Wie Unternehmen sensible Daten besser schützen können – und davon wirtschaftlich profitieren. [...]
Es ist 1995. Die Europäische Union schafft mit der Richtlinie 95/46/EG eine gesetzliche Grundlage, die EU-weit den Schutz der Privatsphäre sicherstellen und die Verarbeitung personenbezogener Daten regeln soll. Im selben Jahr veröffentlichen die Datenschutzexperten Ronald Hes und John Borking ein Werk, das die technischen Voraussetzungen dafür beschreibt: „Privacy-enhancing technologies – The path to anonymity“. Der Zweck von Privacy-Enhancing-Technologien (PET) ist es, Daten von sensiblen Informationen zu reinigen oder sie zu verschlüsseln, sodass keine Rückschlüsse auf eine natürliche Person möglich sind.
Bis vor Kurzem interessierte sich allerdings kaum jemand für deren Einsatz. „Privacy-Enhancing-Technologien sind technisch ausgereift, werden aber nur sehr vereinzelt angewendet“, berichtet David Harborth, Lehrstuhl Mobile Business & Multilateral Security an der Goethe-Universität Frankfurt. Doch das ändert sich nun drastisch, wenn das Analystenhaus Gartner recht hat.
Seit zwei Jahren listet es in seinen jährlichen Top-Trends unter dem Begriff „Privacy-Enhancing Computation“ (PEC) Techniken und Technologien, die den Datenschutz und die Privatsphäre fördern. Bis 2025, so die Gartner-Prognose, werden 60 Prozent aller großen Unternehmen eine oder mehrere PEC-Techniken für Analytik, Business Intelligence oder Cloud-Computing einsetzen, 40 Prozent der Befragten, die am „Gartner Global Security and Risk Management Survey 2021“ teilnahmen, zählten PEC zu den Top-Drei-Investitionen für die nächsten zwölf Monate.
Diesen Trend spiegeln auch die Investitionen wider. Laut der Datenbank Crunchbase stiegen die Investitionen in Privacy-Tech-Start-ups in den vergangenen zwei Jahren fast exponentiell auf 4,6 Milliarden Dollar. „Datensparsame und datenschutzfreundliche Lösungen werden nicht nur technologisch, sondern auch gesellschaftlich in den kommenden Jahren eine große Rolle spielen“, sagt Marian Gläser, CEO und Co-Founder von Brighter AI und Sprecher der Arbeitsgruppe Datenschutz im KI Bundesverband.
Was PEC so wichtig macht
Die Renaissance datenschutzfreundlicher Technologien und Konzepte hat auch mit der DSGVO zu tun. Bei allen Unzulänglichkeiten setzte das Regelwerk, das 2016 in Kraft trat und 2018 wirksam wurde, einen Standard für den Datenschutz. Zu den wichtigsten Neuerungen gehört das Marktortprinzip.
Es bedeutet, dass alle Unternehmen, die im EU-Markt Geschäfte machen, an die Regelungen gebunden sind, egal ob sich ihr Firmensitz innerhalb oder außerhalb der EU befindet. Bei Verstößen gegen die DSGVO drohen zudem hohe Bußgelder, die bis zu 4 Prozent eines Jahresumsatzes betragen können. Auch das stellt einen wichtigen Unterschied zu den bislang sehr moderaten Sanktionsmöglichkeiten im Datenschutzrecht dar.
„Die DSGVO hat eine regulatorische Trendwelle ausgelöst.“
Marian Gläser – CEO und Co-Founder von Brighter AI und Sprecher der Arbeitsgruppe Datenschutz im KI Bundesverband
Viele Staaten haben Regelwerke nach dem Vorbild der DSGVO erlassen oder ihre Gesetze angepasst, darunter Brasilien, Japan, die Schweiz und der US-Bundesstaat Kalifornien. „Die DSGVO hat eine regulatorische Trendwelle ausgelöst“, konstatiert Marian Gläser von Brighter AI.
Die hohen Bußgeldandrohungen bei Verstößen und die universale Gültigkeit der Datenschutzgesetze in immer mehr Märkten macht Investitionen in datenschutzfreundliche Technologien attraktiv. Gleichzeitig steigen die Gefahren für die Privatsphäre durch KI, Big Data und die Allgegenwart von Sensoren im öffentlichen und privaten Raum.
„Durch die Digitalisierung entstehen immer mehr Daten“, erklärt Gläser, „die vor allem für das Training tiefer neuronaler Netze gebraucht und auch genutzt werden.“
Die Industrie sucht daher nach Wegen, wenigstens ein Mindestmaß an Privatsphäre und Datenschutz sicherzustellen, um so noch schärfere Regulierungen zu verhindern, die neue, vielversprechende Geschäftsmodelle gefährden könnten.
