändern, um mit den neuen Anforderungen hinsichtlich der Digitalisierung Schritt halten zu können. Die monolithische Suite ist ein Auslaufmodell, die Zukunft gehört flexiblen Anwendungssystemen. Doch die richtig zu handeln, stellt eine neue Herausforderung für Anwender dar. [...]
FEHLER IM ERP-BACKBONE SIND GEFÄHRLICH
Gefahren, sich bei der Modernisierung zu verzetteln, drohten aus Sicht Gartners auch noch an anderer Stelle. Derzeit würden vier von zehn Unternehmen bimodale IT-Strukturen etablieren – die überwiegende Mehrheit der anderen würde in den kommenden drei Jahren folgen. Das heißt, ein Teil der IT kümmert sich möglichst effizient um den Legacy-Betrieb, wo sich wenig verändert. Der andere Teil agiert wendig und flexibel, um möglichst zügig neue Techniken in Betrieb zu nehmen, die auch schnell das Business unterstützen beziehungsweise neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen. Soweit zumindest die Theorie. In der Realität tauchen oft Probleme auf – nicht weil es zu schnell geht, sondern weil die Unternehmen nicht genau wissen, welchen Modus sie welchem IT-Bereich zuweisen sollen. Die Risiken im Zuge einer schlampigen Bi-Modal-Zuweisung – gerade auch hinsichtlich der unternehmenskritischen Kernsysteme – dürften Gartner zufolge nicht unterschätzt werden. Fehler und Fehlfunktionen organisatorischer, technischer oder prozessualer Natur im ERP-Backbone könnten die Folge sein, und damit das gesamte Geschäft eines Unternehmens in Schieflage bringen.
Grundsätzlich gelte es für die Unternehmen, ihre ERP-Strategie zu hinterfragen. „ERP-Lösungen gibt es bereits seit Jahrzehnten im Markt“, konstatiert Hardcastle. Doch immer noch stünden viele ERP-Projekte in der Kritik, vor allem wenn man Zeit- und Kostenaufwand mit den Business-Resultaten vergleiche. Die IT müsse allen Versuchungen widerstehen, um nicht vorschnell unter dem Druck des Business einzuknicken und überhastet eine neue ERP-Architektur einzuziehen, noch bevor die Organisation reif dafür ist. Auf der anderen Seite müsse auch die Business-Seite realisieren, dass es eine gewisse Vorbereitung brauche, um den Erfolg einer neuen ERP-Strategie sicherzustellen. Systemintegratoren und Softwarehersteller müssten dies respektieren und ihre Kunden in diesem Prozess auch unterstützen.
In den kommenden Jahren werden die Unternehmen ihre ERP-Investitionen stärker hinterfragen und daraufhin prüfen, was es an Mehrwert für das Business bringt, prognostiziert Gartner. Außerdem würden verstärkt neue Lösungen und alternative Deployment-Modelle wie Cloud-Computing in die Überlegungen und Pläne mit eingebunden. Mit den schlechten Praxisbeispielen der Vergangenheit und den damit verbundenen Ausreden für mangelnden Businesserfolg kämen die Verantwortlichen in Zukunft nicht mehr durch, sagt Hardcastle. Der Fokus moderner ERP-Systeme liegt darauf, das Geschäft agiler und flexibler zu machen. Das gelinge, wenn Lösungen und Services besser auf die Belange des Business und der User ausgerichtet sind. „Es ist wirklich an der Zeit, dass die Unternehmen endlich die Früchte ihrer massiven ERP-Investitionen aus der Vergangenheit ernten“, mahnt die Analystin an.
