Digital Lab: Innovation ist mehr als Heureka

Ein Digitallabor ist kein Garant für neue Umsätze. Unternehmer und CIOs berichten, warum der Weg von der Idee zum marktfähigen Produkt so lang ist. [...]

Unternehmer Ulrich Dietz hat das Innovationslabor des Daimler-Konzerns gekauft und baut es zum Startup-Accelerator um (c) 1886 Ventures

Nach 13 Jahren verkaufte der Daimler-Konzern im Dezember 2020 seine Innovationsplattform Lab 1886, aus der Ideen wie Car2go oder die Apps Moovel und MercedesMe hervorgegangen waren. Von Stuttgart, Berlin, Beijing und Atlanta aus hatten mitunter bis zu 180 Beschäftigte an digitalen Mobilitätsservices gearbeitet. Künftig fokussiert sich der Konzern wieder auf sein Kerngeschäft, den Bau luxuriöser Autos, wie von Vorstandschef Ola Källenius gewünscht.

Unternehmer Dietz baut Daimler-Lab zum Startup-Accelerator um

Ist der Fall Daimler also ein Indiz dafür, dass Digitallabore für die Entwicklung innovativer Produkte und Services außerhalb des Kerngeschäftes nicht taugen? Antworten auf diese Frage gibt Ulrich Dietz. Der gestandene Stuttgarter Unternehmer gründete einst den IT-Dienstleister GFT, der 2020 mit knapp 6.000 Beschäftigten gut 444 Millionen Euro erwirtschaftete, und kaufte Daimler das Innovationslabor für einen hohen zweistelligen Millionenbetrag ab.

Dietz weiß, dass es dauert, bis eine Idee zu einem marktreifen Produkt wird: „Es vergehen oft Jahre, bis sich mit diesem Produkt dann nennenswerte Umsätze und Gewinne erwirtschaften lassen. Diese Geduld fehlt in vielen Unternehmen.“ Bei der Gründung eines Labs sei die Euphorie groß, viele sähen nur das Heureka-Momentum: „Da steckten kluge Leute die Köpfe zusammen, und schwuppdiwupp ist ein neues Produkt da oder ein neues Geschäftsfeld erschlossen. Das entspricht aber nicht der Realität.“

Von der Idee zum Startup

In der Realität wurde darum aus dem Daimler-Lab die Firma 1886 Ventures. Der neue Name deutet die veränderte Ausrichtung an. Man agiert als Technologie-Holding, die sich mit Zukunftstechnologien beschäftigt und sie zur Marktreife bringt. „Das Unternehmertum rückt in den Mittelpunkt, der Lab-Gedanke mehr in den Hintergrund“, sagt Ulrich Dietz. Auf seinem Campus in Stuttgart arbeiten 60 Expertinnen und Experten zusammen, die von Daimler, aber auch von GFT kommen.

Das interdisziplinäre Team, das IT- und Mobilitäts-Know-how in sich vereinigt, konzentriert sich auf zwei Schwerpunkte. Zum einen berät es andere Unternehmen in Sachen Ideenfindung und Business Innovation. „Das können Unternehmen sein, die heute schon ein sogenanntes Digital Lab haben, oder auch solche, die eines aufbauen wollen“, erläutert Dietz.

Zum anderen sollen Projekte, die einen zehnstufigen Prozess durchlaufen haben, als eigene Unternehmen ausgegliedert werden. Dieser Prozess beinhaltet unter anderem die Ideenfindung, das Design des Produkts, die Analyse des Markts, die Zusammenarbeit mit ersten Kunden, den Bau von Prototypen oder das Finden externer Investoren. Diese Venture-Phase ist laut Dietz mit einem Startup-Accelerator zu vergleichen.

