CIO Walter Grüner migriert den gesamten IT-Stack von Covestro auf AWS und Azure. Dabei nutzt er bewusst wenige Dienstleister für das Cloud-Management. [...]
„Als ich zu Covestro kam, hatte das Unternehmen etwa zwei Jahre Digitalisierungsrückstau,“ berichtet Walter Grüner, CIO des Kunststoffherstellers. Nach dem Carve-Out vom Bayer-Konzern im Jahr 2015 musste die IT-Abteilung eigene Netzwerke, Systeme und Lieferantenketten aufbauen. Digitalisierungsprojekte hatten vorerst weniger Priorität.
Als die Abspaltung abgeschlossen war, zog die Geschäftsleitung nach und verankerte Digitalisierungsmaßnahmen als Ziel in der Geschäftsstrategie. Grüner sollte bei seinem Antritt Mitte 2019 die IT fit für diese Ambitionen machen. „Wir erarbeiteten eine zweigleisige IT-Strategie,“ berichtet der Manager. Zum einen sollten die Voraussetzungen für eine zukunftsfähige IT-Landschaft geschaffen werden. Zum anderen galt es, von dieser Basis aus die Digitalisierung von Covestro federführend zu gestalten.
SD-WAN und Microsoft 365
„Wir wollten bei der IT-Modernisierung so weit springen, dass wir nicht gleich wieder aufholen müssen, wenn wir fertig sind,“ beschreibt Grüner seinen Ansatz. Als erstes Projekt sollte das Netzwerk neu aufgestellt werden. Die bestehende Architektur war alt und arbeitete beispielsweise noch mit eigenen Internet-Breakouts pro Region. Diese ersetzte das Team um Grüner durch ein SD-WAN-Netzwerk, das an allen Standorten weltweit von der Telekom ausgerollt wurde.
Sämtliche Collaboration-Lösungen konsolidierte die IT auf Microsoft 365 in der Azure-Cloud. Grüner: „Jeder unserer internen und externen User auf der ganzen Welt arbeitet heute komplett auf Office 365.“ Das Unternehmen mit rund 16.500 Mitarbeitenden weltweit lasse den gesamten Arbeitsplatz über die Microsoft-Suite verwalten, inklusive virtueller Whiteboards und Telefonie via Teams. „Wir haben uns auch für Microsoft entschieden, weil sie in all unseren Regionen einschließlich China das liefern können, was wir brauchen,“ so der CIO.
Wie in vielen anderen Unternehmen war die Corona-Pandemie dabei ein Katalysator. „Als wir Anfang 2020 die ersten Wehen der Krise bemerkt haben, zogen wir einen Teil der mittelfristig geplanten Einführung des digitalen Arbeitsplatzes vor,“ berichtet Grüner. Dadurch konnten beim ersten Lockdown alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter binnen 36 Stunden remote arbeiten.
Alles in die Public Cloud
Die gesamte restliche IT sollte in die Cloud verlagert werden. Bisher arbeitete Covestro mit dem Hosting-Service eines großen deutschen Telekommunikationsanbieters und Citrix. „Dabei ging viel Geschwindigkeit verloren. Wenn wir beispielsweise einen Server brauchten, hatten wir den in zwei Monaten – oder auch nicht,“ erinnert sich Grüner. In einem Auswahlverfahren entschied sich der CIO für Amazon Web Services als neuen Provider. „Ähnlich wie Microsoft kann AWS unsere weltweiten Regionen abdecken, das schaffte der dritte große Cloud-Hyperscaler beispielsweise nicht,“ so der Manager.
Bis Ende 2022 soll die Migration abgeschlossen und die letzten Server abgeschaltet sein. Dann werden alle Systeme, inklusive Compute, AI-, ML- und Analytics-Plattformen sowie etwa CAD-Anwendungen in der Public Cloud laufen. Einen großen Schritt auf dieser Reise machte das Team an einem Wochenende Mitte April 2021. Die gesamte SAP-Implementierung wurde auf AWS verschoben. „Damit haben wir etwa die Hälfte der IT in die neue Umgebung verlagert, und die Systeme laufen ohne Probleme,“ sagt der CIO.
Kein Service-Layer
Sowohl die Cloud-Migration als auch den Betrieb in der Cloud will Grüner mit wenigen Management-Dienstleistern stemmen. „Hätten wir einen zusätzlichen Service-Layer zwischen uns und der Cloud eingezogen, würden wir wieder Geschwindigkeit verlieren,“ erklärt der IT-Chef. Daher laufe die Covestro-IT nativ auf der AWS-Plattform.
Zur Unterstützung arbeitet die Unternehmens-IT mit dem Partner Lemongrass aus dem AWS-Ökosystem zusammen. Der Dienstleister ist darauf spezialisiert, SAP auf der Cloud-Plattform zu betreiben. Grüner: „Wir arbeiten gemeinsam mit Lemongrass an Aufbau, Migration und Betrieb der Cloud und steuern sie direkt aus unserer IT heraus.“ So seien zum einen saubere Service-Prozesse sowie kurze Entscheidungswege gewährleistet. Zum anderen finde ein intensiver Wissensaustausch mit dem Partner statt.
„Die Entscheidung für einen Cloud-Hyperscaler ist immer auch eine Entscheidung für dessen Ökosystem,“ erklärt der CIO. Im Gegensatz zu klassischen Hosting-Anbietern fänden sich im offenen Umfeld der Public-Cloud-Anbieter viele innovative Partner, die die jeweilige Plattform um Impulse, Know-how und Services erweitern.
