Bayer gestaltet Analyse und Tests von Wirkstoffen neu

Pflanzenschutzmittel sollen effizient und ökologisch sein. Um Wirkstoffkombinationen schneller und genauer zu ermitteln, setzt Bayer auf Bildanalysen und eine Plattform, die den Einsatz von Machine-Learning-Modellen automatisiert. [...]

Mit umweltschonenderen Pflanzenschutzmitteln kann die Landwirtschaft zum Arten- und Umweltschutz beitragen (c) pixabay.com

Es geht um viel: Die Weltbevölkerung wächst stetig. Gleichzeitig stellt der Klimawandel die Menschheit vor massive Herausforderungen. Es gilt also zum einen die Ernährung der Weltbevölkerung zu sichern, zum anderen aber auch die Fruchtbarkeit der Böden zu erhalten, Wasser sparsam einzusetzen, Biodiversität zu schützen und Emissionen zu reduzieren.

Die Bayer AG forscht unter dem Motto „Health for all, hunger for none“ an neuen Wirkungsbereichen für zukunftsfähigen Pflanzenschutz: Bauern sollen dabei unterstützt werden, effizient zu produzieren – und das möglichst ökologisch. Dafür müssen neue umweltschonendere und wirksamere Pflanzenschutzprodukte entwickelt werden, möglichst effizient und schnell.

Bisher habe die Suche der Wissenschaftler nach hochwirksamen und gleichermaßen umweltverträglichen Mitteln jedoch der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen geglichen, so die Verantwortlichen von Bayer. Riesige Wirkstoffbibliotheken mit über 40.000 Einträgen müssten mithilfe unzähliger Experimente an einer Vielzahl von Gewächsen getestet werden. „Ein zeit- und kostenintensiver Aufwand, der von manuellen und subjektiven Entscheidungen geprägt ist“, konstatiert der Konzern.

An dieser Stelle setzt das Projekt SIMPL (Small Molecules Imaging Plattform) an, das Bayer gemeinsam mit der Leadvise Reply GmbH und Thinkport auf die Schiene gesetzt hat. Damit wurde der gesamte Prozess rund um Analyse und Tests von Wirkstoffen komplett neugestaltet, was auch die Jury im Wettbewerb Digital Leader Award (DLA) 2021 überzeugt hat.

Automatische Bildanalyse

Das funktioniert so: Im Bereich Pflanzenschutz nehmen Pilze nach Kontakt mit einer Substanz aus der Wirkstoffbibliothek verschiedene Formen an, die eine Aussage über die Reaktion zulassen. Bisher mussten diese Ergebnisse manuell kategorisiert werden. Mithilfe der SIMPL Plattform können Machine-Learning-Modelle automatisiert Pilze analysieren. So können Forscher gezielt nach relevanten Reaktionen suchen. Auf Basis der voranalysierten Fotos und mit Hilfe komplexer Berechnungen von neuronalen Netzwerken sei es möglich, bedeutend schneller und vor allem mehr Wirkstoffe zu testen und so präzisere Aussagen zu den Erfolgsaussichten im gesamten Forschungsprozess zu treffen.

Ein anderer Bereich ist das Phenotyping. Dort beschäftigt man sich damit, Einflüsse auf die Entwicklung von Pflanzen mithilfe von Bildern und unterschiedlichen Lichtspektren zu identifizieren und zu analysieren. Für die Analyse werden unterschiedliche Lichtspektren verwendet, um Veränderungen beispielsweise bei Gräsern bereits frühzeitig erkennen zu können. Das Pre-Processing der Bilder und die Analyse erfolgt nun in der Cloud, auf der SIMPL Plattform. Denn kein Forscher könnte täglich tausende Fotos von Gräsern untersuchen, um Wirkungsmechanismen zu erkennen.

Das erste Fazit ist vielversprechend: Die Zeit vom Experiment bis zur Ergebnisvisualisierung könnte teilweise von drei Wochen auf eine Woche verkürzt werden. Darüber hinaus ließen sich manuelle und brüchige digitale Prozesse von sechs auf zwei Schritte reduzieren. Zu guter Letzt erlaubt der Wechsel von lokalen, geschlossenen Systemen hin zu einer flexiblen Cloud-Plattform eine effizientere cross-funktionale Kollaboration, was auch weitere Einsatzszenarien beflügelt. So interessieren sich bei Bayer mittlerweile auch andere Bereiche für die Plattform. In der Tomatenzucht beispielsweise werden die Erzeugnisse in Güteklassen eingeteilt.

