Im Gespräch mit dem CIO-Magazin erklärt Martin Peuker, IT-Chef der Charité, wo die Reise im Gesundheitswesen hingeht und warum die Branche vor einem Paradigmenwechsel steht. [...]
Die Pandemie hat 2020 jedem viel abverlangt. Hat sie aber auch Dinge ins Rollen gebracht?
Martin Peuker: Die Corona-Krise hat den kulturellen Wandel in der Charité und besonders in der IT positiv beeinflusst und beschleunigt. Exemplarisch steht dafür die Entwicklung der Corona-App, die eine Entscheidungshilfe liefert, ob ein COVID-Test wegen möglicher Symptome sinnvoll ist. Sie wurde zur Vermeidung einer Überlastung der Ambulanzen entwickelt.
Wie hat sich die Zusammenarbeit dabei geändert?
Martin Peuker: Die Entwicklung der mittlerweile bundesweit genutzten App war zeitkritisch, was zu einem Pragmatismus führte, der wie selbstverständlich in die Nutzung neuer Arbeitsmethoden mündete. Es wurden cross-funktionale Teams, bestehend aus Ärzten, Pflegern und ITlern gebildet. Während der Konzeption wurde die Kundenperspektive gesucht und einfach gehandelt, statt endlos diskutiert. Erste Lösungen waren nicht optimal, aber die Philosophie eines ‚Fail often, but fail early‘ wurde anstandslos adaptiert. Es entstand ein mutiger Umgang mit Fehlern.
Mit welchen Entwicklungen rechnen Sie künftig im Gesundheitswesen?
Martin Peuker: Die erwarteten Veränderungen im Gesundheitswesen sind umfassend und leiten einen weitreichenden Veränderungsprozess ein. Neue datengetriebene Unternehmen verändern den Gesundheitsmarkt sowie die beschleunigte digitale (R)Evolution des Gesundheitswesens. Beide erzeugen Druck auf die IT, weil es ein Ringen auf gleicher Ebene darstellt.
Was genau braucht es für eine radikale Veränderung des Gesundheitswesens in den nächsten Jahren?
Martin Peuker: Weitreichenden Datenaustausch, interoperable Daten, mündige Verbraucher sowie eine Änderung der Verhaltensweisen, denn Verbraucher werden durch digitale Tools beeinflusst. Diese Veränderungen sind nur zu schaffen, wenn wir unser Führungs- und Kulturverständnis nach vorne weiter modernisieren.
Als Universitätsklinikum betreut die Charité nicht nur Patienten, sondern ist auch Bildungs- und Forschungsstätte. Vor welchen Aufgaben steht die IT in diesem Spannungsfeld?
Martin Peuker: Die kulturelle Kernherausforderung der IT ist ein gleichzeitiges Bedienen der hochstandardisierten und auf effiziente Prozesse konditionierten Krankenversorgung einerseits und die auf hohe Freiheitsgrade und Innovationen pochende Forschung und Lehre andererseits. Zusätzlich wird dies durch die Digitalisierung überlagert. Die IT muss also klassisch und modern funktionieren und somit ein zeitgemäßes Two-Speed-IT Konzept ausprägen. Beides muss zusammen funktionieren, sonst funktioniert die Translation nicht.
Was heißt das für die Arbeitsorganisation und Führung?
Martin Peuker: Bisher hat sich die IT eher am Führungsmodell der Klinik orientiert: hierarchisch, wenig fehlertolerant, stark prozessual, mit dem Effekt, dass wir zwar hochperformant und -verfügbar sind, aber wenig Kreativität und Agilität zulassen. Der Anstoß zum Wandel kommt ganz besonders aus der Forschung, aber auch zunehmend aus der Klinik.
Was bedeutet das konkret für Ihre Rolle?
Martin Peuker: Aufgabe des CIO ist es jetzt, diesen Wandel nicht nur zuzulassen, sondern ganz bewusst voranzutreiben, mit dem Ziel, dass die modernen Arbeitsweisen aus Forschung und Lehre auch in der IT und idealerweise bei den Kunden der IT Einzug halten.
Warum ist gerade der Bereich Forschung und Lehre so modern?
Martin Peuker: Weil er von jungen Leuten getrieben ist. Daher muss die IT auch mitberücksichtigen, dass sie Enabler der digitalen Transformation ist – Stichwort Big Data oder Edge Computing – und dass sie selbst von der digitalen Transformation betroffen ist und ihre Wertschöpfung etwa via Cloud Computing digitalisiert.
