Augmented Reality für Kosmetik: Oh, wie bin ich schön…

Der amerikanische Beauty-Konzern Estee Lauder hat eine Augmented-Reality-Plattform gebaut, die es Kunden ermöglicht, sich virtuell zu schminken und die richtigen Kosmetika zu finden. [...]

Um die Entscheidungsträger der Marken von VTO zu überzeugen, initiierte das Technikteam außerdem Pilotprojekte, die zeigten, wie die AR-Technik die Markteinführung beschleunigen und dabei die Kosten senken kann (c) pixabay.com

Viele Unternehmen haben mit Augmented Reality (AR) keine sonderlich guten Erfahrungen gemacht und sind skeptisch, was den weiteren Einsatz der Technologie betrifft. Besser lief es für Beauty- und Modeunternehmen, wie das Beispiel Estée Lauder zeigt. Das Unternehmen hat während der Pandemie AR genutzt, um die Kundenerlebnisse signifikant zu verbessern.

Das inzwischen 75-jährige US-Unternehmen mit seinen mehr als 25 Beauty-Marken hat eine Software-Plattform entwickelt, um AR-Dienste möglichst schnell auszurollen. Die Konsumenten sollen Produkte virtuell „anprobieren“ können. Für diese Try-before-you-buy-Erfahrung müssen sie nicht unbedingt den Weg ins Geschäft auf sich nehmen. Die AR-Plattform Virtual Try On (VTO) hilft ihnen, vor dem Kauf einen Eindruck zu gewinnen, wie ihnen verschiedene Lippenstifte, Mascara, Make-ups, Lidschatten und anderen Produkte stehen würden.

Probeschminken am Display

Viele Estée-Lauder-Marken, darunter Clinique und MAC, haben die Plattform im letzten Jahr eingeführt, nachdem die COVID-Krise direkte Kundenerfahrungen in den Geschäften unmöglich gemacht hatte. Käufer und vor allem Käuferinnen nutzen ihr Phone oder Tablet, um sich ihr Gesicht im Display anzeigen zu lassen und sich virtuell zu schminken. Sie finden heraus, welche Kosmetik ihnen besonders gut steht und wie sich ihr Gesicht durch das Auftragen eines bestimmten Produkts verändern würde. Die entstehenden Bilder können sie in sozialen Medien wie Instagram oder Snapchat teilen.

Chris Aidan, Vice President of Digital Technology and Engineering bei Estée Lauder ist sich sicher, auf diese Weise die Kundenzufriedenheit verbessert und ihre Bereitschaft erhöht zu haben, neue Angebote auszuprobieren und zu kaufen. „Mit unserer VTO-Plattform können unsere Kunden Farbtöne und Schattierungen genau erkennen. Sie können gezielt die Produkte auswählen, von denen sie wissen, dass sie gut aussehen werden“, sagt Aidan.

AR funktioniert, wenn sie ein Geschäftsproblem löst

Gartner-Analyst Tuong Nguyen weiß um die lange Anlaufphase, die AR-Technologien benötigten, glaubt aber, dass die Pandemie nun für ein deutlich gestiegenes Interesse gesorgt hat. Allerdings sei noch immer zu beobachten, das Tests und Proof of Concepts nicht die Erwartungen erfüllten, sagt der Marktbeobachter. Dabei sei meistens nicht die Technik das zentrale Hindernis, sondern die geschäftliche Herausforderung und die vielen Implikationen für Unternehmen. Diese seien unsicher, ob und wie sie AR-Strategie angehen sollten.

Möglicherweise hat die Corona-Krise der AR-Technologie einen entscheidenden Impuls gegeben. Aufgrund der vermeintlichen Ansteckungsrisiken sind viele Menschen zurückhaltend mit dem Berühren von Gegenständen in Geschäften. Wenn sie die Chance haben, über ihr Smartphone mehr über Produkte herauszufinden und diese sogar auszuprobieren, ist das der ideale Nährboden für digitale Kauferlebnisse. Virtuelle Anproben erwiesen sich für Estée Lauder während der Pandemie als Schlüsseltechnologie, da Social Distancing die Interaktion der Verbraucher mit ihren Beauty-Marken einschränkten.

