Digitale Unabhängigkeit: Digital-Summit war erst der Gipfel des Eisbergs

In Berlin hat sich Europas Politelite getroffen, um Wege aus der Digitalen Abhängigkeit von den USA und China zu finden. Den erfreulichen Absichtserklärungen müssen jetzt allerdings Taten folgen – und deutlich mehr Geld. [...]

Der französische Präsident Emmanuel Macron auf dem Digital-Summit. (c) Tillmann Braun
Der französische Präsident Emmanuel Macron auf dem Digital-Summit. (c) Tillmann Braun

Was jahrelang undenkbar schien, wurde nun im Eiltempo Realität: Europa arbeitet Hand in Hand daran digital unabhängig zu werden. Und das nicht länger allein auf der Ebene einzelner Software-Hersteller. In Berlin hat sich am Dienstag die höchste politische Prominenz getroffen, um Wege zu finden, wie man sich vor allem von den USA und deren Software- und Cloud-Konzernen unabhängig machen kann.

Dass Merz und Macron kurzfristig einen Gipfel zur Europäischen Digitalen Souveränität ins Leben gerufen haben, zu dem über 1.000 Teilnehmer strömten, war ganz offensichtlich eine Reaktion auf das Gebaren der aktuellen US-Regierung. Offiziell wurden derartige Suggestionen zwar abgewiegelt. Zu groß ist die Sorge vor Repressalien. Dass es trotz der berechtigten Ängste vor Vergeltungsaktionen jetzt zum ersten europäischen Gipfeltreffen kam, zeigt allerdings: Der Ernst der Lage wurde endlich erkannt.

Europa erwacht aus seinem kollektiven Dornröschenschlaf

Über Jahrzehnte wurde der technische Fortschritt in Europa verschlafen. Anstatt mitzugestalten und eigene Lösungen mit Geld und fruchtbaren Rahmenbedingungen zu fördern, verfiel man in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern in einen kollektiven Dornröschenschlaf. Zwar gab es hier und da vereinzelt ein paar gallische bzw. teutonische Dörfer, die sich der Übermacht aus Übersee entgegenstellten, doch ein koordiniertes Vorgehen auf politischer Ebene war nicht zu erkennen.

Der Prinz, der die Europäer nun wachgeküsst hat, ist bei genauer Betrachtung eher der Bösewicht. Doch dieser hat – wenn auch unabsichtlich – mit seinem wenig partnerschaftlichen Vorgehen mehr erreicht, als ein Prinz es jemals gekonnt hätte. Plötzlich interessiert sich selbst die oberste politische Ebene für Open-Source-Software und europäische Cloud- und KI-Lösungen. Neben Merz und Macron sowie EU-Vizepräsidentin Henna Virkkunen zog es Bundesdigitalminister Karsten Wildberger sowie Frankreichs Digitalministerin Anne Le Hénanff auf den Summit – ebenso wie 23 ihrer EU-Kollegen. Das wäre vor einem Jahr noch undenkbar gewesen.

Digitale Souveränität ist keine Kür, sondern Pflicht

Anne Le Hénanff betonte in Berlin, dass digitale Souveränität keine Kür sei, sondern eine Pflicht. Karsten Wildberger verkündete seinerseits, dass man mit dem Gipfel ein klares Signal sende wolle: „Wir Europäer können und wollen bei Schlüsseltechnologien zu den Spitzenreitern gehören.“ Um mehr europäische digitale Souveränität Wirklichkeit werden zu lassen, seien mutige Entscheidungen auf EU-Ebene nötig. Dazu zählte er Reformen bei den Gesetzen zu Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz, den entschlossenen Abbau von Bürokratie und deutlich mehr Raum für Innovation.

Auch Alexander Pröll, Staatssekretär für Digitalisierung in Österreich (Bild Mitte), war vor Ort.

Diese Absichtserklärungen dürfte wie Musik in den Ohren all jener klingen, die sich seit Jahren um europäische Lösungen für mehr Unabhängigkeit bemühen. Viel wird jetzt allerdings darauf ankommen, welche Taten und Budgets auf die Absichtserklärungen folgen werden. Erhalten europäische Open-Source-Projekte und Lösungsanbieter zukünftig tatsächlich so viel Geld, dass sie mit den US-Konzernen mithalten können? Ein Gipfel in Berlin mit vielen warmen Worten lässt Hoffnungen aufkeimen. Doch solange die Tech-Riesen aus den USA allein für die behördliche Nutzung von Lizenzen über 1 Milliarde aus Deutschland erhalten, wichtige Initiativen wie das Zentrum für Digitale Souveränität (ZenDiS) dagegen mit ein paar Millionen Euro auskommen müssen, wird es zu keiner echten Wende kommen.

Kurzum: Es muss in europäische Innovationen investiert werden und es braucht Aufträge für hiesige Firmen. Denn so wird beispielsweise die für die Digitale Unabhängigkeit wichtige Open-Source-Industrie gestärkt.

Die von Merz in Berlin verkündete Entscheidung, dass das Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung (BMDS) sowie das Kanzleramt auf den Open-Source-basierten Arbeitsplatz openDesk umgestellt werden, sind wichtige Signale, dass es sichere und verlässliche Alternativen gibt, die auch von den obersten Behörden genutzt werden können. Alles, was dafür nötig ist, sind die Entschlossenheit und der Wille, den Umstieg tatsächlich anzugehen.

BDI-Präsident fordert politische Reformen und strategisches Vorgehen

Wie Peter Leibinger, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), zum Gipfel mit Nachdruck betonte, werden europäische Lösungsanbieter und Unternehmen den über Jahrzehnte angewachsenen Rückstand ohne politische Reformen nicht aufholen können. Derzeit bestünden Abhängigkeiten bei der digitalen Infrastruktur ebenso wie bei der Cybersicherheit und künstlicher Intelligenz. Europa müsse diese Schwächen nicht nur erkennen, sondern auch strategisch angehen.

Der erste gemeinsame Gipfel zur Digitalen Unabhängigkeit Europas könnte als Wendepunkt in die Geschichte eingehen. Bislang hat der Summit allerdings lediglich dazu geführt, dass die Spitze des Eisbergs von der europäischen Politelite erkannt und diskutiert wurde. Um nicht dennoch auf Grund zu laufen, müssen nun die tieferliegenden Strukturen analysiert und ausgetauscht werden. Allein mit politischen Absichtserklärungen wird dies nicht gelingen. Um wirklich etwas zu bewegen, muss Europa von nun an gezielt zusammenarbeiten – und der Geldhahn aufgedreht werden.

*Tillmann Braun ist freier Journalist und Kommunikationsberater für non-profit Organisationen und Unternehmen.


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