Die Projekte, die das Team um Dietz aus dem Daimler-Konzern übernommen hat, sollen auch weiter verfolgt und weiterentwickelt werden. Sie befinden sich zum Teil schon in sehr fortgeschrittenen Phasen und auch im Prototypen-Status. Ein Beispiel sind Brennstoffzellen, die aus Wasserstoff elektrische Energie gewinnen und als Antrieb für Kleinfahrzeuge wie Gabelstapler eingesetzt werden können. Für dieses Produkt hat sich das neu gegründete Unternehmen Globe Fuel Cell Systems GmbH bereits formiert.

Auch der Wolfratshauser Maschinenbauer EagleBurgmann hat ein Digitallabor aufgebaut, um unter anderem ein Kundenportal zu entwickeln (c) EagleBurgmann

Erwartungen an Digitallabore sind zu groß

Warum sich einige Unternehmen mit digitaler Innovation nach einem hoffnungsvollen Start im Laufe der Zeit so schwer tun, liegt für Dietz auch an zu großen und zu unterschiedlichen Erwartungen, die mit einer solchen Organisationseinheit verbunden werden: „In der Realität wird oft vergessen, sich anfangs zu fragen: Was will ich mit dem Digitallabor eigentlich erreichen? Wie definiere ich seinen Erfolg?“ Letzterer könne ganz unterschiedlich konnotiert sein. Für die Menschen, die in einem Digitallab arbeiten, stelle oft schon die Idee für ein neues Produkt einen Erfolg dar, während die übrigen Abteilungen des Unternehmens ganz andere Erwartungen hätten.

„Die Organisationsstrukturen und Denkweisen der beiden Seiten sind sehr unterschiedlich, ebenso wie die Geschwindigkeit der Entscheidungen und der nachfolgenden Umsetzung“, resümiert Dietz. Bei 1886 Ventures achten er und seine Führungsmannschaft, zu der auch Susanne Hahn, ehemalige Leiterin des Lab 1886, und Kai Siebert, zuvor Chefcontroller bei Daimler, gehören, auf eine offene Kultur: „Wir fragen nach und bringen unterschiedliche Kompetenzen zusammen: IT-Experten und Mobilitätsexperten befruchten sich gegenseitig.“

EagleBurgmann setzt auf Mix aus erfahrenen und jungen Mitarbeitern

Tobias Lange ist CIO von EagleBurgmann: „Das Lab ist Teil unserer Organisation, auch räumlich nicht zu weit entfernt, da wir die starke Verzahnung mit der Kernorganisation als Grundvoraussetzung für den Erfolg begreifen.“ (c) EagleBurgmann

Bevor der Wolfratshauser Maschinenbauer EagleBurgmann sein Digitallabor einrichtete, achtete CIO Tobias Lange auf bestimmte Parameter. Im Lab setzt das Unternehmen auf einen Mix aus erfahrenen und jungen Mitarbeitern aus unterschiedlichen Disziplinen. „Das Lab ist Teil unserer Organisation, auch räumlich nicht zu weit entfernt, da wir die starke Verzahnung mit der Kernorganisation als Grundvoraussetzung für den Erfolg begreifen“, sagt Lange.Profil von Tobias Lange im CIO-Netzwerk

Die Interdisziplinarität spiegelt sich auch in der Führung wider: Lange leitet mit Matthias Schmitt, der als Vice President Strategic & Digital Business Development die Business-Seite vertritt, die Organisationseinheit. Schmitt ist überzeugt: „Eine möglichst effektive Transformation unserer digitalen Produkt-Roadmap gelingt nur mit einer starken Verzahnung der beteiligten Fachbereiche.“ Produktmanagement, Sales und IT arbeiteten von Anfang an Hand in Hand, eine digitale Produktentwicklung bedinge eine enge Verzahnung mit der IT-Landschaft.

Die Tochter des Freudenbergs-Konzerns erwirtschaftet mit weltweit knapp 6.000 Mitarbeitern einen Umsatz von 850 Millionen Euro und stellt Gleitringdichtungen her, die als kritische Bauteile in Pumpen oft mit Sensorik überwacht werden, um Ausfälle und damit Produktionsstillstände zu vermeiden. Ziel ist es, im Lab digitale Produkte an der Schnittstelle zum Kunden zu entwickeln, die über das klassische Portfolio hinaus­gehen und dem Kunden einen Mehrwert bringen.

