Wir wollen agiler werden - das verkünden zurzeit viele Unternehmen. Dabei vergessen sie meist, dass Agilität eine Veränderung der Kultur in der Organisation erfordert und nicht nur das Einführen neuer Begriffe und Methoden. [...]
Spätestens seit Daimler-Chef Dieter Zetsche im Oktober 2016 das Leitbild einer neuen agilen Organisation verkündete, ist klar: Agilität führt kein Nischendasein mehr in den Unternehmen; sie ist zu einem Trend geworden, der alle Branchen erfasst. Sogar Konzerne wollen nun ähnlich wie Startups agieren und ihre Organisationen „agilisieren“.
Dabei verfahren sie häufig nach folgendem Schema: agile Teams werden eingerichtet, den Projektleitern wird das „Handbook of Scrum“ in die Hand gedrückt. Und dann werden sie aufgefordert: „Jetzt seid mal agil“ – oft ohne dass die Betroffenen wissen, was dies bedeutet. Entsprechend groß ist die Gefahr, dass sie „agil sein“ schlicht mit „schnell sein“ und „flexibel sein“ gleichsetzen und vergessen, dass hinter dem Agilitätskonzept eine Philosophie steht, die ein radikales Umdenken erfordert.
Die letzte große Welle beziehungsweise der letzte große Trend, der solche großen Veränderungen voraussetzte, war die Lean-Philosophie. Auch sie wurde in vielen Unternehmen zunächst euphorisch aufgegriffen und dann halbherzig umgesetzt – mit der Konsequenz, dass die meisten Lean-Initiativen nach gewissen Anfangserfolgen wieder einschliefen. Und der Begriff Lean? Er ist heute in den Köpfen der meisten Mitarbeiter verbrannt – und wird von ihnen nicht selten mit „abspecken“, also Kosten sparen und Personalabbau gleichgesetzt.
Regelmäßiges Hinterfragen und Reflektieren
Agilität und Lean haben eines gemeinsam: Die Grundlage beider Philosophien ist, dass die Mitarbeiter und Führungskräfte, Teams und Bereiche in den Unternehmen sich selbst und ihr Handeln regelmäßig hinterfragen und reflektieren – mit dem Ziel, kontinuierlich zu lernen und besser zu werden. Eine solche Einstellung und Haltung ist in den meisten Unternehmen nicht selbstverständlich. Im Gegenteil. Wer in ihnen einen Fehler oder ein Versäumnis zugibt, hat oft verloren: Er hat versagt! Diese Einstellung muss sich ändern, wenn die hinter den Philosophien Agilität und Lean liegenden Methoden Unternehmen zum Erfolg führen sollen.
Scrum Master sowie die Mitglieder und Führungskräfte agiler Teams stehen bei ihrer Arbeit vor der Herausforderung, dass ein agiles Arbeiten einen Paradigmenwechsel in ihrer Organisation erfordert – und zwar auf vielen Ebenen:
- Mitarbeiter, die es gewohnt sind, alles „vorgesagt“ zu bekommen, sollen plötzlich eigenverantwortlich und auch unternehmerisch denken und handeln.
- Die Führungskräfte haben nicht mehr das alleinige Sagen und sollen ihre Mitarbeiter coachend unterstützen.
- Die gewachsenen Hierarchien mit den damit verbundenen Privilegien werden aufgebrochen und formieren sich abhängig von den Projekten, Zielen und Ideen stets neu.
- Der Umgang mit Unsicherheit und Veränderung ist plötzlich das tägliche Brot.
Dieser Wechsel lässt sich nur mit agilen Teams bewältigen, die ausreichend für diese Aufgaben qualifiziert sind und Support von ganz oben erfahren. Dabei gilt: Eine große Diversität der Teammitglieder ist zwar förderlich für gute Ideen, sie birgt jedoch auch das Potenzial für Konflikte und Grabenbildung. Diese gilt es durch eine Teamentwicklung aufzufangen und in ein produktives Miteinander zu überführen. Die „Andersartigkeit“ der anderen muss verstanden werden, damit sie geschätzt werden kann.
