Kaum eine IT-Entwicklung birgt solches Potenzial für Veränderungen wie Social Media. Die weltweit mögliche Kommunikation von jedem mit jedem zeigt vielfältige Wirkungen - gute wie schlechte. [...]
Wenn man so will, haben Social Media am 3. April 1973 auf der Sixth Avenue in New York begonnen. Vor 40 Jahren wählte der Motorola-Ingenieur Martin Cooper die Nummer von Joel Engel, Technikchef von AT&T. Das wäre nichts Besonderes, hätte Cooper nicht mit dem ersten tragbaren Telefon hantiert. Mit heutigen Smartphones hatte das „Dynatac“ wenig zu tun. Das Dynamic Adaptive Total Area Coverage wog fast ein Kilogramm. Es war ungefähr so hoch und breit wie ein Aktenordner. Und für die fast 4000 Dollar Einstandspreis würde man heute eine Handvoll Spitzenmodelle aus der Galaxy- oder iPhone-Reihe bekommen. Schlechte Voraussetzungen für ein Werkzeug, das es Menschen ermöglichen soll, von überall und zu jeder Zeit über Grenzen und Kontinente zu kommunizieren und Daten welchen Formats auch immer zu verschicken.
JUPP HEINKES KANN DAS AUCH
Heute fühlt sich sogar Jupp Heynckes, der Erfolgstrainer des FC Bayern München, zum Social-Media-Aficionado berufen, weil er Uli Hoeneß eine SMS schickt: „Auch das kann ich.“ Social Media sind allerdings etwas mehr. Mit Smartphones und Tablets kommuniziert die Menschheit mittlerweile grenzenlos und auf unterschiedlichen Plattformen miteinander. Und die Entwicklung steht nicht still. Mit Google Glass, einer multifunktionalen Brille mit Anschluss ans weltweite Web, dürfte eine neue Ära in der Informationsvermittlung und -verteilung eingeläutet werden.
Zwar funktioniert das Google-Glass-Prinzip nur zusammen mit einem Smartphone. Aber schon jetzt lässt sich spekulieren, dass man in naher Zukunft nicht mehr von Smartphones, sondern Smartglasses sprechen wird. Die halten in allen Lebenslagen alles auf Video und Audio fest. Sie speichern Menschengesichter, posten Events in Echtzeit, kommentieren, lästern, bringen Intelligentes in Umlauf. Nichts ist mehr privat.
NIE MEHR OFFLINE – (FAST) NIRGENDS
Heute lässt man sich über eine Smartphone-App anzeigen, ob zufällig Freunde im gleichen Stadtteil sind, mit denen man Kontakt aufnehmen will. Wer schnell ein Carsharing-Auto benötigt, findet es mit dem Mobiltelefon an der nächsten Straßenecke. Via Apps kann man sich informieren lassen, ob das gestohlene Rad irgendwo aufgetaucht ist. Informationsjunkies werden ständig die aktuellen Nachrichten via Newsfeeds aufs Handy gesendet. In Echtzeit lässt sich feststellen, ob der Flieger pünktlich startet.
In sozialen Netzen publiziert man die Gastro-Kritik zum neuesten In-Restaurant. Samt Foto oder Video. Man bloggt seine Meinung zum letzten „Tatort“, verteilt Links auf Artikel über Angela Merkel, verbreitet Videos und Fotos von öffentlichen Veranstaltungen, diskutiert via B2B-Netze oder Wikis. Öffentliche Zurschaustellungen in sozialen Netzen können Unternehmen in die Bredouille oder Menschen an den Pranger bringen.
DIE WELT HÖRT ZU
Die Menschheit ist 24 Stunden auf Sendung. Und genauso lang hört die Welt zu. Hier liegen die Potenziale von Social Media: Sie sind der größte Versammlungs- und Marktplatz unseres Globus. Hier trifft sich die Welt und tauscht sich aus.
CROWDFUNDING
Es gibt viele Formen des Austauschs und der Teilhabe über soziale Web-Plattformen. Eine ist die des Crowdfundings. Auf der CeBIT 2013 wurde der „Leader in the Digital Age Award“ (LIDA) in der Kategorie „Entertainment“ an die New Yorker Indierock-Sängerin Amanda Palmer vergeben. Ausgezeichnet wurde sie für ihre Schwarmkollekte, mit der sie über die Plattform Kickstarter ihr neues Album „Theatre is evil“ finanzierte. Auf diese Weise sammelte sie immerhin 1,2 Millionen Dollar ein.
Die ehemalige Sängerin der Dresden Dolls nutzt das Web aber nicht nur als Finanzierungsquelle, sondern mehr noch als Dialogplattform via Twitter für den Austausch mit ihren Fans. Palmer ist nicht die einzige, die sich Projekte von einer virtuellen, aber zahlungswilligen Community vorfinanzieren lässt. Public Enemy etwa nutzte die mittlerweile in Insolvenz gegangene Sellaband-Plattform.
Ebenfalls auf Kickstarter warb Spieleentwickler Richard Garriott für die Fortsetzung des Rollenspiel-Klassikers „Shroud oft he Avatar“ bei 15.000 Gamern über eine Million Dollar ein. Wenig im Vergleich zu Chris Roberts („Wing Commander“), der für ein neues Spiel sage und schreibe 8,4 Millionen Dollar einsammelte.