„Die Regionalisierung von AWS sorgt dafür, dass alle unsere Daten dort liegen können, wo sie liegen müssen,“ so Grüner. Was die Security anbelangt, sei die Cloud durch Mikrosegmentierung und Verschlüsselung sogar sicherer als der alte Hosting-Provider. „Man muss wissen, was man tut, dann ist die Cloud so sicher, wie es momentan möglich ist,“ urteilt der CIO.
Buy-in durch Mehrwerte
Dieses Wissen baut Grüner im eigenen Unternehmen auf. Neben dem Austausch mit Lemongrass setzt der IT-Leiter auf Trainings der Mitarbeiter. Bisher seien drei Viertel der IT-Belegschaft in Cloud-Grundlagen geschult. Zudem habe Covestro mittlerweile über 30 ausgewiesene Fachleute für AWS.
Darüber hinaus führte die IT neue Arbeitsweisen ein. Grüner: „Cloud ohne neue Teamstrukturen funktioniert nicht.“ Deshalb formte die Abteilung cross-funktionale Produktteams und bildete Scrum-Master sowie AWS-Architekten aus. „Bei so großen Veränderungen ist es ganz normal, dass anfangs nicht alle Kolleginnen und Kollegen enthusiastisch, sondern einige durchaus verhalten eingestellt sind, “ so der CIO.
Diese Mitarbeiter holt Grüner über ein Wertversprechen ab: Jeder neue Skill und jede neue Zertifizierung im Cloud-Umfeld werde auch künftig einen hohen Stellenwert in der IT haben. Zudem sei die Arbeit mit neuen Technologien an sich schon spannend. Wichtig sei dabei, alle abzuholen. Grüner: „Allen Kolleginnen und Kollegen, unabhängig von Alter und bisheriger Aufgabe, wurde zugesichert, dass sie in unserer neuen IT-Welt einen Platz haben werden, wenn sie wollen.“
Change Management braucht es nicht
Einen Großteil der Cloud-Migration sowie das gesamte Onboarding von Lemongrass hat das Team um Grüner remote gestemmt. „Ich hatte bis heute kein einziges persönliches Meeting mit unserem Partner,“ so der IT-Chef. Dennoch habe alles funktioniert und der Betrieb laufe reibungslos.
„Vor der Pandemie hätte ich für so ein Vorhaben ein umfangreiches Change-Projekt ins Leben gerufen,“ berichtet Grüner. Stattdessen habe sein Team nun alles Nötige einfach gemacht und es habe funktioniert: „Von daher kann mir keiner mehr erzählen, dass er für ähnliche Projekte unbedingt ein Change Management braucht.“
Der IT-Chef will jetzt aufgrund dieser Erfahrungen herausfinden, wie die IT zukünftig arbeiten soll. „Wenn im letzten Jahr trotz Pandemie alles so gut funktioniert hat, sehe ich keinen Grund, zur Arbeitsweise vor Corona zurückzukehren,“ so Grüner. Man sei zwar noch in der Findungsphase, aber die digitalen Voraussetzungen für das „New Normal“ seien geschaffen.
Analytics, AI und Digitalverantwortung
In den kommenden Monaten will Grüner den Ausbau der IT fortsetzen. Neben der fortlaufenden Cloud-Migration bis 2022 stehen auch Digitalprojekte in den Startlöchern. Die Analytics-Plattform in Kombination mit künstlicher Intelligenz soll für Innovationen genutzt werden: „Wir haben beispielsweise die Sensordaten zu Ventilen, Druck und Konzentrationen aus den Fertigungsanlagen, jetzt wollen wir neue Use-Cases entwickeln, um sie noch besser zu nutzen.“
Die Ideen für solche Projekte kommen zum Großteil aus der Belegschaft. Covestro hat Governance-Strukturen eingeführt, um sie „bottom up“ zu evaluieren. Über verschiedene Gremien gelangen die Vorschläge in die Führungsebene, die sie nach Machbarkeit und Mehrwert für das Unternehmen bewertet. Anschließend werden die vielversprechendsten Projekte in die Digitalisierungsstrategie aufgenommen und umgesetzt.
Die IT-Modernisierung wirkt sich auch auf die Organisation der Geschäftsführung aus. Ab 1. Juli 2021 wird Grüner neben der IT-Leitung auch die Digitalverantwortung übernehmen. „Immer mehr Industrien bemerken, dass IT und Digitales zusammengehören. Die tollste App nutzt nichts, wenn die Systeme im Backend nicht korrekt integriert sind,“ sagt der Manager.
Daneben soll das Standing seiner Abteilung noch weiter verbessert werden. In der Covid-Krise hätten die IT-Kollegen aus dem gesamten Unternehmen viel Lob bekommen. Grüner: „Die Frage lautet: Was machen wir jetzt mit den Lorbeeren? Wenn die CIO-Funktion jetzt mehr Vertrauen genießt, kann sie auch mehr gestalten?“ Allein aus der IT heraus werde das nicht funktionieren. Der Konzern müsse sich als Ganzes weiterentwickeln. Mit der neuen IT-Landschaft, agilen Arbeitsweisen und cross-funktionalen Teams habe man eine gute Ausgangsbasis geschaffen.
*Jens Dose ist Redakteur des CIO Magazins. Neben den Kernthemen rund um CIOs und ihre Projekte beschäftigt er sich auch mit der Rolle des CISO und dessen Aufgabengebiet.
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