Erfahren Sie, was sich hinter dem Begriff Achtsamkeit verbirgt, wie Sie Achtsamkeit lernen und damit Alltagsstress im "Sprint" der modernen Arbeitswelt abbauen können. [...]
Das Büroleben fordert seinen Preis. Ob agile Arbeitsmethoden, Meeting-Marathons, Innovationsdruck oder virtuelle Teams, all diese Erscheinungen des modernen Berufslebens sorgen dafür, dass wir unglaublich beschäftigt, aber selten produktiv sind. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, fremdgesteuert von einer Deadline zur nächsten zu hetzen. Sie empfinden die Art, wie wir arbeiten, als stressig. Das Tagesgeschäft gleicht einem Tornado, der immer schneller wütet. Wenn er uns erfasst, besteht die Gefahr, dass man sich selbst in dem ganzen Lärm verliert. Es fehlt an Ausgeglichenheit und Weitblick, die Gesundheit leidet, die Nerven liegen blank, unnötige Fehler werden gemacht, Ehepartner und Kinder müssen für die emotionale Entladung herhalten.
In den meisten Fällen werden Sie die stressige Umwelt nicht ändern können. Es bleibt also nur die Option, die eigene Haltung zu hinterfragen und bei Bedarf zu verändern. Dabei kann hilfreich sein, sich mit dem Thema Achtsamkeit auseinanderzusetzen.
Achtsamkeit – eine pragmatische Definition
Natürlich kann man sich dem Thema akademisch, rational oder philosophisch nähern. Als ich vor vielen Jahren in einem Kloster in der Schweiz war, habe ich jedoch eine pragmatische Definition entdeckt. Ich verbrachte dort ein paar Tage im Schweigen. Auf den ersten Blick klingt das einfach. Doch vor Ort merkte ich erst, wie oft und wie viel wir reden. Der Kampf darum, einfach nur nichts zu tun, war unglaublich anstrengend. Doch durch dieses Nicht-Reden und die täglichen Mediationen erfuhr ich, was Achtsamkeit bedeutet. In meinem alten Holzbett war dazu ein treffendes Wortspiel eingeritzt: „Das Leben ist nur im NOW and HERE. Alle Alternativen bringen dich ins NOWHERE.“
Wenn Sie mit Ihren Gedanken ständig irgendwo anders sind, also nicht im NOW and HERE, dann sind Sie im NOWHERE, also weder in der Gegenwart noch in der Zukunft noch in der Vergangenheit, sondern im Nirgendwo.
Moderne Kunstwelt
Die Vorzüge des digitalen Zeitalters fordern ihren Preis und sorgen eher für das Gegenteil von achtsamen Momenten. In meinen Projekten erlebe ich, dass viele Unternehmen mit besonderem Elan daran arbeiten, ihre Angestellten „klosterreif“ zu machen. Agile Arbeits-, Organisations- und Führungsmethoden sorgen für einen andauernden Sprint. Kalender füllen sich von alleine mit unzähligen Meetings. Komplexe Organisationsformen sorgen für virtuelle Beziehungen kreuz und quer um den Planeten, so dass nachher alle etwas sagen, aber keiner mehr etwas zu sagen hat.
Als ich während meines Studiums das erste Mal in New York war und dort ein Praktikum machte, war ich von der Stadt und ihrem Leben unglaublich beeindruckt. Doch heute sehe ich keine verlockende Skyline, sondern eher Legebatterien für Funktionsmenschen. Wir haben uns eine Welt geschaffen, für die der Mensch eigentlich nicht geschaffen ist.
Aber darüber spricht niemand gerne. Gesellschaftsfähiger ist, wer gute Miene zu bösem Spiel macht. Jeder zeigt sich frisch gestylt, je nach Geschmack in schicken Anzügen oder tollen Kleidern. Alle sind gesund, vital und stark. Ein Topmanager eines größeren Konzerns sagte mir einmal: „Herr Holzer, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, schauen Sie sich drei Straßen weiter an, wer alles in die psychosomatische Klinik geht.“
Es ist beschämend, dass wir als Krönung der Schöpfung, die Krankschreibung mit 40 durch Burnout zum Statussymbol erhoben haben.
Auswege durch Achtsamkeitsübungen
In einer komplexen und komplizierten Welt nutzt es uns nichts, wenn die Lösungen auch noch kompliziert sind. Im Gegenteil: Gut ist, wenn es einfach ist. Wie können Sie also die Situation für sich oder die Menschen, die Sie führen, verbessern? Es gibt drei Ansätze.
1. Arbeitskultur
Die meisten nennen es Unternehmenskultur, doch ich bezeichne es als Arbeitskultur. Nämlich die Antwort auf die Frage: Wie arbeiten die Menschen in einem Unternehmen zusammen? Solche Themen werden schnell als „weicher Kram“ abgetan. Doch dieser weiche Kram hat enormen Einfluss auf die Art, wie sich Menschen verhalten. Und das Verhalten der Menschen hat am Ende auch Einfluss auf Umsatz und Ertrag.
