Work-Life-Balance: Man muss das Neinsagen lernen

Ständige Erreichbarkeit macht krank. Doch das Verhältnis zwischen Arbeits- und Privatleben mit Gesetzen regeln zu wollen, wird nicht funktionieren. [...]

Abschalten liegt gerade im Trend: Bei Daimler können ab diesem Sommer alle Mitarbeiter ihre während des Urlaubs automatisch löschen lassen. Eine Abwesenheitsnotiz verweist dann auf den zuständigen Vertreter. Und darauf, dass die just versandte Mail gelöscht wurde.
Zurück aus den Ferien, sollen die Mitarbeiter „mit einem sauberen Schreibtisch“ starten können, begründet Daimler-Personalvorstand Wilfried Porth die Initiative. Es gehe dabei auch um „emotionale Entlastung“.
Bei der Deutschen Telekom haben sich Abteilungsleiter verpflichtet, ihren Leuten nach Feierabend, am Wochenende und im Urlaub keine Mails zu schicken. Und der Autozulieferer Continental hat zum Thema einen „Leitfaden mit Ratgeber-Charakter“ entwickelt.
NUR EINZELFÄLLE
Also alles fein? Gehen die Zeiten des Erreichbarkeits-Terrors zu Ende? Wohl kaum. Denn so gut sich die genannten Beispiele auch zur menschenfreundlichen Selbstdarstellung eignen: Es bleiben Einzelfälle. Die Normalität in deutschen Unternehmen ist eine andere.
Wie der Hightech-Branchenverband Bitkom in einer breit angelegten Erhebung herausfand, sind 77 Prozent aller Berufstätigen hierzulande auch außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit für die Firma per Handy oder E-Mail erreichbar. Und 30 Prozent stehen sogar rund um die Uhr (!) zur Verfügung. In 62 Prozent aller Betriebe gibt es keinerlei Vorgaben oder Regelungen zur Erreichbarkeit.
BEI 60 PROZENT IST DIE ARBEIT NUMMER EINS
Mit Work-Life-Balance hat das nichts zu tun. Um die ist es besonders in vielen Berufen der IT-Branche schlecht bestellt. Zum Beispiel bei Projektmanagern, wie die TU München in einer Studie ermittelte. Nicht genug, dass diese Gruppe im Durchschnitt rechnerisch sechs Tage pro Woche arbeitet statt fünf. Mehr als 60 Prozent der Befragten gaben zudem an, nie oder nur manchmal bei der Arbeitszeitplanung auf ihre familiären und privaten Interessen Rücksicht zu nehmen.
Schwierig wird es mit dieser Rücksicht vor allem dann, wenn der Angestellte auch beim Wochenendausflug mit der Familie jede Minute damit rechnen muss, von seinem Abteilungsleiter am Telefon mit irgendwelchen – natürlich superdringenden – Jobthemen belästigt zu werden. Um damit Schluss zu machen, prüft das Bundesarbeitsministerium jetzt, ob und wie sich der Stress mit Hilfe von Gesetzen eindämmen lässt.
DAS PROBLEM: KRITERIEN FÜR ABGRENZUNG VON ARBEIT UND FREIZEIT
„Es gibt unbestritten einen Zusammenhang zwischen Dauererreichbarkeit und der Zunahme von physischen Erkrankungen“, so Arbeitsministerin Andrea Nahles. Allerdings brauche der Gesetzgeber „allgemeingültige und rechtssichere Kriterien“, bevor er Betrieben etwas vorschreibe.
Damit hat die Ministerin das zentrale Problem des Vorstoßes selbst benannt: die Frage, was allgemeingültige Kriterien sind für die Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit. Der Begriff ‚Work-Life-Balance‘ war im Grunde nie etwas anderes als eine Chiffre für den Wunsch, weniger zu arbeiten und mehr Zeit für anderes zu haben. Das Problem ist, dass diese Forderung auf der Annahme beruht, der Angestellte ginge so und so viele Stunden in ein Büro mit einem Festnetztelefon und einem Desktop-PC und anschließend nach Hause.
ARBEIT UND FREIZEIT SIND SCHWER ZU TRENNEN
Diese strikte Trennung ist aber seit Erfindung des Laptops und des Mobiltelefons, und erst recht mit Aufkommen von Smartphones und Tablets obsolet.
