Digitale Souveränität: Anspruch trifft Realität

Die digitale Souveränität deutscher Unternehmen steht weiterhin in einem starken Spannungsverhältnis zwischen politischem Anspruch und praktischer Umsetzung. Zwar befürwortet die Mehrheit europäische Lösungen – doch im Unternehmensalltag dominieren weiterhin US-Produkte. ITWelt.at hat sich eine aktuelle Myra-Studie angesehen. [...]

Nur 20,5 Prozent der befragten Unternehmen nutzen europäische Cybersicherheit-Tools. (c) Pexels
Nur 20,5 Prozent der befragten Unternehmen nutzen europäische Cybersicherheit-Tools. (c) Pexels

Die Analyse „State of Digital Sovereignty 2025“ der Myra Security GmbH liefert mit Daten aus einer repräsentativen Befragung von 1.500 IT-Entscheidern ein aktuelles Lagebild zur digitalen Eigenständigkeit in Deutschland. Untersucht wurden acht zentrale Technologiebereiche – darunter Cloud, KI, Cybersicherheit und ERP. Die Ergebnisse zeigen: Zwischen der theoretischen Zustimmung zu mehr europäischer IT und der praktischen Anwendung klaffen deutliche Lücken.

Konsens im Grundsatz – Umsetzung bleibt aus

Ein bemerkenswerter Befund: 84,4 Prozent der IT-Verantwortlichen sprechen sich eindeutig dafür aus, dass Staat und kritische Infrastrukturen vorrangig europäische Digitalprodukte nutzen sollten. Nur 8,3 Prozent sind gegenteiliger Meinung. Dieses klare Votum ist als politischer Handlungsauftrag zu verstehen – gerade in sicherheitsrelevanten Bereichen wie Energieversorgung, Gesundheitswesen oder Verkehr sehen Fachleute europäische Lösungen als strategisch notwendig.

Allerdings bleibt dieser Konsens in der Praxis folgenlos: In den meisten Unternehmen dominieren weiterhin US-Produkte – besonders in innovationsgetriebenen und datenintensiven Segmenten. Die geplante Einführung europäischer Softwarelösungen ist selten und erfolgt meist nur unter bestimmten Voraussetzungen.

Hohe Abhängigkeit – besonders bei Cloud, Sicherheit und KI

Die Studie macht die starke Bindung deutscher Unternehmen an US-Anbieter in verschiedenen Technologiefeldern deutlich: Besonders ausgeprägt ist die Abhängigkeit bei Cloud Services (39,7 Prozent), Cybersicherheit (39,5 Prozent) und KI-Infrastruktur (36,6 Prozent). In diesen Bereichen fühlen sich vier von zehn Unternehmen ohne US-Technologie kaum arbeitsfähig.

Demgegenüber erscheinen ERP-Systeme (19,8 Prozent) oder Finanzsoftware (16,8 Prozent) weniger betroffen – hier sind europäische Anbieter traditionell präsenter. Doch gerade in den sicherheitskritischen Segmenten, in denen sensible Daten verarbeitet werden, bleibt Europa bislang weitgehend außen vor.

Selbstbild und Realität klaffen auseinander

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die deutliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Nutzung europäischer Software und der wahrgenommenen Abhängigkeit: Nur 10,2 Prozent der Unternehmen verwenden europäische KI-Infrastruktur – gleichzeitig geben mehr als 50 Prozent an, kaum von außereuropäischen Lösungen abhängig zu sein. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Cybersicherheit: Nur 20,5 Prozent nutzen europäische Tools, doch fast die Hälfte hält die Abhängigkeit für gering.

Diese Fehleinschätzung untergräbt das Problembewusstsein und erschwert notwendige Strategiewechsel. Offenbar ist vielen IT-Entscheidern nicht bewusst, wie stark sie sich auf ausländische Anbieter verlassen – mit allen damit verbundenen Risiken.

Informationsdefizite bremsen europäische Anbieter aus

Ein Grund für die geringe Verbreitung europäischer Software liegt in deren mangelnder Sichtbarkeit. Rund 11 Prozent der befragten IT-Entscheider kennen nach eigenen Angaben keine einzige europäische Lösung. Weitere 16 Prozent sind sich unsicher. Besonders in neueren Technologiebereichen wie Kollaborations-Tools oder KI-Infrastruktur ist die Bekanntheit gering: Nur rund 22 Prozent kennen europäische Anbieter in diesen Segmenten.

Demgegenüber sind ERP, CRM und Finanzsoftware stärker im Bewusstsein verankert – ein Spiegel der langen Marktpräsenz europäischer Unternehmen in diesen Bereichen. Die Studie legt nahe: Wo Alternativen bekannt sind, steigt auch ihre Nutzung.

Wechselbereitschaft vorhanden – aber mit Einschränkungen

Trotz weitverbreiteter Nutzung von US-Software nutzen immerhin über 80 Prozent der Unternehmen mindestens ein europäisches Produkt – vor allem in klassischen Anwendungsfeldern. Bei der zukünftigen Planung zeigt sich jedoch Zurückhaltung: Nur 20,4 Prozent befinden sich aktuell im Einführungsprozess europäischer Software. Rund 15 Prozent planen einen Umstieg in den nächsten zwei Jahren. Fast die Hälfte (47,7 Prozent) hat derzeit keine entsprechenden Pläne.