Eine hilfreiche Arbeitskultur im Unternehmen zu haben, ist die anspruchsvollste Lösung und gleichzeitig auch die sinnvollste. Denn sie packt das Übel an der Wurzel, da der Stress der Menschen in vielen Unternehmen entsteht, weil die Art und Weise des Miteinanders krankt. Wenn ich Unternehmen dabei begleite, ihre Arbeitskultur weiterzuentwickeln, spielen vor allem zwei grundlegende Themen eine zentrale Rolle:
Erstens fehlt es an Respekt. Viel zu schnell werden Menschen vorverurteilt. Auch wenn es politisch nicht korrekt ist, so machen wir uns von Personen schnell ein Bild auf Grund von Aussehen, Herkunft, Kleidungsstil oder ihren Verhaltensweisen. Hilfreicher ist jedoch zu akzeptieren, dass Menschen anders sind, anders fühlen, anders denken und anders handeln als wir. Also, dass wir Andersartigkeit als Bereicherung empfinden – und nicht als Belastung.
Zweitens fühlen sich viele Menschen außerdem unsicher. Sie trauen sich nicht, den Mund aufzumachen, weil Ehrlichkeit bei heiklen Themen zu Sanktionen führt. Wir fühlen uns viel zu schnell persönlich angegriffen, anstatt Feedback als Lernchance zu verstehen. Deswegen ist Streitkultur in den meisten Unternehmen nicht mehr als eine leere Worthülse. Wenn sie existiert, dann nur einseitig: und zwar die Hierarchie abwärts. Man pinkelt die Hierarchieleiter eben nicht nach oben. Dabei wäre konstruktives Streiten in alle Richtungen genau das, was Unternehmen brauchen, um zukunftsfähig zu bleiben. Und es würde den Mitarbeitern eine Menge Stress und Unachtsamkeit ersparen.
Wer die Arbeitskultur seines Unternehmens veredelt, kann die Achtsamkeit der Menschen, die darin arbeiten, erhöhen.
2. Unmittelbares berufliches Umfeld
Wenn Sie nicht gleich ein Projekt zur Arbeitskultur aufsetzen wollen, lässt sich der Wirkungskreis auch kleiner ziehen und auf das unmittelbare berufliche Umfeld konzentrieren. Die Frage ist: Welche Gewohnheiten haben sich hier etabliert, die Achtsamkeit verhindern?
Ein paar Beispiele, die mir regelmäßig auffallen:
- Zu viele Meetings.
- Meetings, zu denen einzelne Teilnehmer nicht vorbereitet erscheinen.
- Gesprächsteilnehmer, die zwar ausreden lassen, aber nicht aktiv zuhören.
- Fragen werden in unendlichen E-Mail-Kaskaden „diskutiert“, anstatt den Kollegen aufzusuchen und mit ihm persönlich zu sprechen.
- Deadlines werden ohne Konsequenz gerissen.
Wenn die Arbeitskultur in Ihrem Unternehmen krankt und Sie sie nicht ändern können, dann ändern Sie wenigstens die Art und Weise, wie Ihr Team arbeitet. Es sollte sozusagen gegen die negativen Einflüsse aus dem Unternehmen abgeschottet werden, ähnlich wie das „gallische Dorf“ in Asterix und Obelix. Arbeiten Sie mit Ihren Kollegen gezielt daran, die Achtsamkeit hochzuhalten. Das erhöht die Produktivität und auch den Spaß an der Arbeit ungemein.
3. Sie selbst
Noch einfacher wird es, sich nur auf sich selbst zu fokussieren. Die gute Nachricht: Auch hier gibt es Stellschrauben, die eigene Fähigkeit zur Achtsamkeit zu optimieren. Man kann das grundsätzlich in zwei Welten tun:
Die erste: Geist und Seele. Um diese ins Hier und Jetzt zu bekommen, ist die Zen-Meditation der Klassiker. Hier sitzen oder knien Sie und machen einfach nichts – außer zu atmen. Gedanken, die kommen, nehmen Sie wahr und lassen Sie einfach weiterfließen. Das gefällt dem einen, während der andere sich mit dieser östlichen Technik eher schwertut. In solchen Fällen gibt es zum Glück Alternativen.
Ein Phänomen, mit dem ich persönlich besonders gute Erfahrungen gemacht habe, ist die so genannte Herzfrequenzvariabilität. Emotionen wie Angst, Stress, Ärger, Wut beeinflussen unseren Herzschlag negativ. Ziel der Übungen ist es, die Kohärenz des Herzrhythmus durch Atemübungen gezielt wieder herbeizuführen. Darüber schreibt der französische Arzt David Servan-Schreiber in seinem Buch „Die Neue Medizin der Emotionen: Stress, Angst, Depression: – Gesund werden ohne Medikamente“ sehr ausführlich.