Das geschieht händisch oder über grobe Abschätzungen. Großkunden wissen dann jedoch nicht genau, was sie von den Produzenten erhalten. Dieses Problem lässt sich mit SIMPL lösen: Die Güteklasse jeder Pflanze wird automatisch erfasst, bewertet und dokumentiert.

Diese Erfolge sind auch einer neuen Organisation und einem guten Change Management geschuldet. Bayer spricht von einer immensen Herausforderung, die gewohnte Herangehensweise an Forschung neu zu gestalten. Eine weitere Hürde sei die komplexe Ausgangslage gewesen: Die Sparte „Crop Science“ (Landwirtschaft) wurde zuvor im Zuge eines M&A-Vorgangs neu aufgestellt. Zugleich erreichte die Corona-Krise einen ersten Höhepunkt. Die bereits herausfordernde Zusammenarbeit über Zeitzonen hinweg musste auch für Mitarbeiter an gleichen Standorten neu definiert werden.

Co-Creation von Lösungen statt starrer Projektpläne

Da viele verschiedene Stakeholder eingebunden waren, wurde zunächst eine gemeinsame Basis für die Zielsetzung erarbeitet. Das Team setzte die von Google geprägte „Objectives and Key Results“-Methode ein, um Meilensteine zu definieren. Das Ziel war es, über positive Erfahrungen eine neue Arbeits- und Denkweise zu etablieren. „Wir haben während des Projekts gelernt, dass wir nicht in „Outcomes“ denken, sondern Anforderungen definieren und diese von den technischen Experten in eine Lösung übersetzen lassen“, sagt Sarah Lewandowski (SIMPL Product Owner, Manager Leadvise Reply). Außerdem wurden bereits laufende Projekte eingebunden, um für höhere Transparenz und mehr Struktur zu sorgen.

Die Co-Kreation von Lösungen anstelle eines starren Projektplans war entscheidend, sagen die Bayer-Verantwortlichen. Wichtig war, eine gemeinsame Sprachebene zu finden: „Nicht jeder Wissenschaftler ist mit Cloud-Technologien vertraut, nicht jeder AWS-Consultant mit der Phenotypisierung von Pflanzen.“

Gerade im Umgang mit Cloud– und Machine-Learning-Angeboten entwickelte das Bayer-Team eine eigene Vorgehensweise. Da eine entsprechende Lösung bisher noch nicht umgesetzt wurde, galt es, schnell Wissen und Erfahrung zu sammeln – vor allem auch, um Unsicherheit auf Seiten der Forscher zu reduzieren.

„Zum beidseitigen Verständnis hat es uns geholfen, Videos des Forschungsprozesses zu sehen, da eine Reise zu den Forschungsstandorten aufgrund von COVID nicht möglich war. Auf der anderen Seite konnten wir mit den Rapid Prototypes das technische Ergebnis besser veranschaulichen.“, sagt Steffen Stammel (IT Product Manager, Bayer). Daher entwickelte das Projektteam in einem ersten Schritt Rapid Prototypes, um einzelne Komponenten für die entsprechenden Zwecke zu testen. Dabei konnten Komponenten auch kurzfristig ausgetauscht werden, wenn sich ein anderes Tool als robuster oder einfacher herausstellte.

Die Bilanz der Bayer-Verantwortlichen zu SIMPL fällt positiv aus. Bislang sei eine Vielzahl an Einzelentscheidungen nötig gewesen, um Fortschritte zu erzielen. Mit der neuen Technik erfolgt die Bewertung nun anhand von Messpunkten, die mit dem menschlichen Auge der Wissenschaftler nicht sichtbar sind. „Anstatt die Nadel im Heuhaufen in Handarbeit zu suchen, wird die Suche automatisiert.“

*Martin Bayer: Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP; Betreuung von News und Titel-Strecken in der Print-Ausgabe der COMPUTERWOCHE.


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