Die Astronauten auf der ISS sammeln Unmegen an Daten, die ausgewertet werden müssen. Mit Hilfe von Graphtechologie entwickelte die NASA eine Art NASA-Google-Maschine, mit der Mitarbeiter schnell und einfach auf Informationen zugreifen können. [...]
Ein Haus in exklusiver Lage, einzigartig im Design, technologisch auf dem neuesten Stand und seit rund zwanzig Jahren ununterbrochen ausgebucht. Bei TripAdvisor würde ein solches Traumobjekt wohl mit seitenweisen Bewertungen und detaillierte Kommentare von Besuchern aufwarten. Vor allem dann, wenn es sich um ein „Haus“ handelt, das in 400 Kilometer Höhe mit 28.800 km/h um die Erde fliegt, für 100 Mrd. US-Dollar gebaut wurde und als Highlight für die Besucher jeden Tag 16 Sonnenauf- und Sonnenuntergänge zu bieten hat.
Die Rede ist natürlich von der Internationalen Raumstation ISS. Seit 2000 ist das größte künstliche Objekt im Erdorbit permanent besetzt und hat bereits über 236 Besucher aus insgesamt 18 Ländern empfangen. Von jedem Besatzungsmitglied werden ausführliche Berichte verfasst, die minutengenau über sämtliche Erfahrungen auf der Raumstation Auskunft geben – von der Beschaffenheit der Schlafkoje über die Qualität des Essens bis hin zu technischen Geräten an Bord. Mit Lob und Kritik wird dabei nicht gespart. So liegen der NASA insgesamt über 900.000 Berichte vor. Das entspricht in etwa 45 Ausgaben von „Die Buddenbrooks“, in denen die Syntax entschlüsselt, die zentralen Motive zusammengefasst und versteckte Bedeutungen interpretiert werden müssen.
Wie lassen sich solche “Reiseberichte” und „Besucherbewertungen“ in verwertbare Daten umwandeln, die für die nächste Raummission genutzt werden können? Diese Frage stellte sich auch David Meza, NASA’s Chief Knowledge Architect at the Johnson Space Center in Houston. „Die Hauptfunktion der ISS ist es, Wissenschaft zu betreiben. Aber um das zu tun, müssen wir auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Raumstation regelmäßig prüfen. Das schließt die Verpflegung und die sanitären Anlagen genauso ein, wie das technische Equipment und Arbeitswerkzeug unserer Astronauten“, erklärt Meza. „Wir müssen wissen, was dort oben wie genutzt wird, und ob es verbesserungsbedürftig ist. Dazu sammeln wir die Aussagen der Astronauten und geben sie an die zuständigen NASA-Ingenieure weiter. Nur so können wir das Leben und Arbeiten auf der Internationalen Raumstation so angenehm wie möglich gestalten.“
Gesammeltes Wissen in Kisten auf dem Dachboden
Um zu verstehen, ob ein bestimmtes Trainingsgerät die Praxisanforderungen im Weltraum auch tatsächlich erfüllt, legte die NASA eine Datenbank an, in der die gesuchten Informationen über Schlüsselwörter abfragbar sind. Zu Beginn von David Mezas Projekt handelte es sich dabei um eine traditionelle SQL-Datenbank. Die richtigen Daten auf Anhieb zu finden, stellte sich extrem schwierig dar. Oft mussten die Verantwortlichen zunächst alle Excel-Tabellen und Dokumente manuell durchgehen und sämtliche Informationen nach Themen gruppieren ehe mit der Auswertung begonnen werden konnte. Die Analyse glich dabei mehr einer Interpretation, bei der die unterschiedlichen Kommentare, Meinungen und Stimmungsbilder der Astronauten gedeutet und zu einer einheitlichen Bewertung konsolidiert wurden. Erst so aufgeschlüsselt und interpretiert, gingen die Informationen an das Projektteam zurück.
„Dieser Prozess konnte drei Wochen oder auch einen Monat dauern“, erinnert sich Meza. „Die zeitaufwändige Recherche und Bereitstellung von Informationen ist bei vielen unseren Datensätzen ein Thema.“ Als Beispiel nennt er die Entwicklung der Orion-Kapsel, bei dem die Ingenieure auf ein scheinbar unlösbares Problem im automatischen Aufrichtsystem stießen. Im Apollo-Programm vor rund 50 Jahren wurde ein ähnliches System für die Landung bereits erfolgreich eingesetzt. Daher machte sich das Team daran, die Datenbank nach hilfreichen Informationen aus dieser Zeit zu durchsuchen – ohne Ergebnis.
„Tatsache ist: Wurden die Informationen in der Vergangenheit nicht korrekt indiziert, sind sie für uns so gut wie verloren“, so Meza. „Das Team wandte sich an unser History Office, das über 62 Terabyte an Daten aus der Apollo-Ära in einem sehr veralteten SQL-System speicherte. Es dauerte Stunden und Tage und am Ende hielten wir genau drei relevante Dokumente in den Händen. Wir besuchten sogar pensionierte NASA-Ingenieure, die uns auf ihren Dachboden führten, auf Kisten voller alter Dokumente zeigten und uns viel Glück bei der Suche wünschten. Mit modernen Wissensmanagement hat das natürlich nichts zu tun.“
Technologie-Roadmap zu mehr Wissen
In seiner Rolle als Chief Knowledge Architect machte sich David Meza daran, eine technisch ausgereifte Lösung zu entwickeln und zu implementieren, um die über Jahrzehnte gesammelten und in Datensilos verteilten Forschungsdaten in verwertbares Wissen zu verwandeln. Denn wie in vielen großen Organisationen und Unternehmen verfügt auch die NASA über einen enormen Wissensschatz, der darauf wartet geborgen und von Forschern und Entwicklern im Unternehmen für aktuelle Aufgaben genutzt zu werden.