Datenschutzfreundliche Techniken und Technologien bieten darüber hinaus die Möglichkeit, sensible Daten in unsicheren Umgebungen wie der Public Cloud bearbeiten zu können. Dieses Confidential Computing genannte Konzept eröffnet neue Wege nicht nur für die Analyse von personenbezogenen Daten, sondern auch von Patenten, Finanzzahlen und anderen Geschäftsgeheimnissen.
Wenig Druck kommt dagegen von den Nutzern. Der Wissenschaftler David Harborth forschte im Projekt AN.ON-Next mit Partnern über datenschutzfreundlichere Möglichkeiten der Internetnutzung wie VPN oder Onion-Router wie TOR. Seine Erfahrung: „Nutzer wollen für ihre Privatsphäre kein Geld ausgeben, selbst Cent-Beträge sind schon zu viel.“
„Die Nachfrage nach datenschutzkonformen Lösungen wird massiv steigen“
Research VP Bart B. Willemsen erklärt, warum Gartner Privacy-Enhancing Computation ein enormes Wachstum vorhersagt – und wieso man mit Speichern in Blockchains sehr vorsichtig sein sollte.
com! professional: Herr Willemsen, Gartner verwendet in seinen Dokumenten die Formulierung „Techniken für Privacy-Enhancing Computation (PEC)“ statt den gebräuchlicheren Begriff „Privacy-Enhancing Technologies“ (PET). Was unterscheidet PEC von PET?
(Quelle: Gartner )Bart B. Willemsen: Ich bevorzuge den Begriff Privacy-Enhancing Computation, weil er mehr als nur spezifische Technologien umfasst. Das mag zwar wie semantische Haarspalterei klingen, ist aber meiner Meinung nach ein wichtiger Unterschied.
So ist beispielsweise das Trusted-Third-Party-Konzept (TTP) keine Technologie, sondern ein architektonischer Ansatz. Diese Entwicklung hin zu neuen Architekturen, Techniken und Methoden hat sich in den vergangenen zwei Jahren deutlich beschleunigt.
com! professional: Was sind die wichtigsten dieser neuen Ansätze?
Willemsen: Neben TTP gehören dazu Protokolle für verteiltes Rechnen (Secure Multi-Party Computation), Null-Wissen-Beweise (Zero-Knowledge Proof), homomorphe Verschlüsselung und Confidential Computing. Auch einige der altbekannten PET wie synthetische Daten oder Differential Privacy haben wieder an Bedeutung gewonnen.
com! professional: Laut Ihrer Prognose werden 60 Prozent der größeren Unternehmen bis 2025 mindestens eine Form von Privacy-Enhancing Computation implementiert haben. Was sind die Hauptursachen für dieses Wachstum?
Willemsen: Einer der Hauptgründe ist die zunehmende Verbreitung von Datenschutzgesetzen. Vor zwei Jahren waren vielleicht 20 Prozent der Weltbevölkerung davon betroffen, im kommenden Jahr werden es rund 75 Prozent sein.
Allein das Personal Information Protection Law (PIPL) Chinas stellt die Daten von 1,4 Milliarden Menschen unter Schutz, mit dem Inkrafttreten der Privacy Data Protection Bill (PDPB) in Indien kommen noch einmal 1,4 Milliarden hinzu. Damit fallen riesige Datenmengen unter gesetzliche Vorgaben, die Nachfrage nach datenschutzkonformen Lösungen wird massiv steigen.
com! professional: Wo liegen aktuell die wichtigsten Einsatzszenarien für PEC?
Willemsen: Analytik und Business Intelligence sind immer noch ganz klar die Nummer eins. Dabei muss man interne und externe Szenarien unterscheiden. Innerhalb einer Organisation hat es wenig Sinn, Daten für interne Analysen zu pseudonymisieren oder personenbezogene Daten zu verschlüsseln.
Ein Mitarbeiter braucht nur mit den Metadaten über den Flur zu gehen und einen Kollegen im Vertrieb oder Kundensupport zu bitten, die Person dahinter zu identifizieren. Hier sind Methoden wie Differential Privacy oder synthetische Daten zielführender.
com! professional: Und bei externen Analysen über Firmengrenzen hinweg?
Willemsen: Da gibt es verschiedene Ansätze, etwa Daten vor der Weitergabe zu bereinigen, homomorph zu verschlüsseln oder TTP-Umgebungen zu benutzen. Auch Zero-Knowledge Proofs (ZKP) können eine wichtige Rolle spielen. Sie ermöglichen es, das Vorhandensein und die Korrektheit einer bestimmten Information zu verifizieren, ohne diese übertragen zu müssen.
Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig und reichen von der Altersüberprüfung und Nutzeridentifikation bis hin zur Bekämpfung von Betrug und Geldwäsche im Bankenumfeld oder dem Zugriff auf Gesundheitsdaten.
com! professional: Welche weiteren Use-Cases sind besonders bemerkenswert?
Willemsen: Der zweite wichtige Anwendungsbereich ist das Training von KI-Modellen. Je wichtiger Machine Learning und anderen Methoden der Künstlichen Intelligenz werden, desto mehr steigt die Nachfrage nach Trainingsdaten. Oft sind die für das Lernen notwendigen Informationen im eigenen Unternehmen nicht vorhanden oder unvollständig.