Gibt es einen Markt für das Produkt?

Laut CIO Lange müsse man sich immer fragen, ob es dafür einen Markt gebe. Als Dichtungshersteller ist EagleBurgmann für die Betreiber großer Industrie­anlagen nur einer von vielen Herstellern. „Mit smarten Dichtungen, deren Betriebszustand sich über Sensoren messen und überprüfen lässt, wollen wir das ,right to play‘ erwerben“, sagt Lange.

Realistische Erwartungen an ein Digitallabor seien ebenso wichtig, wie eine gewisse Richtung vorzugeben. Pro Sprint gelte es zu überlegen, was und wohin man will. „Vor dem Hausbau muss ich auch entscheiden, ob es ein Einfamilienhaus oder eine Fabrikhalle wird“, illustriert Lange. Es gelte zu verhindern, dass die Mitarbeiter auf jeden technologischen Zug aufspringen. Um einer Defokussierung vorzubeugen, brauche man eine Balance zwischen Agilität und bewährten Methoden.

Matthias Schmitt ist VP Strategic & Digital Business Development bei EagleBurgmann: „Eine möglichst effektive Transformation unserer digitalen Produkt-Roadmap gelingt nur mit einer starken Verzahnung der beteiligten Fachbereiche.“ (c) EagleBurgmann

Kundenportal mit Übersicht über Kauf- und Serviceverträge

In einer Roadmap legte EagleBurgmann die Ziele für drei Jahre fest: Neben smarten Produkten soll ein Portal für die Kunden gebaut werden. Diese sollen auf einen Klick sehen, in welchem Betriebs­zustand sich eine Dichtung befindet, aber auch den Überblick über Kauf- und Serviceverträge haben. „Wir wollen die kauf­männischen Informationen mit denen zum Betriebs­zustand verknüpfen“, erklärt CIO Lange.

Ein weiterer Erfolgsfaktor für das Lab sei, dass alle Neuentwicklungen den Governance-Strukturen entsprechen sowie Security und Data Protection von Anfang an mitgedacht würden. Zudem müsse man sich fragen, wie digitale Dienste, etwa das Service-Portal für die Techniker, in die Backend-Architektur, die PLM- und die SAP-Welt eingebunden werden können. Auch sollte geklärt sein, wer die Lösung betreibt beziehungsweise den Support für den Kunden leistet. Diese Auf­gabe sieht der CIO aber weiterhin im Bereich der klassischen IT.

Kupferproduzent Aurubis setzt auf Innovationslabor

Marcus Sassenrath, Vice President IT bei Aurubis: „Insbesondere im Hinblick auf digitale Geschäftsmodelle erwarten die Kunden mehr von uns als wir bisher bieten.“ (c) Aurubis

Der Hamburger Kupferproduzent und -wiederverwerter Aurubis, der mit weltweit rund 7.400 Mitarbeitern einen Umsatz von 12,4 Milliarden Euro erwirtschaftete, hat als europäischer Marktführer den Anspruch, auch in der Digitalisierung von Prozessen, Produktion und Geschäftsmodellen ein Vorreiter zu sein. „Insbesondere im Hinblick auf digitale Geschäftsmodelle erwarten die Kunden mehr von uns als wir bisher bieten“, gibt Marcus Sassenrath, Vice President IT, zu. Zwar sei die übrige Branche digital auch nicht weit. Das aber hielt Aurubis nicht davon ab, außerhalb des Werks­geländes ein Digital Innovation Lab zu gründen. Hier dürfe und müsse methodisch anders und auch schneller gearbeitet werden.

Mit Sassenrath hat sich Aurubis einen IT-Chef geholt, der bereits bei seinem vorherigen Arbeitgeber BPW Bergische Achsen eine Kreativwerkstatt aufgebaut hat und dafür im Wettbewerb „CIO des Jahres“ ausgezeichnet worden ist. Interdisziplinariät ist auch für ihn eine Basis für erfolgreiche Innovation. Im siebenköpfigen Team finden sich IT-Spezialisten, Methodenprofis sowie Experten für Kundenbeziehungen und Einkauf.