Bei den Auswertungen zur ISS spielte insbesondere die Analyse von Texten eine zentrale Rolle, um Stimmungen, Schlüsselbegriffe, benannte Entitäten und die Sprache in den Astronauten-Berichten zu erkennen. Sentiment-Analyse ist ein Teilbereich des Text Minings, über das sich Texte automatisch auswerten und Aussagen in „postitiv“ oder „negativ“ einteilen lassen. Für die statistische Analyse der Texte und die Abfrage der Daten nutzt die NASA Knowledge Graphen. Ein Knowledge Graph setzt sich aus Daten und den Beziehungen zwischen diesen Daten zusammen und schafft so einen semantischen Kontext, in dem eine große Menge an heterogenen Daten traversiert und abgefragt werden kann. Das liefert Ergebnisse in Echtzeit selbst bei komplexen Suchanfragen.
Im Callcenter beispielsweise erlauben Knowledge Graphen Service-Mitarbeitern eine 360-Grad-Ansicht eines Kunden, einschließlich des gekauften Produkts und den Vertragsmodalitäten. Fragen können so situationsbezogen und individualisiert beantwortet, Probleme schnell und zielgerichtet gelöst werden. Die Antwort auf ein technisches Problem wird im Graphen hinterlegt und kann bei zukünftigen Interaktionen mit anderen Kunden als Lösungsweg herangezogen werden.
Grundsätzlich lassen sich drei verschiedene Typen von Knowledge Graphen benennen, die ihre Daten aus unterschiedlichen Quellen beziehen. Am verbreitetsten ist wohl der “Context-Rich” Knowledge Graph, in dem intrinsisches Wissen in Form von Dokumenten und Dateien über Meta-Tagging abgelegt ist. Paradebeispiel dafür ist die Google Search Engine. Auch die NASA nutzte diesen Ansatz, und machte sich daran eine eigene Suchmaschine auf Basis der Neo4j Graphdatenbank zu entwickeln.
Lessons Learned: Schnelle Abfrage von relevanten Daten
Die Einführung von Graphtechnologie zeigte sehr schnell Erfolg. Statt monatelang nach Dokumenten suchen zu müssen, liefert die Recherche in der graphbasierten Lessons Learned-Datenbank die gewünschten Informationen zur Orion-Kapsel innerhalb von drei Tagen. Den schnellen Zugriff auf forschungsrelevante Informationen verdankt die Lösung auch der anschaulichen Visualisierung der Daten, die Ingenieure intuitive durch das komplexe Datennetzwerk zum gesuchten Ergebnis führt. Auch die ISS-Reporte wurden mit Hilfe von Graphtechnologie und Sentiment-Analyse erschließbar.
„Stellen Sie sich vor, Sie sind an einer Aussage eines bestimmten Astronauten interessiert, die dieser nach der Mission XYZ zu einer bestimmten Hardwarevorrichtung auf der Internationalen Raumstation getroffen hat. Alle diese Informationen sind nun miteinander verknüpft im Graphen abgelegt und werden von unterschiedlichen Algorithmen durchlaufen. Nicht nur die Analyse läuft so deutlich schneller ab, wir können auch neue Zusammenhänge aufdecken und Informationen innerhalb unserer Projektteams weitergeben.“
Heute sind die rund 90.000 Berichte zur ISS in der neuen Graphdatenbank gespeichert und können von den NASA-Mitarbeitern aufgerufen, durchsucht und analysiert werden. Die Arbeit für David Meza ist damit jedoch noch lange nicht getan. In einem nächsten Schritt sollen konträre Aussagen genauer unter die Lupe genommen werden, also beispielsweise ein Werkzeug, das Bestnoten von einem, und Kritik von einem anderen ISS-Besucher erhalten hat. Darüber hinaus arbeitet sein Team an neuen Tools, die Endanwendern helfen, ihre eigenen Abfragen zu erstellen, um so noch gezielter zu suchen und Analysen durchführen zu können.
Tatsächlich sind die Datenquellen zur ISS und der Apollo-Ära nur ein kleiner Teil der Daten. Der NASA-Wissensschatz umfasst das Fachwissen und die Erfahrung von Generationen von Astronauten und Ingenieuren. Die Verknüpfung dieser Daten könnte für zukünftige Missionen entscheidend sein, egal ob für die ISS, auf dem Weg zum Mond oder bei der Reise zum Mars. „Ich arbeite vielleicht nicht selbst am nächsten Spaceshuttle mit, doch die Aufgabe Wissen zu managen und unseren Entwicklern bereitzustellen, hilft uns auf lange Sicht, NASAs Mission zu erfüllen und Astronauten ins All und wieder zurück zu bringen.“
*Dirk Möller, Area Director of Sales CEMEA, Neo4j.
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