Weitere Stolpersteine beim Einführen der Philosophie Agilität
- Das Scrum-Team ist eingebettet in alte Strukturen, die an den Schnittstellen ungläubig auf die agilen Prinzipien schauen und sich fragen, was das soll. „So haben wir das noch nie gemacht.“
- Das Scrum-Team selbst besteht aus Mitarbeitern, die noch ungeübt in der Selbstorganisation sind. Es entstehen Konflikte aus Rollenunklarheiten und die Gefahr lauert, dass bei Hindernissen alle wieder ins alte und bekannte Schema zurückfallen.
- Agile Teams und Strukturen sollen eingeführt werden ohne Scrum. In diesem Fall gibt es kein Framework, an das sich alle halten können; ein Vorgehen mit Prinzipien der Zusammenarbeit muss erst noch entwickelt werden.
In der Scrum-Philosophie und -Methodik gilt der Scrum-Master als derjenige, der die Teammitglieder, Product-Owner und oft auch die am Rande beteiligten Personen bei der Einführung von Agilität coachen soll. Deshalb ist in der Szene ein neuer Begriff entstanden: der agile Coach.
In der Regel ist dieser agile Coach der Scrum-Master. Dieser wurde in der Praxis, wenn es gut lief, in einem zweitägigen Seminar geschult und auf die Prüfung zum Scrum-Master vorbereitet, die er online im Multiple-Choice-Verfahren abschließt. In dieser Prüfung, die gar nicht so leicht zu bestehen ist, geht es nur um die Theorie der Prinzipien und der Methodik. Nichts und niemand bereitet den Scrum-Master jedoch darauf vor, wie er mit den Herausforderungen, die sich ihm bei der praktischen Arbeit stellen, umgeht und Teams entwickelt. Es wird von ihm erwartet, dass er es kann und ohne Ausbildung wie ein agiler Coach agiert.
Ein agiler Coach hat viele Aufgaben und Funktionen
- Er versteht und kennt die agilen Praktiken und Prinzipien und unterstützt Teams, diese zu erlernen und anzuwenden.
- Er erkennt organisatorische Blockaden und Hindernisse und coacht das Management und andere Betroffene bei der Agilisierung des Unternehmens.
- Er ist in der Lage mediativ, moderativ, coachend und methodisch Teams bei ihrer Entwicklung zu leistungsstarken Teams zu begleiten.
- Er kann Führungskräfte und Vorstände von den Vorteilen agiler Methoden und Prozesse überzeugen und dafür begeistern.
Konkret bedeutet dies, ein agiler Coach muss situations- und zielabhängig in folgende Rollen schlüpfen und diese professionell wahrnehmen: Berater, Trainer, Coach, Changemanager und oft auch Führungskraft. Und das in einem Umfeld, in dem vielfach angenommen wird, Agilität sei die Lösung aller Probleme. Da kann der Scrum-Master oder agile Coach nur scheitern, sofern es ihm durch viel Aufklärungsarbeit nicht gelingt, das Bewusstsein zu schaffen: Agile Methoden und Organisationsformen lösen keine Probleme, sie machen diese lediglich sehr schnell sichtbar. Das gilt auch für die agilen Teams selbst. Wer „richtig“ und „falsch“ im Team ist, zeigt sich bei der Zusammenarbeit aufgrund der Gruppendynamik und Transparenz sehr schnell.
Die erkannten Probleme müssen in den Unternehmen als Chance, etwas zu verbessern, gesehen werden. Denn nur dann werden sie in der Regel konsequent gelöst. Diese Einstellung und Haltung ist auch bei der Einführung von Agilität wichtig. Besteht sie, erwächst hieraus die Chance, Probleme aufgrund der hohen Transparenz und regelmäßigen Reflektion schnell und klar aufzudecken und bei einer entsprechenden Entschlossenheit fix zu beseitigen.
* Katja von Bergen arbeitet als Unternehmens- und Managementberaterin für die Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal.
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