Und nicht nur omnipräsente Hardware, auch neue Anwendungen haben die Mauern zwischen Büro- und Privatleben eingerissen. Facebook lebt davon, keine Barrieren zu kennen und seine User als gläsernes Gesamtkunstwerk zu betrachten. Und wenn der Abteilungsleiter ein Blog betreibt, tut er das dann als Angestellter oder als Privatperson? Vermutlich beides.
Außerdem wollen die Mitarbeiter diese Vermischung. Anders, als es der Begriff vermuten lässt, basiert das ‚Bring your own Device‘ – Phänomen ja nicht auf einer Bitte des Chefs nach dem Motto: „Jetzt bringen mal morgen alle ihr Smartphone mit ins Büro!“ Sondern dies taten die Kollegen ganz unaufgefordert und mit einer solchen Penetranz, dass den Betrieben irgendwann nichts anderes mehr übrigblieb, als sich zu fügen und das entstandene Chaos so gut es ging zu ordnen.
73 Prozent der Mitarbeiter kleiner und mittelständischer Betriebe in Deutschland lehnen Regeln, die flexibles und mobiles Arbeiten in ein festes Zeitkorsett zwängen, ab. Das ist das Ergebnis einer international angelegten Befragung im Auftrag des Softwareanbieters Citrix.
PERFEKTIONISTEN SIND BURNOUTGEFÄHRDET
Denn wer Regeln wünscht, muss sich auch selbst daran halten. Wer zwischendurch einen Tag Home-Office einlegt, geht dann vielleicht um 15 Uhr zum Elternsprechtag in die Schule. Und arbeitet danach weiter. Kein Lebensentwurf gleich heute mehr dem anderen.
Und auch die Arbeitswochen fließen nicht mehr vorbei mit der Gleichförmigkeit von Ebbe und Flut. Wer im Projektgeschäft arbeitet, kann Belastungsspitzen zu bestimmten Zeiten nicht vermeiden. Oder die Herausforderungen durch Internationalisierung: eine Zusammenarbeit mit Partnern am anderen Ende der Welt macht gelegentliche Telefonate zu sehr später oder sehr früher Stunde unvermeidlich.
Will man bei alldem die Kontrolle über das eigene Leben nicht verlieren, muss man vor allem lernen, nein zu sagen. Aber das fällt gerade leistungsfähigen Menschen schwer. 56 Prozent der im Rahmen der zitierte Studie der TU München zu Arbeitsbedingungen im Projektmanagement Befragten gaben an, sich nicht abgrenzen zu können, zugleich sagten 81 Prozent, sie hätten hohe Erwartungen an sich selbst. Gerade Perfektionisten, die nicht loslassen können, seien burnoutgefährdet, weiß Hans-Joachim Maar, Partner bei der Personalberatung Rochus Mummert.
Oder anders gesagt: Wer sich für einen High-Performer hält, sagt nicht „das schaff ich nicht“, „das ist mir zu viel“ oder schlicht „nein, ich kann nicht mal eben…“. Ohne die Fähigkeit, sich zu verweigern, ist noch niemand der Rolle des Always-on-Angestellten entflohen.
NOCH NICHT MAL DER HUND BEKOMMT EIN NEIN
Leider nur geht vielen Menschen nichts schwerer über die Lippen als das Wort NEIN. Das Ergab eine Befragung von mehr als 1000 repräsentativ ausgewählten Deutschen durch das Meinungsforschungsinstitut TNS. Vier von fünf sagen oft ja, obwohl sie lieber nein sagen würden – und ärgern sich anschließend darüber. 52 Prozent der Männer und 46 Prozent der Frauen nicken zu schnell, wenn der Partner etwas will. Im Job ist das Geschlechterverhältnis umgekehrt: Hat der Chef einen abseitigen Wunsch, sagen 47 Prozent der Frauen und 36 Prozent der Männer ja, obwohl sie wissen, dass nein die bessere Antwort wäre.
Vor allem wegen solch psychologischer Hemmschwellen ist ein Gesetz gegen ständige Erreichbarkeit, das wirkt und nicht ständig unterlaufen wird, schwer vorstellbar.
Die Fähigkeit, sich abzugrenzen, kann man nicht per Gesetz verordnen. Aber man kann sie üben. Zum Beispiel daheim: Laut TNS-Umfrage haben 14 Prozent der Deutschen Probleme damit, ihrem Haustier etwas abzuschlagen. Das wäre doch ein Anfang: dreimal nein zu Bello, dann klappt es beim nächsten Mal auch mit dem Chef.
* Christoph Lixenfeld ist Redakteur der deutschen CIO.


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