Effizienzgewinne stehen für viele Unternehmen ganz oben auf der Prioritätenliste, wenn es um das Thema Digitalisierung geht. Echte Innovationen kommen dabei oft kurz. [...]
„Jahrelang haben wir alles auf Effizienz getrimmt“, kritisierte Andreas Enslin, Designchef beim Haushaltsgerätehersteller Miele, auf dem 10. Innovationsgipfel in München. „Alles musste immer noch zwei oder drei Prozent besser werden. Jetzt wollen Sie auf einmal Innovationen und sagen: Du darfst auch mal Fehler machen. Das können Sie vergessen.“ Er plädiert stattdessen für eine längerfristige Perspektive. Unternehmen müssten es schaffen, das Produkt aus dem Fokus zu nehmen und sich mehr mit echten Kundenbedürfnissen zu beschäftigen. Methoden wie Design Thinking könnten dabei helfen, doch der Wandel brauche Zeit. Enslin: „Es dauert mindestens fünf Jahre, bis das in den Köpfen drin ist.“
ALLIANZ-VORSTAND SOMMERFELD: EFFIZIENZSTEIGERUNGEN REICHEN NICHT
„Nur die Effizienz zu steigern, reicht nicht“, erklärte auch Frank Sommerfeld, im Vorstand der Allianz für das Ressort Privatkunden verantwortlich. „Wir müssen Prozesse vom Kunden her denken, Effizienzgewinne entstehen dann ganz automatisch.“ Der Veränderungsdruck in der Versicherungsbranche komme in erster Linie von den Kunden, die alles schneller, bequemer und einfacher haben wollten. Für die Allianz gehe es darum, Kunden besser zu bedienen und deren Zufriedenheit zu steigern. Dabei betrachte man die gesamte Prozesskette: „Wie sieht die Customer Journey aus? Was will der Kunden eigentlich? All das müssen wir im Detail verstehen.“
Als Beispiel für neue digitale Produkte nannte Sommerfeld unter anderem einen neuen Telematik-Tarif in der Kfz-Versicherung, mit dem Kunden abhängig von ihrem Fahrverhalten bis zu 40 Prozent der Prämie sparen könnten. Die Allianz habe für diese Variante bereits 35.000 Kunden gewonnen.
DIGITALISIERUNG: MITARBEITER LIEBEN IHRE KÄSTEN
Wie schwierig sich der kulturelle Wandel in der Praxis gestaltet, berichtete auch Hagen Rickmann, Leiter des Bereichs Geschäftskunden bei der Telekom. Nach seiner Erfahrung machen nur 30 Prozent der Mitarbeiter sofort mit, wenn es um Veränderungen im Sinne der digitalen Transformation gehe. Ebenfalls 30 Prozent seien dagegen nur schwer zu überzeugen. Rickmann: „Wir müssen uns auf die 70 Prozent konzentrieren, die von der Notwendigkeit der Transformation noch nicht überzeugt sind“. Der Kulturwandel müsse ganz oben beginnen; das Topmanagement sei gefordert, eine Vision zu entwickeln und mit gutem Beispiel voranzugehen. Die hergebrachten Organisationsstrukturen in vielen Unternehmen erwiesen sich dabei immer wieder als Hemmschuh: „Die Menschen lieben ihre Kästen und Strukturen. Das müssen wir erstmal aufbrechen.“
RTL II: SCHLANKE ORGANISATION FÖRDERT KREATIVITÄT
Dass nicht nur Konzerne wie die Telekom damit Probleme haben, bestätigte Julia Reuter, Chief Financial Officer beim privaten Fernsehsender RTL II. Die Konkurrenz durch neue Anbieter wie Netflix oder Amazon macht dem mittelständischen Unternehmen mit rund 250 Mitarbeitern zu schaffen; Innovationen sind für RTL II überlebenswichtig. Man habe deshalb bereits etliche Online-Kanäle etabliert, berichtete Reuter, die auch als Chief Operating Officer agiert. „Unsere Kernzielgruppe im Alter von 14 bis 29 Jahren guckt nicht mehr linear Fernsehen.“
Die von RTL II produzierten Formate differenzieren sich immer stärker aus, erst kürzlich hat der Anbieter mit einer relativ kleinen Mannschaft ein Video-on-Demand-Angebot entwickelt. Für die Managerin ist es erfolgsentscheidend, dass die Organisation noch schlanker wird, um kreativer arbeiten zu können. Reuter: „Es geht schon noch darum, auch Strukturen aufzubrechen“. Nur so ließen sich beispielsweise Daten bereichsübergreifend im Sinne eines Data Lake verfügbar machen.
FÜHRUNGSKRÄFTE SOLLEN ZU SINNSTIFTERN WERDEN
„Digitalisierung wird immer noch viel zu oft als rein technische Transformation verstanden“, beobachtet der Bestseller-Autor und Berater Tim Leberecht. Gefragt seien aber nicht nur technische Features wie schicke Benutzeroberflächen bestehender Anwendungen. Vielmehr gehe es darum, Empathie für den Kunden zu entwickeln, um dessen Bedürfnisse zu erkennen. Dazu brauche es eine Kultur, die das „Andersdenken“ fördere und Raum schaffe für kreative Vorstellungskraft.
Den von selbsternannten Digitalisierungsexperten gebetsmühlenhaft vorgebrachten Rat, Fehler zuzulassen und ein Scheitern nicht zu verurteilen, hält Leberecht nicht für den entscheidenden Aspekt. Viel wichtiger für die Mitarbeiter sei eine gewisse Autonomie. Sie müssten die Sinnhaftigkeit ihres Tuns im Transformationsprozess erkennen. Führungskräfte sollten sich dementsprechend zu „Sinnstiftern“ entwickeln, statt nur auf harte KPIs (Key Performance Indicators) zu schielen.
*Wolfgang Herrmann ist Deputy Editorial Director der IDG-Publikationen COMPUTERWOCHE und CIO.
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