Noch vor zehn Jahren bestand die Software eines Autos aus rund zehn Millionen Codezeilen. Inzwischen sind es 100 Millionen. Das Fahrzeug von heute ist ein kleines Rechenzentrum. [...]
Interview mit Herr Stefan Höchbauer
„Die Kundenerwartungen steigen über den gesamten Lebenszyklus des Produkts hinweg“
Die Digitalisierung betrifft alle Bereiche des Lebens – und macht auch vor der Automobilbranche nicht halt. Im Gegenteil: Ob Autobauer, Zulieferer oder Händler – alle Beteiligten der automobilen Wertschöpfungskette stehen vor neuen Herausforderungen.
Worin diese bestehen, darüber spricht com! professional mit Stefan Höchbauer. Er ist Executive Vice President und CEO für Deutschland, Österreich, Schweiz und Osteuropa beim CRM-Spezialisten Salesforce.
com! professional: Herr Höchbauer, viele Automobilhersteller arbeiten mittlerweile an eigenen Betriebssystemen für Fahrzeuge. Müssen wir Fahrzeuge mittlerweile von der Software her denken? Oder anders ausgedrückt: Werden Automobilhersteller und ihre Zulieferer zunehmend zu IT-Konzernen?
(Quelle: Salesforce / Raimar von Wienskowski)Stefan Höchbauer: Wie alles und jeder befindet sich die Automobilbranche mitten im digitalen Wandel, der in der Industrie von mehreren Triebfedern vorangebracht wird. Da ist natürlich die Umstellung auf die E-Mobilität, die das ganze Ökosystem fundamental beeinflusst, von Produktionsabläufen bis hin zu Lieferanten- und Kundenbeziehungen.
Plus neue Geschäftsmodelle, die Mehrwertdienste entlang des gesamten Ownership-Lifecycles ebenso umfassen wie den Einstieg der Autobauer in den D2C-Vertrieb (Direct to Customer). Überall dort bilden IT und Daten das Fundament.
Volkswagen etwa hat ja bereits sehr klar seine Pläne und Bestrebungen formuliert, sich zu einem der größten europäischen Software-Unternehmen zu entwickeln und das Feld nicht mehr allein von Zulieferern bespielen zu lassen.
com! professional: Mit der zunehmenden IT im Auto sind auch immer mehr neue Dienste möglich. Sind Daten und Dienste für die Automobilbranche das neue Öl – quasi Bytes statt Benzin?
Höchbauer: Diese Analogie passt ganz gut. Die Kundenerwartungen steigen und zwar über den gesamten Lebenszyklus des Produkts hinweg.
Die Kundenbeziehung endet ja nicht mit dem Verkauf – wir sprechen über die Möglichkeiten, die ein vernetztes Auto bietet, und aus Herstellersicht über die Monetarisierungsmöglichkeiten wie Features on Demand. Damit wird die Kundenbeziehung nicht nur beim Kauf, sondern an allen Kontaktpunkten zum Erlebnis.
All das erfordert Daten und deren smarte Analyse. Dazu kommt noch ein weiterer Aspekt: Um die Bedürfnisse ihrer Kund:innen bestmöglich zu erfüllen – gerade angesichts der aktuellen Herausforderungen –, benötigen die Hersteller den Überblick über ihre gesamte Wertschöpfungskette.
Das schließt insbesondere die Zusammenarbeit mit Partnern und Zulieferern ein. Nur wenn alle Beteiligten noch enger zusammenzurücken, die Lieferketten gemeinsam betrachten und eine einheitliche Sicht haben, können sie schnell auf Probleme reagieren, und zwar am besten, bevor sie eintreten.
com! professional: In welchem Bereich wird denn der wesentliche Teil der Wertschöpfung von Automobilherstellern in Zukunft liegen – in der Produktion eines Fahrzeugs oder in neuen Geschäftsmodellen?
Höchbauer: Nach wie vor wird die Produktion eine Rolle spielen, wobei Lieferengpässe und steigende Einkaufs- und Energiepreise Margen negativ beeinflussen. Nicht nur vor diesem Hintergrund, sondern vor allem auch angesichts immer höherer Kundenerwartungen sind kundenzentrierte, digitale Mehrwertservices nicht mehr nur als Option zu sehen, sondern schlichtweg ein Muss.
Dabei müssen sich solche Angebote nicht allein auf das Erlebnis im Fahrzeug beschränken, sondern können sich über den gesamten Nutzungskontext erstrecken.
„Jahrzehntelang gehörte die Kundenbeziehung den Autohändlern. Diese Gewissheit schwindet immer mehr.“
Stefan Höchbauer – Executive Vice President und CEO DACH und Osteuropa bei Salesforce
Ford zeigt das in den USA beispielsweise mit „VIIZR“, dem mobilen Büro für Handwerker auf Basis der Salesforce-Plattform. Damit generiert Ford Pro neue Revenue-Ströme aus digitalen Services und stärkt die Kundenbindung, weil es seinen Kund:innen einen echten Nutzen für die Arbeit liefert.
com! professional: Sie haben den Trend zu D2C angesprochen. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf die Autohändler? Haben sie in Zeiten von D2C überhaupt noch eine Zukunft?