TOP-THEMEN: KONSOLIDIEREN UND HARMONISIEREN
Bis es soweit, scheint indes auf Anwenderseite noch einiges zu tun. Das hat einmal mehr die jüngste Umfrage der Deutschsprachigen SAP Anwendergruppe (DSAG) gezeigt. Zwar charakterisierte mehr als jeder dritte SAP-Anwender (36 Prozent) Investitionen in neue Geschäftsmodelle im Rahmen der digitalen Transformation als wichtig beziehungsweise sogar als sehr wichtig. Vor einem Jahr waren es gerade einmal 12,5 Prozent. „Neue Geschäftsmodelle und -prozesse sind wichtig, um im Wettbewerb gegen innovative und agile Start-ups zu bestehen“, konstatierte der Vorstandsvorsitzende der DSAG Marco Lenck. Doch trotz aller Beteuerungen, sich den Herausforderungen der Digitalisierung stellen zu wollen, stehen im SAP-Umfeld nach wie vor die Klassiker und die Kernprozesse im Fokus der Anwender. Die wichtigsten Investitionsfelder, in die die SAP-Budgets fließen, sind Logistik (46 Prozent der Nennungen), Marketing/Vertrieb/CRM (40 Prozent) und das Finanzwesen (32 Prozent). Die SAP-Projekte der DSAG-Mitglieder drehen sich dabei vornehmlich um Themen wie Rollouts, Konsolidierung und Harmonisierung. „Es sind die Kernprozesse, in die investiert wird“, stellte Lenck mit Blick auf die Umfrageergebnisse fest.
Tiefgreifende Veränderungen der ERP-Architekturen sind derzeit nicht abzusehen. Auch das wird im SAP-Umfeld deutlich. Das ERP-Gravitationszentrum in den Anwenderunternehmen bildet nach wie vor die klassische Business Suite. „Die Business Suite ist der Investitionsschwerpunkt“, sagte Lenck, „und wird es auch auf Jahre hinaus auch bleiben“. Aus Sicht des DSAG-Vorsitzenden bildet die Suite das Kernstück der Applikationslandschaften in den Unternehmen, das man auch nicht so schnell auswechsle. Den Cloud-Ambitionen SAPs zeigen die Anwender dagegen noch immer die kalte Schulter. Gerade einmal ein Prozent der im Rahmen der DSAG-Umfrage befragten SAP-Anwender gab an, konkret in die HANA Cloud Plattform (HCP) investieren zu wollen. Auch die anderen Cloud-Produkte der SAP landeten in der Investitionsumfrage mit nur wenigen Prozent der Nennungen abgeschlagen auf den hinteren Plätzen.
Das heißt allerdings nicht, dass sich die Anwenderunternehmen nicht um ihre Anwendungsportfolios kümmern. So haben die Experten von Capgemeini in ihrer Abfrage der wichtigsten IT-Trends für das laufende Jahr festgestellt, dass die Rationalisierung des Applikations-Portfolios auf der Agenda der IT-Verantwortlichen ganz oben steht. Angesichts des Digitalisierungstrends, der viele neue Anwendungen und Apps hervorbringt, gewinne dieser Aspekt massiv an Bedeutung, hieß es. Dabei gehe es zunächst um eine Bestandsaufnahme: Welche Anwendungen laufen im Unternehmen und welche Funktionen decken sie ab? Wo Konzerne 3000 oder 4000 Anwendungen betreiben, ist allein diese Bestandsaufnahme eine Herausforderung. Ziel ist es herauszufinden, welche Funktionen genutzt werden und wo es Überschneidungen gibt, lautet der Rat der Analysten.
FITNESS-KURS FÜR DAS ERP-SYSTEM
Auch wenn es sicherlich nicht einfach wird – alle Studie und Umfragen deuten darauf hin, dass die ERP-Systeme in den Unternehmen vor massiven Veränderungen stehen. Im Mittelpunkt aller Bemühungen dürfte die alles entscheidende Frage stehen: Wie wird das ERP-System fit für die anstehende Digitalisierung? Die Lösungen werden von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich aussehen. Der Grad der Digitalisierung in den eigenen Prozesse und Geschäftsmodellen dürfte großen Einfluss darauf haben, inwieweit die Kernsysteme angepackt und verändert werden müssen. Genauso gilt es zu überlegen, wie weit verzweigt das ERP in die verschiedenen Unternehmensbereiche hineinreicht und welche Altlasten – technischer wie prozessualer Natur – daran hängen. Für die Verantwortlichen gilt abzuschätzen, ob sich eine Modernisierung des gesamten Systems lohnt, oder ob nicht besser der Legacy-Teil abgekapselt und mit möglichst wenig Aufwand am Laufen gehalten wird. Modernisierungen könnten dann mit neuen Apps umgesetzt werden. Doch dafür braucht es eine Plattform, auf der sich diese Anwendungen schnell und flexibel entwickeln sowie mit dem bestehenden ERP-Kern verknüpfen lassen. Oder man setzt gleich den Kurs in Richtung Cloud.
*Martin Bayer ist stellvertretender Chefredakteur bei der computerwoche.de
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