Seit dem 28. Juni 2025 gilt das BaFG bzw. das BFSG. Ist es nur eine neue bürokratische Hürde oder eine Chance für die IT-Branche, echte digitale Inklusion zu schaffen? Ein Interview mit Prof. Dr. Iris Lorscheid von der University of Europe for Applied Sciences (UE Berlin). [...]
Seit dem 28. Juni 2025 ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) (in Österreich das Barrierefreiheitsgesetz, BaFG) in Kraft. Es verpflichtet Unternehmen und öffentliche Institutionen, ihre digitalen Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten. Doch was bedeutet diese neue Regulierung für die Praxis? Geht es dabei lediglich um die Erfüllung gesetzlicher Mindestanforderungen oder steckt dahinter eine Chance für echte Innovation und Inklusion? Und welche Rolle spielen dabei Technologien wie KI oder 5G? Prof. Dr. Iris Lorscheid von der University of Europe for Applied Sciences (UE Berlin) beleuchtet im Interview mit ITWELT.at die zentralen Herausforderungen und Chancen, die das neue Gesetz mit sich bringt.
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz bzw Bafrierefreiheitsgesetz ist seit dem 28. Juni 2025 in Kraft. Wie bewerten Sie die Bedeutung dieses Gesetzes für die Praxis der digitalen Barrierefreiheit und welche Veränderungen erwarten Sie über die offensichtlichen technischen Anpassungen hinaus?
Ich habe schon lange den Wert digitaler Barrierefreiheit erkannt, gerade weil sich im digitalen Raum Barrieren in großem Umfang und skalierbar abbauen lassen. Ob durch unterschiedliche Darstellungsoptionen oder mithilfe von KI, etwa zur Übersetzung komplexer Sprache in einfache Sprache, die Möglichkeiten sind vielfältig. Das Gesetz stärkt nun diese Entwicklung und treibt die digitale Inklusion weiter voran. Zugleich erwarten wir eine größere Motivation für neue Innovationen, etwa durch (Standard-)Lösungen, die Unternehmen bei der Umsetzung barrierefreier digitaler Produkte unterstützen.
Herausfordernd wird dies vor allem für kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die häufig nicht über die finanziellen Mittel oder die organisatorischen Strukturen verfügen, um den zusätzlichen Aufwand zu bewältigen. Für alle Beteiligten gilt es nun, bestehende Systeme zu überprüfen und Prozesse anzupassen – ein aufwändiger Schritt, der mit ungeplanten Kosten verbunden sein kann. Auch auf behördlicher Seite braucht es entsprechende Ressourcen, um das BFSG wirksam durchzusetzen.
Können Sie Beispiele nennen, wo gesetzliche Vorgaben nicht ausreichen, um echte Teilhabe zu ermöglichen?
Die neue gesetzliche Vorgabe bedeutet eben mehr Regulierung und kann dazu führen, dass dies als anstrengend empfunden wird und Unternehmen sich ganz zurückziehen oder gewisse geplante digitale Entwicklungen aufhalten. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass das Erfüllen der Mindestanforderungen als ausreichend betrachtet wird – nach dem Motto: ‚Pflicht erfüllt, mehr ist nicht nötig.‘ Das kann Innovation und den weitergehenden Abbau von Barrieren ausbremsen. Zudem entstehen je nach Einschränkung und Nutzungssituation individuelle und teils sehr komplexe Bedarfe, die durch das BFSG nicht vollständig abgedeckt werden. Diese müssen weiterhin gesondert betrachtet und adressiert werden, um echte Teilhabe zu ermöglichen.“
Welche zentralen Herausforderungen sehen Sie aktuell bei der Umsetzung digitaler Barrierefreiheit in Unternehmen und öffentlichen Institutionen? Und wo beobachten Sie die größten Wissens- oder Kompetenzlücken?
Eine zentrale Herausforderung besteht aktuell in der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben, sowohl des BFSG als auch bereits bestehender branchenspezifischer Regelungen. Für viele Unternehmen und Institutionen ist es schwierig, hier den Überblick zu behalten. Hinzu kommt: Digitale Barrierefreiheit ist kein einmaliges Projekt, sondern erfordert kontinuierliche Anpassungen, sowohl an neue technische Möglichkeiten als auch an die sich wandelnden Bedürfnisse der Nutzer und Nutzerinnen. Dabei muss stets der individuelle Kontext von Einschränkungen berücksichtigt werden. Ein weiteres zentrales Thema ist das technische Know-how: Viele stellen sich die Frage, welche barrierefreien Lösungen überhaupt zur Verfügung stehen und wie sich diese effizient in bestehende Systeme und Prozesse integrieren lassen. Hier besteht nach wie vor großer Informations- und Schulungsbedarf.