In Sachen AR-Einsatz hat der Konzern mit seinem breiten Markenspektrum eine längere Reise hinter sich. Wollte eines der Tochterunternehmen ein VTO-Kundenerlebnis anbieten, war es oft ein halbes Jahr damit beschäftigt, eine eigene Lösung von Grund auf zu entwickeln. Das führte zu einem Sammelsurium verschiedener Lösungen im Technologieportfolio des Unternehmens. Auch wurde jede Marke mit den Entwicklungs- und Betriebskosten für IT-Infrastruktur und Team belastet, was das Engagement nicht gerade beflügelte.

Estée Lauder entscheidet sich für Plattformansatz

Mit der AR-Plattform Virtual Try on, auf die alle Marken zugreifen und inhaltliche Vorlagen nutzen können, lassen sich solche Dienste aus Sicht der Estée-Marken in nur zehn Wochen und zu 50 Prozent der Kosten einer eigenständigen Lösung aufbauen. Darüber hinaus können die Marken AR-Services für Web, Mobile oder sogar In-Store-Erlebnisse auf Tablets und Smart Mirrors zuschneiden. Letzteres könne interessant werden, wenn die Verbraucher an die Ladentheken zurückkehren, sagt Ricky Wong, weltweiter Leiter des digitalen Produktmanagements bei Estée Lauder.

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„Wir wollen High-Touch-Erlebnisse ermöglichen, die den sich ständig ändernden Kundenerwartungen immer ein Stück voraus sind“, sagt Wong. Die AR-Plattform VTO sollte das leisten können, sie wurde mit dem Award „IDG CIO 2021 Future Edge 50“ für besonders interessante Pilotprojekte mit neuen Technologien ausgezeichnet. Die gesamte Digitalstrategie des Unternehmens orientiere sich daran, spannende Kundenerlebnisse zu schaffen.

Dafür hat der Beauty-Konzern eigens ein Kennzahlensystem aufgebaut. Die KPIs rund um Kundenbindung werden genau verfolgt, ebenso die Zahl der Sitzungen, in denen Verbraucher die Webseiten oder die VTO-Anwendungen nutzen und natürlich ihre Zufriedenheit damit. So sammelt das Unternehmen Daten zum Kundenverhalten in der Begegnung mit Marken und nutzt diese Erkenntnisse für Optimierungen und den Aufbau weiterer Marken. Beispielsweise können die Daten eines Clinique-Kunden aus seiner Nutzung der AR-App in die Interaktion mit einem MAC-Kunden in einem Ladengeschäft einfließen.

Change Management war eine Herausforderung

Das größte Hindernis für die VTO-Plattformstrategie im Konzern war die Zurückhaltung mancher Führungskräfte im Bereich der Marken, da diese befürchteten, Kontrolle abgeben zu müssen. Die Marken von Estée sind dezentral aufgestellt und treffen ihre eigenen Entscheidungen. Sie haben das Recht, ihre individuellen digitalen Lösungen zu entwickeln, um ihre Markenidentität aufrechtzuerhalten und ein optimales Erscheinungsbild abzugeben.

Um dennoch voranzukommen, verfolgten Wong, Aidan und ihre Tech-Kollegen einen mehrgleisigen internen Go-to-Market-Ansatz: Skeptikern wurden in zahllosen Meetings überzeugt, dass die Plattform ihnen und ihren Geschäften nutzen würde. „Wir haben viel erklärt, warum dieser Ansatz sinnvoll ist“, sagt Wong. „Es war sicherlich eine Reise.“

Viel interne Überzeugungsarbeit bei Estèe Lauder

Um die Entscheidungsträger der Marken von VTO zu überzeugen, initiierte das Technikteam außerdem Pilotprojekte, die zeigten, wie die AR-Technik die Markteinführung beschleunigen und dabei die Kosten senken kann. Außerdem wurde eine interne Roadshow initiiert, auf der die Verantwortlichen beispielsweise die Fähigkeit der Plattform zeigten, mehrere Regionen und Sprachen zu unterstützen, das sehr einfache Content-Management-System zu nutzen oder wiederverwendbaren Komponenten für mobile Apps einzusetzen.

Aufgrund dieser Bemühungen gewann VTO nach den Ausführungen von Wong Glaubwürdigkeit und Vertrauen bei allen Estée-Marken. Inzwischen setzt nahezu jeder Brand die Technik in einem oder mehreren Kanälen ein oder erwägt zumindest, damit in den nächsten Quartalen zu starten.

*Clint Boulton ist Senior Writer bei der US-Schwesterpublikation cio.com.


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