Alternativ können Sie den Schlüssel zu mehr Achtsamkeit auch auf körperlicher Ebene finden. Das ist die zweite Welt. Entspannungstechniken wie zum Beispiel die „Progressive Muskelentspannung“ nach Jakobsen sind hilfreich. Hier wird die Aufmerksamkeit auf verschiedene Muskeln gelenkt, die abwechselnd an- und wieder entspannen werden.
Eine Möglichkeit ist natürlich auch, die körperliche Intensität hochzufahren und Sport zu treiben. Ob Laufen, Klettern, Schwimmen oder Radfahren, ist dabei egal. Wichtig ist, den Kopf leer zu kriegen. Idealerweise denkt man dann nicht intensiv über ein aktuelles Problem nach, sondern lässt die Gedanken einfach fließen und konzentriert sich auf den Körper und die sportliche Anstrengung. Genießen Sie im wahrsten Sinne des Wortes den Moment.
Sport hat den Vorteil, dass damit gleichzeitig der Pegel der Stresshormone heruntergefahren wird. So reduzieren sich die Gefahr, zur falschen Zeit, am falschen Ort und vor den falschen Menschen einen cholerischen Ausraster zu bekommen.
Eine Mischung aus seelischer und körperlicher Welt ist der Vision Quest (deutsch: Visionssuche). Es war das bisher intensivste Erlebnis, das ich auf dem Weg zu meiner inneren Stimme gemacht habe. Was mir daran besonders gut gefällt ist, dass es keinen „Guru“ gibt, der Ihnen etwas predigt und Sie durch seine Sicht der Dinge beeinflusst. Beim Vision Quest geht es nur um Sie.
Dazu verbringen Sie vier Tage und vier Nächte in der Natur. Nur mit minimaler Ausrüstung. Kein Handy. Kein Buch. Kein Zelt. Kein Essen. Nur eine Plane, Kleidung und Wasser. Da Sie keine Nahrung zu sich nehmen, sind Sie in einem Zustand des Fastens. Dies und die fehlende Ablenkung durch „Inhalte“ lässt Sie intensiv sich selbst begegnen. Das braucht Mut, denn die meisten Menschen halten Stille nicht aus und wollen sich selbst gar nicht begegnen. Diese Zeit war sehr intensiv, aber auch sehr lehrreich und nachhaltig. Ich habe die Herausforderung nicht bereut und zehre noch heute davon.
Achtsamkeit ist keine Technik, sondern eine Lebenshaltung
Mir begegnen auf Vorträgen und Seminaren immer wieder Menschen, die nach neuen Methoden und Tricks suchen, um endlich den Schlüssel zu Glück, Erfolg oder Erfüllung zu finden. Enttäuscht kommentieren sie dann manchmal: „Ich habe nichts Neues gelernt“.
Ich entgegne ihnen dann: Wenn Sie etwas nur wissen, jedoch noch nicht umsetzen und nicht zur Gewohnheit gemacht haben, bleibt das bereits Bekannte immer noch etwas Neues.
Früher bin ich einmal im Jahr in ein Kloster gegangen, um eine Woche zu meditieren. Diese Auszeiten sind zwar angenehm, aber nicht nachhaltig wirkungsvoll. Mit Mitte 20 wurde bei mir Schilddrüsenkrebs diagnostiziert. Zwar wusste ich damals schon, dass Lebenszeit endlich ist. Emotional hatte ich es jedoch noch nicht begriffen: Ich verschwendete meine Lebenszeit noch viel zu sehr mit den falschen Menschen, den falschen Themen und dem falschen Job. Durch den Tumor habe ich wirklich verstanden, was es bedeutet: das Leben ist endlich. Und ich habe aufgeräumt.
Heute gehe ich deswegen nicht mehr ins Kloster. Vielmehr sorge ich dafür, dass ich meine Alltagsspiritualität trainiere. Achtsamkeitsübungen kann man jeden Tag machen. Dafür brauchen Sie nicht viel Zeit. Einfach zwischendurch bewusst atmen. Oder bewusst zuhören. Denn mit der Achtsamkeit ist es wie mit der Gesundheit: einen Tag gesund leben bringt nichts. Sie brauchen einen gesunden Lebensstil.
Achtsamkeit ist zwar eine vermeintliche Kleinigkeit. Doch wenn Sie genauer hinsehen, gibt es keine Kleinigkeiten.
*Peter Holzer studierte BWL in Oestrich-Winkel, Auckland und Chicago. Bereits mit 24 Jahren verantwortete Holzer den Vertrieb eines Private Equity Fonds. Nach einer plötzlichen Erkrankung fasste er den Mut, einen beruflichen Neustart zu wagen. Davon handelt auch sein Buch „Mut braucht eine Stimme“. Heute begleitet er Unternehmen, Veränderungsvorhaben in die Praxis umzusetzen.
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