Agile Methoden sind k(l)eine Universalgenies

Führungskräfte und Entscheidungsträger sehen sich immer öfter den gleichen Rufen ausgesetzt: „Wir müssen agiler werden!“ Mal kommen die Forderungen von „oben“, verbunden mit dem Druck, schneller, flexibler oder effizienter (ab)liefern zu können. [...]

Foto: GerdAltmann/Pixabay

Mal ist es die Basis, die nach neuen, agileren Arbeitsweisen verlangt. Im besten – oder vielleicht im schlimmsten – Fall gehen damit gleich noch konkrete Forderungen nach DER einen agilen Methode einher: Lass uns SAFe/LeSS/Scrum/… machen! Gerne begleitet von Beratern, die das Blaue vom Himmel versprechen.

Leider kann ich als Führungskraft oft weder abschätzen, ob DIE eine Methode auch wirklich die bestmögliche für das Vorhaben ist, noch, ob die Versprechungen der Berater realistisch sind.

Was tun? Einfach probieren? Viel Mühe, Geld und Zeit investieren, um letztlich womöglich Schiffbruch zu erleiden? Die eigene Karriere und Vision aufs Spiel setzen?

Nur eines scheint klar: Alles beim Alten belassen, funktioniert nicht – die Rufe nach mehr Agilität sind nicht zu überhören.

„Naturgesetze“ für Agile und Flow verstehen

Die meisten Agilisten und Manager reden über konkrete Methoden oder Frameworks. Natürlich mit dem Anspruch, dass es genau diese eine Maßnahme sei, die am besten wirkt. Grundsätzlich ist es auch gar nicht verkehrt, über Methoden und Frameworks zu sprechen.

Leider fehlt selbst den vermeintlichen Experten allzu oft die Erkenntnis, welche Effekte sie mit dem blinden Einsatz solcher Dinge erzeugen. Woran es mangelt, ist das Verständnis der zugrundeliegenden „Naturgesetze“, die das Wirken von Agile und Flow definieren.

Wer diese nicht versteht, wird immer wieder überrascht sein, was passiert, wenn man Methoden anwendet! Das gilt für die Agile-Experten selbst ebenso wie für Führungskräfte, die eine Organisation agil machen wollen.

Was beide unterscheidet: Die Führungskraft läuft sehenden Auges in eine neue Problemwelt, während der „Experte“ im schlimmsten Fall mit gefüllter Berater-Brieftasche das sinkende Schiff verlässt. Der Blick über den Tellerrand, das Begreifen einiger Basics (der „Naturgesetze“) liefert Führungskräften praktische Orientierung im agilen Maßnahmen- und Wirkungsdschungel. Und entzaubert ganz nebenbei schlechte Agile-Berater ganz ohne den gefürchteten Schiffbruch …

1. Littles Gesetz

Littles Gesetz erklärt, warum es so wichtig ist, den Work in Process (WIP) auf ein möglichst niedriges Niveau zu reduzieren, ohne den Fluss zu unterbrechen. Die Reduzierung des WIP schlägt sich sofort in einer verringerten Durchlaufzeit nieder und Prozesse geraten in Fluss. Die Verringerung des WIP führt in der Regel zur Reduktion von Fehlern, von negativem Multitasking und von Unterbrechungen – der Durchsatz steigt.

Aber: Der WIP darf keinesfalls ZU niedrig angesetzt sein. Es braucht möglichst gleichmäßigen Fluss, um die Einschränkung (siehe Gesetz 2) nicht leerlaufen zu lassen.

2. Goldratts Gesetz

Jedes komplexe offene System hat genau ein Element, das den Durchsatz einschränkt! Goldratts Gesetz gilt für fast alle Systeme, denn alle Systeme, die nützlich sind, sind offen. Die Implikation von Goldratts Gesetz: Wenn wir akzeptieren, dass es nur eine einzige lähmende Einschränkung (Anm.: oft als Engpass bezeichnet) gibt, müssen wir alle Managementaktivitäten auf genau diesen einen Punkt konzentrieren.

Optimierung findet nur dort statt, Prioritätsentscheidungen fallen auf dessen Grundlage. Eine Überlastung oder ein Aushungern der Einschränkung ist unbedingt zu vermeiden, wenn wir das Beste (den höchstmöglichen Gesamtdurchsatz) aus ihr schöpfen wollen.

Ein geplanter Puffer und eine geplante Auslastung der Einschränkung von etwa 80-85 Prozent helfen, Schwankungen auszugeichen und abzufangen. Es ist so einfach und doch manchmal so schwierig: Wer Goldratts Gesetz annimmt, versteht, warum es Sinn macht, eine Organisation zu unterbelasten und das Management auf die Beschränkung zu konzentrieren, um den optimalen Durchsatz zu erreichen.

3. Ashbys Gesetz

Komplexität schlägt Komplexität! Wer an der Spitze stehen will, muss eine größere Vielfalt an Verhaltensweisen nutzen können (ergo: komplexer sein) als das System, das man kontrollieren will.

Setzen wir hier mit einzelnen Methoden wie beispielsweise Scrum an, fehlt uns genau diese Komplexität. Was auf den ersten Blick verrückt scheint, ist tatsächlich so: Komplexität macht Agile einfacher.

4. Conweys Gesetz

Conweys Gesetz ist zwar nicht wissenschaftlich bewiesen, dennoch nachvollziehbar und praktisch erlebbar: Es besagt, dass Organisationen Systeme entwerfen, die ihre eigene Kommunikationsstruktur widerspiegeln. Wenn etwa die Kommunikation in einer Organisation nur von oben nach unten läuft – wie kann diese Organisation eine verteilte, selbstorganisierte Systemarchitektur entwerfen? Undenkbar.