Höchbauer: Jahrzehntelang gehörte die Kundenbeziehung den Autohändlern. Diese Gewissheit schwindet immer mehr und D2C ist Ausdruck dieser Entwicklung. Umfragen zeigen: Kund:innen kaufen nach wie vor am liebsten im Autohaus, gerade in jüngeren Altersgruppen schwingt das Pendel jedoch immer stärker in Richtung Online beziehungsweise D2C.
Für viele ist heute sogar eine Kaufentscheidung ohne Probefahrt denkbar. Für die Zukunft der Autohäuser ist also ebenso wie für die Hersteller das Kundenerlebnis entscheidend – aber keineswegs allein auf den persönlichen Kontakt vor Ort beschränkt, sondern ebenfalls im digitalen Bereich: von der Webseite über soziale Medien bis hin zu innovativen Kanälen wie Web 3 und Metaverse, Stichwort virtuelle Probefahrt.
Das Auto als Dienstleister
Digitalisierung, Cloud, Dienste – welche Funktionen eines Autos profitieren eigentlich konkret davon?
Mercedes-Benz etwa konzentriert sich auf die folgenden wesentlichen Felder im Fahrzeug: das Infotainmentsystem, das autonome Fahren, Drive & Charging sowie Body & Comfort, also Komfortfunktionen.
„Im Moment ist für den Kunden das Infotainmentsystem am offensichtlichsten“, so Magnus Östberg, „aber die anderen Domänen werden immer wichtiger werden und bringen das Potenzial, ganz neue erlebbare Funktionen anbieten zu können.“
Vor allem die Software ermöglicht komplett neue Dienste, die früher nicht denkbar waren. Beispiele sind das Starten der Standheizung vom Smartphone aus beliebiger Entfernung aus oder das Initiieren der Navigation mit einem einfachen Satz wie „Hey Auto, such bitte den nächsten Supermarkt“.
Dienste hin oder her – Mercedes-Benz zum Beispiel wird laut Magnus Östberg auch zukünftig den wesentlichen Teil seiner Wertschöpfung im Kerngeschäft erbringen – also in der Herstellung und dem Vertrieb von Automobilen sowie dem sogenannten Aftersales.
„Nichtsdestotrotz leisten auch neue Geschäftsmodelle einen wachsenden Beitrag zu den Unternehmensergebnissen“, betont Östberg.
Der Fahrzeughersteller habe sich beispielweise das Ziel gesetzt, bis 2025 eine Milliarde Euro mit digitalen Diensten und On-Demand-Ausstattungen zu erwirtschaften. Darüber hinaus hat Mercedes-Benz mit dem Beitritt zum Aura Blockchain Consortium den Grundstein für den Einstieg in den schnell wachsenden NFT-Markt gelegt.
Eigene Anwendungen seien bereits in Planung. NFT-Kollektionen in Fahrzeuge zu integrieren und diese in einen personalisierten, immersiven Kunstraum zu verwandeln, der durch Licht und Klang bereichert wird, sei eine weitere strategische Ebene für das Unternehmen.
Wie solche digitalen Dienste und On-Demand-Ausstattungen aussehen, zeigt zum Beispiel BMW. In Modellen des bayerische Autobauers mit dem digitalen Dienst Connected Drive lassen sich bestimmte Funktionen per Mausklick freischalten – im Abo-Modell oder per Einmalzahlung.
Eine bereits ab Werk verbaute Sitzheizung lässt sich für 17 Euro pro Monat oder gegen eine Einmalzahlung von knapp 400 Euro aktivieren. Mit einem ab Werk verbauten Sport-Fahrwerk ist man gegen eine Einmalzahlung von 450 Euro fortan sportlich unterwegs.
Ähnlich macht es der E-Auto-Hersteller Tesla. Er verbaut in allen aktuellen Modellen das Fahrassistenzsystem Autopilot. Wer es nicht schon beim Kauf mitgeordert hat, kann es jederzeit nachträglich bestellen. Tesla installiert dann automatisch die notwendige Software auf dem Fahrzeug.
Für Fahrzeugbauer kann es grundsätzlich sinnvoll sein, bestimmte Funktionen wie eine Sitzheizung in allen Varianten eines Modells zu verbauen. Das vereinfacht die Produktion deutlich. Und der Kunde kann sich auch nach dem Kauf noch überlegen, ob er eine bestimmte Sonderausstattung doch haben möchte.
Mit dieser Vorgehensweise sind BMW und Tesla nicht alleine. Nach einem Bericht im „Handelsblatt“ plant zum Beispiel der Opel-Mutterkonzern Stellantis, zu dem auch die Marken Fiat Chrysler und die französische PSA-Gruppe mit Peugeot und Citroen gehören, eine Software-Großoffensive.
Bis Ende des Jahrzehnts will man jährlich 20 Milliarden Euro durch Software-gestützte Produkte und Abonnements verdienen.
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