5-Tage-Woche ist für viele eine Überforderung

Wie realistisch ist eine viertägige Arbeitswoche? In den USA hat ein 200-Mitarbeiter-Unternehmen einen Versuch gestartet. [...]

(c) pixabay.com

Die belgische Regierung hat vor kurzem bekannt gegeben, dass die Bürgerinnen und Bürger im Lande künftig ihre wöchentlichen Arbeitsstunden auf nur noch vier statt fünf Tage verteilen können. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil arbeitet in Deutschland noch nicht an einer gesetzlichen Regelung für eine Vier-Tage-Woche, obwohl es laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL/ntv 71 Prozent der befragten Bundesbürger gut fänden, das belgische Modell zu übernehmen.

Auch im fernen Phoenix, Arizona, hat die Gig-Work-Plattform für das Gastgewerbe Qwick einen Versuch gestartet. Die meisten meisten der rund 200 Vollzeit beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten dort von einer 38- auf eine 32-Stunden Woche umsteigen. Sie arbeiten an vier Tagen in der Woche – bei gleichem Gehalt.

Die meisten Beschäftigten gehen von Montag bis Donnerstag ihrer Beschäftigung nach, einige auch am Wochenende, um den Bedürfnissen der Kunden gerecht zu werden. Das Ganze ist ein Versuch, der von einer Studie begleitet wird. Er soll bis Ende Juli 2022 dauern. Dann will das Unternehmen entscheiden, ob es an der Vier-Tage-Woche festhalten, sein Vorgehen anpassen oder die Idee wieder aufgeben will. Jamie Baxter, Mitbegründer und CEO von Qwick ist jedoch zuversichtlich, dass sich das Pilotprojekt als Erfolg erweisen wird.

Was die Vier-Tage-Woche bringt

Baxter ist überzeugt, dass eine kürzere Arbeitswoche eine Reihe von Vorteilen mit sich bringen wird. Er verspricht sich weniger stressbedingte Krankheiten und Burnout-Fälle. Gleichzeitig werde die Maßnahme dem schnell wachsenden Unternehmen helfen, Top-Talente auf dem schwierigen Arbeitsmarkt zu finden und zu halten.

Wir wollten mehr zum Projekt Vier-Tage-Woche wissen und haben Baxter befragt:

Was hat Sie zu dem Experiment veranlasst?

Baxter: Wir hatten das Glück, stark zu wachsen und mussten fortlaufend neue Mitarbeiter einstellen. Trotzdem werden wir wohl nie genug Personal haben, und die Gefahr ist groß, die Beschäftigten zu überfordern. Anzeichen dafür habe ich bei einigen Mitarbeitern bereits festgestellt – und das möchte ich nicht. Es wäre schlimm, wenn die Menschen bei uns einen Burnout erleiden würden. Deshalb will ich mich um das geistige und körperliche Wohlbefinden unserer Mitarbeiter kümmern. Sportler kennen das: Man muss auch mal eine Pause einlegen und sich erholen, bevor es wieder weiter geht.

Warum haben Sie die Vier-Tage-Woche nicht schon früher beschlossen?

Baxter: Wir fingen an uns damit zu beschäftigen, nachdem wir aufgrund der Corona-Krise eine Entlassungswelle erlebt haben. Im vergangenen Jahr haben wir das Team aufgrund der wieder angestiegenen Nachfrage um fast 700 Prozent vergrößert. Das war der Punkt, an dem ich feststellte, dass die hohe Arbeitsbelastung allen zu schaffen machte.

Die Art und Weise, in der heute Arbeit gesellschaftlich organisiert ist, stammt noch aus Zeiten der industriellen Revolution, als es in einer typischen Familie in der Regel einen Hauptversorger gab. Heute existieren viele verschiedene Modelle. Manche unserer Mitarbeiter leben allein, bei anderen arbeiten beide Partner. Eine Fünf-Tage-Woche wurde für viele zu einer Überforderung.

Können an dem Pilotprojekt alle Mitarbeitenden teilnehmen?

Baxter: Ja, es gilt für alle Vollzeitmitarbeiter in sämtlichen Abteilungen. Zudem können 80 Teilzeit-Mitarbeiter ihren Zeitplan selbst bestimmen und arbeiten, wann sie wollen. Allerdings gilt die Vier-Tage-Woche nicht für unsere ‚Professionals‘, wie wir die Mitarbeitenden im Gastgewerbe nennen, denen wir über unsere Plattform einen Job vermitteln. Sie bestimmen bereits souverän über ihre Arbeitszeiten, da wäre eine Vier-Tage-Woche eher eine Einschränkung.

Vier-Tage-Woche: der Projekthintergrund

Mit welchen Herausforderungen rechnen Sie?

Baxter: Wir experimentieren ständig mit neuen Dingen. Natürlich beschäftigt mich die Frage, ob unser Team dieses neue Arbeitszeitmodell auch annehmen wird. Ich hoffe, dass sich die Mitarbeiter tatsächlich einen Tag mehr Zeit nehmen und, statt sich abzurackern, die Zeit mit ihren Familien verbringen.