Der Systementwurf wird also immer irgendwie von oben nach unten verlaufen. Die Folgerung: Will eine Organisation in der modernen Welt selbstorganisierter, lose gekoppelter Systeme spielen, muss sich diese Organisation im ersten Zug selbst so organisieren und kommunizieren.

5. Shannon-Hartley-Gesetz

Was haben Shannons und Hartleys technische Erkenntnisse in der Nachrichtentechnik mit Agile zu tun? Letztendlich geht es um Kommunikation: In der einfachen Form sagte Shannon “um ein gültiges Signal zu sehen, muss die Frequenz der Messung mindestens doppelt so hoch (besser noch höher) sein.”

Steuern wir also ein System, in dem wöchentlich relevante Ereignisse auftreten, müssen wir theoretisch mindestens zweimal pro Woche (praktisch eher täglich) messen und kontrollieren, um die Ereignisse nicht zu verpassen.

Um das System zu stabilisieren, stehen die gemessenen relevanten Ereignisse allen Verantwortlichen jeden Tag zur Verfügung – nicht als führungsspezifischer Kontrollmechanismus, sondern als einfache Notwendigkeit, um ein System stabil zu halten.

6. Hakens/Schiepeks Konzept der Selbstorganisation

Bei Haken/Schiepek handelt es sich um kein physikalisches Gesetz. Vielmehr hat das deutsche Physiker-Psychologen-Duo umfassend über Selbstorganisation geforscht. Sie nannten ihre Ergebnisse Synergetik und fassten diese in gleichnamigem Buch zusammen.

Dort beschrieben sie Selbstorganisation als einen Wirkmechanismus, der bei offenen Systemen, die aus autonomen Teilsystemen (Abteilungen/Teams, letztlich Menschen) bestehen, eine fast sprunghafte Änderung der Ordnungszustände ermöglicht.

Also genau das, was wir anstreben, wenn wir Agile implementieren oder Flow erreichen möchten – den Sprung von einem Zustand niedriger Leistung in einen Zustand höherer Leistung. Selbstorganisierte Veränderungen laufen aber nicht nur schneller, sondern auch sicherer ab, weil niemand gegen das System anläuft. Vielmehr arbeitet das System mit und der Change wird nachhaltig.

Verinnerlichen, reflektieren, kritisch checken

Das Verinnerlichen der sechs agilen „Naturgesetze“ ist bereits mehr als die halbe Miete, um geeignete agile Methoden zu prüfen und eben keinen Schiffbruch zu erleiden. Reflektieren Führungskräfte in Anlehnung an die Naturgesetze dann folgende drei Punkte, steht einem agilen Makeover nichts mehr im Weg.

Um mehr Output mit bestehenden Ressourcen zu erzeugen oder schneller, pünktlicher und/oder qualitativ besser zu werden, muss jede Lösung drei Kriterien erfüllen, damit sie wirken kann: Erstens muss die Methode sicherstellen, dass die Organisation (zumindest planerisch) in Unterlast gefahren wird – allen voran der Engpass.

Zweitens muss sie ein Signal erzeugen, das so schnell reagiert sowie klar und sinnvoll ist, dass jeder Beteiligte es gerne nutzt, um Entscheidungen zu treffen, die nicht nur ihm selbst helfen, sondern dem gesamten Unternehmen.

Das Signal muss aus dem fließenden Element stammen (z. B. Projekte) und die Kritikalität zeigen (z. B. Pufferverbrauch vs. Fortschritt). Es darf nicht durch Personen beeinflussbar sein und soll täglich allen zur Verfügung stehen.

Drittens muss das Signal verwendet werden, um systematische team- und abteilungsübergreifende Prozessfehler identifizieren zu können, diese tagesaktuell zu beseitigen und dauerhaft den mittleren Aufwand (vor allem im Engpass) zu verringern. Nur so steigt letztendlich der Output.

Eine Stufe konkreter: Checkliste “State of the Art Agile”

  • Sorgt die vorgeschlagene Methode dafür, dass Sie den Engpass der Organisation erkennen – Goldratts Gesetz?
  • Stellt die vorgeschlagene Methode sicher, dass jeder und jede unter 100 Prozent Auslastung (inklusive der Backlogs) ist – Littles Gesetz?
  • Um beispielsweise Termine einzuhalten: Kann die Methode nicht nur agile Teams, sondern auch agile Projekte – Ashbys Law?
  • Ist die Steuerung schnell genug – Shannons Theorem? Geht es darum, auf Monatsgenauigkeit zu liefern, muss das Signal ein- bis zweimal wöchentlich erzeugt werden. Möchte ich wochengenau liefern, dann täglich für alle!

Wenn alle vier Fragen mit einem klaren JA! beantwortet werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Ansatz zum Erfolg führt. Und das nicht nur mit viel Aufwand und teuren Beratern, sondern selbstorganisiert.

Sicher und orientiert agil werden

Es ist grundlegend, die agilen „Naturgesetze“ zu kennen, um einordnen zu können, wann eine Methode überhaupt anwendbar ist oder ob sie das gewünschte Ergebnis liefern kann. Agieren wir unsicher und desorientiert, steuert das System uns und nicht umgekehrt.

Der gefürchtete Schiffbruch ist dann die logische Folge. Ein vermeidbares Szenario. Für jeden persönlich und die Organisation als Ganzes. Deshalb: Augen auf – bei der Methoden- UND Beraterwahl!

*Wolfram Müller ist Experte für agiles Multiprojektmanagement sowie Gründer von BlueDolphin. Seine Passion: selbstorganisierte Veränderungen und Engpassmanagement. Über 40 Unternehmen, vom Start – up über den Mittelständler bis hin zu Konzernen , in allen Branchen haben bisher von seinem Wissen und Methoden profitiert.

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