Gibt es internationale Unterschiede, die Sie besonders prägend finden?
Viele Länder sehen Inklusion und Barrierefreiheit als Gewinn, nicht als Einschränkung. Digitale Barrierefreiheit kann den Komfort für alle Nutzer und Nutzerinnen erhöhen: leichte Navigation, leichte Sprache, alternative Art der Bedienung – das kann die Interaktion mit dem digitalen Produkt für alle verbessern. USA und GB gelten hier als Vorreiter und sehen, dass Inklusion auch echten Fortschritt für alle bedeutet. Japan ist Vorreiter in der Inklusion für eine alternde Gesellschaft.
Welche Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Österreich sehen Sie, um digitale Barrierefreiheit im DACH-Raum nachhaltig zu stärken?
In beiden Ländern gelten vergleichbare gesetzliche Rahmenbedingungen auf Grundlage des European Accessibility Act. Auch die nationalen Gesetze basieren auf denselben Prinzipien – entsprechend ähneln sich die Herausforderungen. Daraus ergeben sich Synergien: Es können gemeinsam technische Lösungen entwickelt und Know-how geteilt werden. So können beide Länder bei der schnelleren Entwicklung profitieren. Digitale Produkte sind ohnehin grenzüberschreitend nutzbar und nicht an Landesgrenzen gebunden.
Österreich ist Vorreiter in der 5G-Abdeckung im DACH Raum, auch im Bereich E-Government sind sie uns Deutschen mitunter voraus. Sie sind häufig schneller in der Umsetzung im Bereich digitale Verwaltung, was sicher auch an der kleineren Größe liegt. Deutschland ist dafür im Bereich der Digitalisierung der Industrie stärker aufgestellt bzw. hat mehr Unternehmen, die hier als Vorbild dienen können. Auch im Bereich Künstliche Intelligenz hat Deutschland starke Institute und Unternehmen, die in der gemeinsamen Entwicklung von digitalen barrierefreien Lösungen für Österreich von Nutzen sein können.
Wie lassen sich aus Ihrer Sicht technische Standards und gesellschaftliche Teilhabe sinnvoll miteinander verbinden?
Technische Standards bilden den Rahmen, innerhalb dessen gesellschaftliche Teilhabe möglich wird. Doch damit Teilhabe wirklich gelingt, braucht es die aktive Mitgestaltung durch die Menschen, die die Technologie letztlich nutzen. Nur so kann bedarfsgerecht und praxisnah entwickelt werden. Über gesellschaftliche Teilhabe erhalten wir Zugang zu den tatsächlichen Bedürfnissen, was zu robusteren, inklusiveren Lösungen führt. Bereits existierende barrierefreie Produkte zeigen außerdem, wie gemeinsame digitale Plattformen Menschen miteinander verbinden können, unabhängig von individuellen Einschränkungen. Auf diese Weise entsteht echter Austausch und soziale Teilhabe im digitalen Raum.
Wie können Data Science und digitale Geschäftsmodelle dazu beitragen, Barrierefreiheit nicht nur technisch, sondern auch gesellschaftlich voranzubringen? Welche innovativen Ansätze oder Projekte haben Sie in diesem Kontext kennengelernt?
Data Science kann einen wichtigen Beitrag zur Barrierefreiheit leisten. Durch die Auswertung von Nutzungsdaten lassen sich Schwachstellen in digitalen Anwendungen identifizieren, etwa durch Muster im Nutzerverhalten oder im Feedback. So können digitale Produkte gezielt verbessert werden. Gleichzeitig ermöglicht Data Science die personalisierte Anpassung von Inhalten an individuelle Bedürfnisse, ein wichtiger Schritt zu echter Teilhabe.
Auch KI-basierte Systeme spielen eine zentrale Rolle: So können KI-Berater beispielsweise Menschen mit Behinderung durch komplexe Prozesse begleiten, Informationen verständlich aufbereiten und damit bürokratische Hürden abbauen. Das fördert die gesellschaftliche Teilhabe auf ganz neue Weise. Ein innovativer Ansatz war unser Projekt ‚5G Inklusion 4.0‘. Darin haben wir untersucht, wie digitale Assistenzsysteme – auf Basis von 5G-Vernetzung – Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in ihrem Arbeitsalltag unterstützen können. Der Fokus lag auf Arbeitsabläufen in Bereichen wie manueller Montage oder Verpackung. Das Projekt wurde in enger Zusammenarbeit mit den Iserlohner Werkstätten und der Gesellschaft für Bildung und Beruf umgesetzt.