In gewisser Weise widerspricht dieses Modell der typischen Haltung von Startups, in denen es meistens heißt: „Hey, wir strengen uns richtig an und schuften, um gemeinsam etwas aufzubauen.“ Diese Einstellung sollten wir auch nicht verlieren. Ich möchte aber, dass wir uns in vier Tagen wirklich intensiv auf die Ziele konzentrieren, um dann in der Lage zu sein, uns zu erholen.

Welche Tools für die Arbeitsorganisation nutzen Sie?

Baxter: Für die Kommunikation in Echtzeit verwenden wir Slack. Damit haben wir eine Reihe von Arbeitsabläufen automatisiert. Beim Kundensupport wollten wir uns nicht auf die Lösung eines Drittanbieters oder ein Ticketsystem verlassen. Hier ist uns Kommunikation in Echtzeit wichtig. Daher haben wir eine eigene Lösung namens Qwickio entwickelt. Das kann man sich als zentrales Monitoring-Tool für unseren Marktplatz vorstellen, mit dem wir sehen können, was vor sich geht und wo es Schwierigkeiten gibt. Eine Kombination aus Tools von Drittanbietern und Eigenentwicklungen ermöglicht es uns also, nahtlos zu kommunizieren und die Arbeit zu organisieren.

Wie vermeiden Sie bei der Umstellung auf die Vier-Tage-Woche Störungen für Ihre Kunden?

Baxter: Ich glaube nicht, dass unsere Geschäftspartner oder Kunden merken, dass wir etwas verändert haben. Wir haben ja weiterhin Mitarbeitende, die sieben Tage die Woche für sie da sind. Schlussendlich sorgen auch die Tools dafür, dass sie uns 24 Stunden am Tag erreichen können.

Für Unternehmen, die nicht sieben, sondern nur fünf Tage die Woche arbeiten, wäre der Umstieg auf eine Vier-Tage-Woche wahrscheinlich eine größere Herausforderung. Wir arbeiten aber schon immer an sieben Tagen in der Woche. Wir haben den Dienstplan also so geändert, dass nicht jeder von Montag bis Donnerstag arbeitet. Einige Kolleginnen und Kollegen werden an anderen Tagen, wie zum Beispiel Donnerstag bis Sonntag arbeiten. Dazu mussten wir im Vorfeld weitere Mitarbeiter einstellen, um sicherzustellen, dass wir genügend Personal haben, um jede Schicht für vier Tage abzudecken.

Das Ende des Projekts Vier-Tage-Woche

Welchen Ausgang erwarten Sie für Ihr Pilotprojekt?

Baxter: Wir erhoffen uns davon drei Dinge: eine höhere Produktivität, mehr Kreativität und ein besseres Wohlbefinden der Beschäftigten. Wir haben von anderen Unternehmen mit einer Vier-Tage Woche Daten erhalten, die zeigen, dass diese Ziele durchaus realistisch sind.

Wir erheben Kennzahlen, um die Entwicklung aus einer objektiven Perspektive betrachten zu können. Zum Beispiel messen wir die Bewertungen in unserem AppStore und auch die durchschnittlichen Reaktionsgeschwindigkeiten. Außerdem fragen wir unsere Mitarbeitenden nach ihrem Wohlbefinden – vor, während und nach der Umstellung. Im Laufe der Zeit werden wir die Ergebnisse monatlich auswerten, um zu sehen, wohin wir tendieren.

Wenn wir einen leichten Produktivitätsrückgang feststellen, aber die Kreativität und das Wohlbefinden der Beschäftigten steigen, ist das meiner Meinung nach in Ordnung. Es bedeutet, dass wir langfristig engagiertere Mitarbeiter haben werden, die gerne länger im Unternehmen bleiben und gute Ideen einbringen.

Was muss geschehen, damit Sie die Vier-Tage-Woche beibehalten?

Baxter: Entweder werden wir am Ende des Pilotprojekts sagen: Es hat wirklich gut funktioniert. Oder wir werden feststellen, dass wir das Arbeitszeitmodell unter Umständen anpassen und optimieren müssen. Die dritte Variante wird sein, wieder zurückzukehren zum vorherigen Modell. Wir werden es herausfinden. Aber ich habe Vertrauen in unser kreatives Team.

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag unserer US-Schwesterpublikation Computerworld.

*Matthew lebt in Großbritannien und schreibt für unsere US-Schwesterpublikation Computerworld zu den Thema Collaboration und Enterprise IT.

**Beate Wöhe leitet als Director Experts Network das IDG Experten-Netzwerk für alle Online-Portale der IDG Tech Media GmbH. Sie hat diese Position nach über zehnjähriger Tätigkeit als Redakteurin und leitende Redakteurin des IDG-Titels ChannelPartner im Juli 2014 übernommen. Ihr obliegt die Betreuung der Experten sowie der weitere Ausbau der Community.


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