Robuste IT-Strukturen
Welchen Beitrag leistet Ihre IT-Organisation, um die Innovationsprozesse im Unternehmen voranzubringen?
Martin Peuker: Zum einen durch die Unterstützung der Organisations- und Prozessentwicklungen: Die IT-Organisation ist umfassend in die Entwicklung der Gesamtstrategie der Charité eingebunden. Dabei ist die IT aufgrund ihrer Erfahrungen im Change-Management, ihrer Zertifizierung nach 9001:2015 und der Ausprägung ihrer Two-Speed-IT – das heißt robuste IT-Strukturen im Bereich der bekannten Best-Proven-Practice und Bau von ‚IT-Schnellbooten‘ im Bereich von ‚Emerging Practices‘ – federführend bei der strukturellen Anpassung der Charité an neue digitale Prozesse und ihrem Weg durch die digitale Transformation.
Und zum anderen?
Martin Peuker: Durch den inhaltlichen Quantensprung zur ‚personalized medicine‘. Wichtiger als die Beteiligung an diesen eher inkrementellen Veränderungsprozessen ist die aktive Steuerung der grundsätzlich neuen Positionierung technologischer Lösungsansätze der Charité. So bereiten sich weltweit alle Gesundheitssysteme auf die digitale Transformation vor. Hierbei geht es nicht mehr nur um den Austausch von Behandlungsergebnissen in Form von Dokumenten oder fragmentierten Dateninseln, sondern zunehmend um die gemeinsame Nutzung großer Mengen strukturierter Daten.
Wo liegen da die größten Herausforderungen?
Martin Peuker: In der Datenhaltung, die derzeit nicht auf die Anforderungen der algorithmenbasierten, digitalisierten Medizin ausgerichtet ist und auch starke KI-Ansätze nicht wirklich stützen kann.
Welche Rolle spielt dabei Ihre Health Data Platform (HDP), die am Krankenbett erhobene Daten mit denen aus der Grundlagenforschung verknüpft?
Martin Peuker: Die HDP ist ein erster Schritt, um hier eine neuartige Ausrichtung vorzubereiten. Diese gilt es durch Integration von umfassenden, aktuellen und einheitlichen Daten sowie der dafür benötigten digitalen Werkzeuge zur Einführung eines stringenten Wissenskreislaufs von Forschungsergebnissen zu Heilbehandlungen (translationale Forschung) fortzusetzen. Die IT wird sich dafür einsetzen, die ganzheitliche und abgestimmte medizinische IT-Infrastruktur zu erweitern, um langfristig und nachhaltig Innovationen und Marktmechanismen zu begünstigen. Nur so kann letztlich der behandelnde Arzt in seiner individuellen Patientenbetreuung sinnvoll und dauerhaft gefördert werden.
Health Data Platform (HDP) Über die HDP werden Daten, die am Krankenhausbett erhoben werden, möglichst schnell mit Daten aus der Grundlagenforschung, besonders in der Genom-Analyse, verknüpft. Daraus soll ein Mehrwert für die Patienten gewonnen werden. Zudem geht es auch darum, Daten aus der Behandlung über pseudonymisierte oder anonymisierte Algorithmen der Grundlagenforschung zur Verfügung zu stellen. |
Das Gesundheitswesen steht also vor einem komplett neuen Kapitel mit Hilfe der IT?
Martin Peuker: Der Paradigmenwechsel von einer hypothesengetriebenen zu einer datengetriebenen medizinischen Behandlung ist das Fundament der fortschreitenden personalisierten Medizin, für welche die IT mit Hilfe der Verbindung klinischer Routinedaten mit allen vorhandenen Datenquellen von der Genomik bis hin zu lebensstil-relevanten Faktoren und Umwelteinflüssen sowie intelligenten Big Data Analyse-Tools und entsprechenden IT-Infrastrukturen ein längst überfälliges Grundlagenmodel liefern kann.
*Karen Funk: Schreibt und recherchiert Führungs- und Karrierethemen – in der Redaktion von CIO-Magazin und COMPUTERWOCHE. Ihre Schwerpunkte sind CIOs, IT-Karrieren und -Nachwuchs, Führung, New Work und Diversity. Wenn sie nicht gerade Projekte wie den „CIO des Jahres“ betreut. Setzt sich für mehr Frauen in der IT ein.
Be the first to comment