Was voll digitalisierte ERP-Systeme von herkömmlichen Produkten unterscheidet, erläutern Karl Gerber und Markus Schindler, Geschäftsführer der Step Ahead GmbH, im folgenden Beitrag. [...]
Als die Marktforscher von Gartner vor beinahe einem Jahrzehnt die „bimodale IT“ propagierten, nannten sie ERP-Anwendungen als Paradebeispiel für langsame und wenig flexible „Systems of Record“. Das war damals korrekt – und gilt heute immer noch. Aber es besteht Hoffnung: Der ERP-Trend des Jahres 2022 heißt Flexibilität.
Genau genommen hat die Digitalisierung den ERP-Sektor noch nicht wirklich erfasst. Die Prozesse sind umständlich und schwer veränderbar. Ständig müssen Dokumente ausgedruckt und archiviert werden. Abläufe spontan zu ändern, ist nahezu unmöglich.
Die jüngsten nennenswerten „Trends“ im ERP-Markt waren In-Memory-Speicher und As-a-Service-Betrieb aus der Cloud. Beide sind längst etabliert. In ihrem Kern folgen die Anwendungen jedoch derselben Systemarchitektur, auf der sie Ende des vergangenen Jahrhunderts entwickelt wurden.
Kein Bedarf für Veränderung?
Laut Statista haben aktuell vier von fünf deutschen Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern ein ERP-System im Einsatz. Einmal eingeführt, werden die Systeme nur im äußersten Notfall verändert oder ausgetauscht. Selbst wenn der Anbieter ein altes Release aus der Wartung nimmt, zerbrechen sich viele Kunden lieber den Kopf, wie sie die Migration auf eine jüngere Version schaffen, als dass sie eine Alternative in Betracht ziehen. Warum sollten die Anbieter also in ein von Grund auf neues Produkt investieren? Schließlich verdienen sie genug Geld mit dem, was sie haben.
Die Anhänglichkeit der Kunden ist verständlich. Vermutlich hat sich die Einführung ihres ERP-Systems seinerzeit über Jahre hingezogen, also Zeit, Geld und Nerven gekostet. Beendet wurde das Projekt dennoch meist mit einem Kompromiss. Eine wirkliche Anpassung an die eigenen Unternehmensabläufe wäre technisch zu komplex und wirtschaftlich nicht tragbar gewesen.
Schon früh hatten sich die meisten Kunden von dem berechtigten, aber in der Vergangenheit absolut unrealistischen Wunsch verabschiedet, Abläufe bei Bedarf „on the flight“ ändern zu können. Selbst hochbezahlte Berater predigten jahrzehntelang: Bleiben Sie im Standard, und passen Sie Ihre Abläufe an die Software an.
Fix ist nix – außer Vertrag und Rechnung
Dabei spricht nichts dagegen, dass ERP-Systeme flexibel sein können – abgesehen von der Architektur der existierenden Produkte, versteht sich. Mit zeitgemäßen Techniken wie verteilten Daten- und Speichersystemen, Objektorientierung oder Blockchain wären flexible und kundenfreundliche Systeme durchaus umsetzbar.
Nur zwei Elemente des ERP-Prozesses sind von Gesetzes wegen reglementiert: der Vertragsabschluss und die Rechnungsstellung. An diesen Punkten muss eine vorgegebene Form eingehalten werden. Aber dazwischen sollte das Unternehmen die Abläufe so handhaben können, wie es seinem Geschäftsmodell am besten entspricht.
Von wegen papierloses Büro
Es kann durchaus vorkommen, dass ein Kunde Menge oder Art der bestellten Ware im letzten Moment ändern will und der Auftrag angepasst werden muss. Konventionelle ERP-Systeme verlangen in diesem Fall eine revisionssichere Dokumentation der Änderung, sprich: komplexe Anpassungen, Schreib-, Druck- und Scan-Vorgänge inklusive Lochen, Abheften und Einlagern.
Eigentlich sollte es doch ausreichen, wenn beide Vertragsparteien ihr Einverständnis bekunden und der aktuelle Stand der Vereinbarung im System hinterlegt ist. Auftrag und Rechnung werden dann automatisch anpasst. Der Kunde kann – nach erteilter Leseberechtigung – via Web auf das System zugreifen, wo jeder Schritt hinterlegt und nachvollziehbar ist. Das aber lässt sich mit den verfügbaren ERP-Produkten nicht bewerkstelligen.
Flexibilität ist der Game Changer
Solche Funktionen sind eben nicht nachträglich einzubauen. Sie müssen von Anfang an geplant und in der Kernarchitektur der Anwendung umgesetzt sein. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Flexibilität besteht darin, die symbiotische Beziehung zwischen Prozess und Objekt zu lösen.
Konventionelle ERP-Anwendungen definieren Standardabläufe und ordnen ihnen die jeweils benötigten Elemente oder Produkte quasi fest zu. Jede Änderung an einem Objekt wirkt sich störend auf das gesamte System aus. De facto ist der Prozess also immun gegen Einflüsse von außen. Das jedoch widerspricht der allgemeinen Auffassung von Digitalisierung.
Mehr Beweglichkeit und ein höherer Automationsgrad im Unternehmen sind hingegen möglich, wenn die entscheidenden Informationen direkt am Objekt gespeichert werden. Ein simples Beispiel sind die „Security-Batches“ für Firmenmitarbeiter. Die Schlüsselkarte „weiß“, welche Unternehmensbereiche für die jeweilige Person freigegeben sind, und kommuniziert selbständig mit den Türen, die ebenfalls wissen, für wen sie sich öffnen dürfen. Auf ähnliche Weise können ERP-Objekte Informationen über ihre weitere Verwendung mit sich führen.
Mit Digitalisierung zur Losgröße 1
Nicht nur im kaufmännischen Umfeld mangelt es den marktgängigen ERP-Systemen an Flexibilität. Starre Softwaresysteme stehen auch der vielzitierten „Industrie 4.0“ im Weg. Zu deren Hauptzielen zählt die kundenindividuelle Massenproduktion, auch „Losgröße 1“ genannt.
Zumindest bei hochpreisigen und langlebigen Anschaffungen mag die Kundschaft nicht mehr mit „08/15“-Artikeln Vorlieb nehmen. Sie bevorzugt Produkte, die sie selbst nach Belieben konfigurieren kann. Und wenn sie während der Produktionsphase die Farbe oder Ausstattung ändern möchte, dürfte das für ein voll digitalisiertes ERP-System kein Problem darstellen.
Weil hier alle Auftragsdaten gemeinsam gespeichert sind, werden Änderungen ad hoc und automatisch durchgereicht – bis in die physische Produktion hinein, die sich stoisch am jeweils aktuellen Informationsstand orientiert. Das Versprechen der vierten industriellen Revolution wird auf diese Weise endlich einlösbar.
*Karl Gerber und Markus Schindler sind Geschäftsführer der Step Ahead GmbH.
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