Größtes Hindernis sind laut Studie die praktischen Wechselhürden: Migrationen sind aufwendig, teuer und betreffen oft kritische Geschäftsprozesse. Entsprechend gilt vielerorts das Prinzip „Never change a running system“, sofern kein regulatorischer oder wirtschaftlicher Druck besteht.

Klare Kriterien für einen Wechsel zu europäischen Lösungen

Die Bereitschaft zu einem Umstieg hängt stark von sachlichen Faktoren ab. 69,9 Prozent der Befragten würden europäische Softwarelösungen nutzen, wenn diese funktional und sicher mit bestehenden Systemen vergleichbar sind. Für 69,4 Prozent ist Datensicherheit entscheidend, insbesondere die garantierte Speicherung innerhalb der EU. Auch Kostenvorteile (66,5 Prozent) und staatliche Förderungen (57,4 Prozent) gelten als wichtige Impulse.

Ideelle Motive wie die Stärkung der europäischen Wirtschaft (45,3 Prozent) spielen hingegen eine nachrangige Rolle. Das zeigt: Die Entscheidung für europäische IT ist vor allem eine wirtschaftliche, nicht eine patriotische.

Politik und Anbieter sind gleichermaßen gefordert

Die Studie betont, dass symbolische Bekundungen allein nicht ausreichen, um die digitale Souveränität voranzutreiben. Neben leistungsfähigen Produkten braucht es politische Rahmenbedingungen, die Wechsel erleichtern. Förderprogramme, regulatorische Anreize und Leuchtturmprojekte könnten den Ausschlag geben, um europäische Alternativen sichtbarer und attraktiver zu machen.

Das Beispiel Frankreich zeigt, dass staatliche Förderung Wirkung entfalten kann: Mit dem Programm „Parcours de cybersécurité“ wurden seit 2021 über 900 öffentliche Einrichtungen unterstützt. Der Reifegrad der Cybersicherheit stieg signifikant, die Nachfrage nach europäischen Lösungen nahm zu. Ähnliche Programme könnten auch in Deutschland eine wichtige Rolle spielen – etwa durch verpflichtende „Souveränitäts-Checks“ bei öffentlichen IT-Beschaffungen.

Konkrete Risiken einer fortgesetzten Abhängigkeit

Die Studie benennt eine Reihe greifbarer Risiken, die aus der Abhängigkeit von außereuropäischen Anbietern resultieren:

  • Politische Kontrollverluste: Ein prominentes Beispiel ist die Sperrung des E-Mail-Kontos des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs durch Microsoft im Mai 2025 – ausgelöst durch US-Sanktionen.
  • Wirtschaftlicher Druck: Die Stadt Kopenhagen sah sich zwischen 2018 und 2023 mit einer Preissteigerung von 72 Prozent für Microsoft-Produkte konfrontiert und reagierte mit dem Wechsel auf Open-Source-Software.
  • Rechtliche Unsicherheit: US-Gesetze wie der CLOUD Act oder FISA Section 702 verpflichten US-Anbieter zur Herausgabe von Daten an US-Behörden – selbst wenn diese in Europa gespeichert sind. Dies untergräbt die DSGVO und stellt ein erhebliches Risiko für Datenschutz und Wettbewerbsfähigkeit dar.

Stärken europäischer Anbieter – aber nur unter Bedingungen relevant

Trotz geringer Marktanteile verfügen europäische Lösungen laut Studie über klare Vorteile:

  • Einhaltung europäischer Rechtsstandards und DSGVO
  • Keine Zugriffsmöglichkeiten durch ausländische Behörden
  • Lokaler Support und kurze Kommunikationswege

Allerdings reichen diese Alleinstellungsmerkmale allein nicht aus, um Unternehmen zum Wechsel zu bewegen. Leistung, Preis und Sicherheit bleiben entscheidend – auch bei noch so überzeugenden datenschutzrechtlichen Argumenten.

Perspektive: Ein realistischer Weg zur digitalen Eigenständigkeit

Laut den Autoren der Studie ist der Weg zu mehr digitaler Eigenständigkeit durchaus machbar – wenn Politik und Wirtschaft konsequent handeln. Statt auf technologische Abschottung setzt der Report auf ein resilientes, innovationsgetriebenes Ökosystem, das europäische Werte, Rechtssicherheit und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vereint.

Die politische Stoßrichtung ist dabei eindeutig: Mit klaren Anforderungen an staatliche Beschaffung, gezielten Förderprogrammen und der Stärkung europäischer IT-Unternehmen ließe sich die Souveränitätslücke zumindest teilweise schließen. Für Unternehmen gilt es, bekannte Abhängigkeiten nicht länger zu unterschätzen und proaktiv nach Alternativen zu suchen.

Das Fazit der ITWelt-Redaktion

Die Studie zeigt deutlich: Deutsche Unternehmen sind digital weiterhin stark von außereuropäischen Anbietern abhängig – besonders in innovationsrelevanten Feldern. Europäische Alternativen sind vielfach vorhanden, bleiben aber oft unbekannt und ungenutzt. Ohne bessere Sichtbarkeit, konkrete Anreize und politische Weichenstellungen wird der Wandel zu mehr digitaler Souveränität nur zögerlich vorankommen. Die Studie kann hier heruntergeladen werden.


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