Daher gewinnen Methoden wie föderales Lernen und synthetische Daten an Bedeutung. Der dritte Treiber ist die zunehmende Einschränkung des grenzüberschreitenden Datentransfers. Das betrifft nicht nur die Übermittlung zwischen der Europäischen Union und den USA, sondern zunehmend auch andere Regionen.
So beschränken beispielsweise neue Gesetze in China wie das Cybersicherheitsgesetz (Cyber Security Law, CSL), das Datensicherheitsgesetz (Data Security Law, DSL) oder das bereits erwähnte Datenschutzgesetz PIPL den Datentransfer. In Indien, Russland und dem Mittleren Osten gibt es ähnliche Bestrebungen.
com! professional: Was können Unternehmen tun, um trotz dieser Einschränkungen transnationale Bereitstellungsmodelle wie Public Cloud weiter nutzen zu können?
Willemsen: Die Schlüsseltechnologie, die sich vor allem für Infrastructure as a Service (IaaS) eignet, nennt sich Confidential Computing. Sie ermöglicht es, Daten sicher verschlüsselt zu speichern und zu übertragen und Anwendungen in einem geschützten Bereich des Rechenkerns, der sogenannten Enklave, auszuführen.
„Je mehr Daten eine Organisation sammelt und an einem Ort zusammenführt, desto größer ist das Risiko.“
com! professional: Welche Rolle spielen PEC-Techniken für die Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung, etwa bei der elektronischen Patientenakte?
Willemsen: Je mehr Daten eine Organisation sammelt und an einem Ort zusammenführt, desto größer ist das Risiko. Handelt es sich dabei um so sensible Informationen wie Arztberichte, Diagnosen und andere Patientendaten, potenziert sich die Gefahr.
Wenn diese sensiblen Daten von einer KI ausgewertet werden, um auf dieser Basis individuelle Entscheidungen zu treffen, dann ist das wahrscheinlich das größte Risiko, das es im Bezug auf Datenschutz und den Schutz der Privatsphäre gibt. Der Einsatz von PEC ist in einem solchen Fall absolut anzuraten.
com! professional: Welche Bedeutung haben Blockchain-Technologien für die Entwicklung und den Einsatz datenschutzfreundlicher Lösungen?
Willemsen: Es stecken sicher Chancen in diesem Ansatz. So arbeiten Anbieter bereits daran, Zero-Knowledge Proofs in ihre Plattformen zu integrieren. Das Prinzip der Unveränderbarkeit, das einer Blockchain ja zugrunde liegt, stellt jedoch ein großes Problem für den Datenschutz dar. Informationen, die auf ihr gespeichert sind, bleiben dort für immer.
Personenbezogene Daten müssen aber gelöscht werden können, wenn bestimmte Fristen ablaufen oder der Betroffene sein Recht auf Löschung wahrnimmt.
Werden solche Daten auf einer Blockchain gespeichert, ist es daher praktisch nicht mehr möglich, moderne Datenschutzgesetze einzuhalten. Das Problem verschlimmert sich noch dadurch, dass sich Personen nicht nur über Name, Adresse und Geburtsdatum, sondern auch über Metadaten identifizieren lassen. Man sollte also sehr, sehr vorsichtig sein, was man in einer Blockchain speichert und was nicht.
com! professional: Würde es nicht reichen, personenbezogene Daten zu verschlüsseln?
Willemsen: Das löst das Problem nicht, dass es auf der Blockchain kein Verfallsdatum gibt. Heutige Verschlüsselungstechniken sind spätestens dann leicht zu knacken, wenn Quantencomputer verfügbar werden. Ein solcher Schutz hält also höchstens ein paar Jahre.
com! professional: Welche Strategie empfehlen Sie Unternehmen, die datenschutzfreundliche Technologien in bestehende Strukturen integrieren wollen?
Willemsen: Als Erstes würde ich die Fälle identifizieren, in denen das Risiko für Datenschutzverstöße besonders hoch ist. Hier ist der Nutzen von PEC offensichtlich. Dann würde ich nach Fragestellungen suchen, die sich aktuell nicht beantworten lassen, ohne gegen bestehende Datenschutz- oder Vertraulichkeitsregeln zu verstoßen.
Vor allem aber rate ich Organisationen, langfristig zu planen und Datenschutz von Anfang an in ihre Datenstrategie zu integrieren, statt im „Patch-Modus“ kurzfristig Sicherheitslöcher zu stopfen.
com! professional: Wann lohnen sich die Investitionen in PEC?
Willemsen: Mit PEC können Sie aus sensiblen Daten neue Erkenntnisse gewinnen, ohne rechtliche Risiken einzugehen oder unethisch zu handeln. Sie können also etwas tun, was vorher undenkbar war. Dafür lässt sich kein ROI berechnen.
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