Die aus dem Abendprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens bekannte Serie „Stromberg“ sammelte auf der „MySpass“-Seite innerhalb von einer Woche eine Million Euro bei Stromberg-Freunden ein. Über 3000 Investoren streckten Geld vor, das sie im Gegensatz zu anderen Crowdfunding-Konzepten zurückbekommen sollen. Voraussetzung: Eine Million Menschen müssen den Kinofilm ansehen.
In Deutschland gibt es Crowdfunding-Plattformen wie Startnext.de, VisionBakery30, mySherpas, inkubato oder Krautreporter. Auf Letzterer können Autoren für journalistische Projekte werben und hierfür Recherchegelder auftun. Daneben existieren auf lokale Horizonte ausgerichtete Crowdfunding-Plattformen wie Dresden Durchstarter, Berlin Crowd oder der Hamburger Nordstarter. Bei vielen dieser Plattformen werden Projekte unterschiedlichster Provenienz finanziert – aus der Mode, dem Film, der Kunst. BestBC, Gründerplus, Seedmatch oder Mashup Finance andererseits zählen zu den Crowdinvesting-Plattformen, die insbesondere Startups mit Kapitalbedarf auf die Beine helfen wollen.
CROWDSOURCING
Eine Abwandlung des Crowdfundings und schon länger bekannt ist das Crowdsourcing. Paradigmatisch dafür steht die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Es gibt Apps wie „iCoyote“, die mit Informationen von Autofahrern zu Unfällen, Baustellen, Staus und auch Blitzern gefüttert wird. OpenStreetMap ist die Basis für ein Navi-System wie „Skobbler“: Auch hier teilen sich Tausende von Nutzern die Aufgabe, ein weltweites Online-Navigationssystem auf dem neuesten Stand zu halten. Skobbler ist wesentlich kostengünstiger als Angebote, die sonst auf dem Markt zu finden sind.
Crowdtesting wiederum macht sich die Intelligenz einer unbeschränkten Zahl von Menschen zu eigen, die Produkte wie etwa Software evaluieren (siehe TestCloud.de). Der Gedanke der Open Software fusst auf dem Prinzip des Teilens von intelligenten Lösungen.
POLITISCHE DIMENSION VON SOCIAL MEDIA
Social Media bedeuten auch Teilhabe an politischen Prozessen. Die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg schaltete im März 2013 ein Portal für Bürger frei. Unter www. Beteiligungsportal-BW.de werben die Volksvertreter um die Meinung der Bevölkerung etwa zu Gesetzesvorhaben.
SOCIAL MEDIA = MACHT DER BÜRGER
Teilhabe über Social Media hat dabei längst eine Dimension erreicht, die Unternehmen wie Regierungen kaum mehr in den Griff bekommen. Für beide sind nicht die harmlosen Plaudertaschen im Internet das Problem. Es sind die „Kommunikationsjunkies“, wie die Ifo-Wissenschaftler Ludger Wößmann, Stefan Bauernschuster und Oliver Falck sie ausgemacht haben. Das sind keine sozial auffälligen Einzelgänger. Wößmann und Bauernschuster stellten in einer Untersuchung fest, der Internet-Zugang führe unter anderem dazu, „dass Menschen sich politisch und ehrenamtlich mehr engagieren, mehr Freunde haben und messbar häufiger Theater, Kino, Konzerte, Bars und Sportveranstaltungen besuchen“.
Social Media haben demnach das Potenzial, wissbegierige, intelligente und mitteilungswütige Bürger, bisher massenweise Schläfer, zu aktivieren. Welche Risiken das gerade auch für Unternehmen birgt, zeigen mit schöner Regelmäßigkeit beispielsweise Aktionen etwa von O2 im sozialen Netzwerk Facebook. Jedes Neukundenprogramm der Telefónica-Tochter wird mit dutzendfachen hämischen Kommentaren enttäuschter O2-Kunden bedacht. Das ist nur ein Fall von Dutzenden, Hunderten.
Auch wer glaubt, das soziale Netz zur Eigenwerbung für das Unternehmen zu nutzen, sollte vorsichtig sein: Als die Deutsche Bahn vor vier Jahren durch die Marketing-Agenturen Allendorf Media fingierte Kundenmeinungen in Foren und Blogs verfassen, erfundene Internet-Nutzer Jubelkommentare absondern und Leserbriefe sowie positive Videos auf die Youtube-Plattform stellen ließ, war das PR-Desaster perfekt.
RECHERCHE IM NETZ
Kein Geringerer als die Reporterlegende Seymour Hersh, berühmt wegen seiner Enthüllungen zum Massaker im vietnamesischen My Lai (1969) oder der Folter im irakischen Gefängnis Abu Ghuraib (2004), schwört auf das Internet, auf Blogs und Twitter etc. als Recherchewerkzeug. Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger bloggt, man solle soziale Medien wie Twitter nutzen. Viele Ereignisse würden allein deshalb als Erstes via Twitter bekannt, weil Abermillionen von Menschen ständig jedes Gerücht aufgriffen und verbreiteten.
BLOGGER DECKEN AUF
Wie groß die Macht der Social Media sein kann, zeigen nicht nur Wikileaks, Guttenplag etc., sondern auch das Beispiel des Bloggers John Avarosis. Er deckte auf seinem Americablog Bildretuschen auf, mit denen der Ölkonzern BP während der von ihm verschuldeten Ölpest im Golf von Mexiko die Öffentlichkeit mit verfälschten Bildinhalten täuschte. Die Sache flog auf, BP-Sprecher Scott Dean musste die Peinlichkeit einräumen. Einmal mehr hatten Social Media ihre Macht bewiesen.
* Jan-Bernd Meyer ist Redakteur der deutschen Computerwoche.
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