Innovationsprozess in fünf Phasen

Der Innovationsprozess ist in fünf Phasen unterteilt: Auf die Ideen­findung folgen nach Kundeninterviews und ersten Mockups die Prototypen. Diese entwickeln sich dann nach erneutem Feedback weiter zu Minimum Viable Products (MVPs), die bereits in einem begrenzten Umfeld beim Kunden einsatzfähig sind. Dann fällt die Entscheidung für die Investition in ein skalierbares, voll­ständiges Produkt. Das ist der Übergabepunkt zur IT, die sich um die Entwicklung und anschließend den Support kümmert.

Nach Sassenraths Erfahrung ist es entscheidend, dem Vorstand kontinuierlich die Fortschritte eines Innovationslabors zu zeigen: „Die Unterstützung durch das Management ist in meinen Augen einer der vier wichtigsten Erfolgsfaktoren.“ Die übrigen drei Parameter seien das richtige Team, das agile Vorgehen und die enge Anbindung an interne Kunden wie Ein- und Ver­kauf sowie externe Kunden.

Virtuelle Workshops mit Kunden

Im Innovation Lab will Aurubis herausfinden, welche digitalen Services sich Kunden wünschen und wie diese konkret aussehen könnten. „Wir befinden uns nicht mehr in der hochschwebenden Phase der Digitali­sierung, sondern sind heute grounded to earth“, so Sassenrath. Im Fall von Aurubis drückt sich diese Haltung in regelmäßigen virtuellen Workshops mit Kunden aus. In solche Formaten bringen Kunden etwa Ideen, aber auch ihr Feedback ein, damit daraus konkrete, realisierbare digitale Dienste entstehen. „Das finden die klasse“, so der IT-Chef.

Neben Kupfer produziert Aurubis auch Silber, in Form von Granalien oder Barren (c) Aurubis

Dass Digitallabore in Unternehmen mitunter nicht so gut funktionieren, liegt auch in den Augen von Sassenrath an zu hohen Er­wartungen an sie: „Da werden Äpfel nicht mit Birnen, sondern mit Schrauben verglichen.“ Oft dürfe sich nur eine Abteilung im Unternehmen Fehler erlauben: Bei einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung sei es gelernt, dass experimentiert wird, dass nur ein Teil der Projekte auch zum Erfolg führt, also zu Pro­zess­inno­vationen oder marktfähigen Produkten werden. „Innovation Labs müssen mit F&E verglichen werden, nicht mit der IT“, fordert Sassenrath. Im Unterschied zu einer Forschungsabteilung oder einem Digitallabor müsse die IT immer liefern, weil sonst die Firma stehe.

Vorn ist, wo sich keiner auskennt

Ob EagleBurgmann oder Aurubis, viele Unternehmen bewegen sich in einem ingenieursgetriebenen Umfeld. Hier zählt, was berechenbar und planbar ist. „Innova­tion geschieht aber nicht, wenn man immer da bleibt, wo man sich schon auskennt“, gibt Sassenrath zu bedenken. Man müsse sich auch mal mutig dorthin wagen, wo nicht alles klar, bekannt und eingeübt sei, wo es noch keine Blaupause, keine Best Practice gebe. „Vorn ist da, wo keiner sich auskennt! Wenn ich mich in allem, was ich mache, auskenne, ist da grad nicht vorne“, so die Conclusio des Aurubis-Managers.

*Alexandra Mesmer: Karriere und Management in der IT ist ihr Leib- und Magenthema – und das seit über 20 Jahren. Langweilig? Nein, sie entdeckt immer neue Facetten in der IT-Arbeitswelt und im eigenen Job. Sie recherchiert, schreibt, redigiert, moderiert, plant und organisiert.


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