Welche Bedeutung messen Sie der Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen im digitalen Raum bei – etwa in der Entwicklung von Produkten oder im Marketing?
Unsere Welt findet zu großen Teilen auch auf der digitalen Seite statt. Damit ist die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen dort von zentraler Bedeutung. Es geht um gleichberechtigten Zugang zu Information, Kommunikation, Dienstleistungen, Verwaltungsprozessen und Handel. Für eine selbstbestimmte Teilhabe in der Gesellschaft und das selbstständige alltägliche Leben braucht es einen barrierefreien Zugang in die digitale Welt. Gleichzeitig schafft digitale Barrierefreiheit auch Zugänge zur Arbeitswelt sowie zu Aus- und Weiterbildungsangeboten.
Wo sehen Sie die größten Missverständnisse oder Mythen rund um digitale Barrierefreiheit, insbesondere im Management digitaler Projekte und wie kann hier Aufklärung gelingen?
Ein häufiges Missverständnis rund um digitale Barrierefreiheit, ist die Annahme, dass sie sich ausschließlich an Menschen mit schweren Behinderungen richtet. Mit guter Planung und durchdachtem Design lassen sich barrierefreie Lösungen gestalten, die ästhetisch ansprechend und funktional zugleich sind. Tatsächlich profitieren sehr viel mehr Menschen davon, auch jene mit altersbedingten, temporären oder situationsabhängigen Einschränkungen. Ich selbst brauche barrierefreie Systeme für die einsetzende Weitsicht und ärgere mich über zu kleine Schriftgrößen in IT-Systemen wie Mails.
In anderen Situationen können Ton oder Video nicht genutzt werden, etwa in lauten Umgebungen oder bei schlechter Internetverbindung. Barrierefreiheit verbessert die Nutzungserfahrung für alle, sie ist kein Zusatz, sondern ein Qualitätsmerkmal. Und sie geht weit über vergrößerte Schrift hinaus: Es geht um umfassende, zugängliche digitale Lösungen, die niemanden ausschließen. Aufklärung gelingt am besten über konkrete Beispiele, die zeigen, wie barrierefreie Gestaltung in der Praxis aussieht – und wie sie Mehrwert für alle Nutzergruppen schafft.
Welche technologischen Trends sehen Sie in den kommenden Jahren, die das Thema digitale Barrierefreiheit maßgeblich beeinflussen werden, und welche neuen Möglichkeiten oder Herausforderungen könnten sich daraus ergeben?
Ein zentraler technologischer Trend mit großem Einfluss auf die digitale Barrierefreiheit ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz. KI ermöglicht adaptive, personalisierte und flexible Unterstützung und obwohl wir hier erst am Anfang stehen, zeichnen sich bereits enorme Potenziale ab. Auch Technologien wie Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) werden in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen. Ihr Potenzial im Kontext der Barrierefreiheit ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft, insbesondere, wenn sie mit passender Hardware kombiniert werden. Sie könnten zum Beispiel neue Formen der Orientierung, des Lernens oder der Kommunikation eröffnen.
Ein weiteres spannendes Feld sind Home-Systeme, die KI und das Internet of Things (IoT) miteinander verbinden. Sie können barrierearme und zugleich komfortable Lebensräume schaffen, mit Assistenzfunktionen, die Sicherheit erhöhen und Alltagsaufgaben erleichtern. Diese Entwicklungen eröffnen neue Chancen für Inklusion und Selbstbestimmung, bringen aber auch Herausforderungen mit sich: etwa in Bezug auf Datenschutz, ethische Standards und die Notwendigkeit, technologische Lösungen wirklich zugänglich und intuitiv nutzbar zu gestalten.
Welches ist Ihre Vision für einen wirklich barrierefreien digitalen Raum, und welche Schritte sind aus Ihrer Sicht die dringendsten, um dieser Vision näherzukommen?
Auch wenn Barrierefreiheit letztlich allen zugutekommt, möchte ich den Blick bewusst auf Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen lenken. Für sie braucht es neue, zugängliche Kommunikationskanäle, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Ich setze große Hoffnung in technologische Entwicklungen, die solche neuen Wege eröffnen können. Digitale Innovation kann hier Brücken bauen, aber nur, wenn wir auch den nötigen Raum dafür schaffen: Raum für interdisziplinäre Zusammenarbeit, Raum für mutige Ideen und Raum, um neue Ansätze auszuprobieren.

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