Digitalisierung im Mittelstand: Moderate Innovation statt Disruption

Disruptive Geschäftsmodelle sind für die Digitalisierungsstrategien von mittelständischen Unternehmen nicht hilfreich. Dieser Artikel beschreibt die Ideen radikaler und moderater Innovationen. [...]

Im Mittelpunkt neuer Geschäftsmodelle sollte die Steigerung des Kundennutzens stehen; die Neuartigkeit der digitalen Technologien ist untergeordnet (c) pixabay.com

Zahlreiche etablierte Unternehmer sind verunsichert hinsichtlich der disruptiven Einflüsse der Digitalisierung auf Firmen, Produkte und Märkte. Die prominenten Fälle von Amazon, Uber, Google oder WhatsApp werden häufig als Beispiele für den digitalen Wandel auf vielfältigen Kanälen aufgezeigt und intensiv beleuchtet.

Disruptive Geschäftsmodelle sind nicht der Maßstab

Diese extremen Beispiele sind jedoch nicht der Maßstab für ein beständiges, mittelständisches Unternehmen, das seinen strategischen Weg im digitalen Zeitalter sucht. Weitsichtige Manager von kleinen und mittleren Firmen erarbeiten Strategien zum Beherrschen der digitalen Transformation und investieren dafür beträchtliche Beträge in digitale Technologien.

Wegen den beschränkten Investitionsvolumina stehen diese Unternehmen vor der grundsätzlichen Entscheidung ihre bestehenden Geschäftsmodelle schrittweise weiter zu entwickeln und somit die bestehende Basis ihres Geschäftserfolgs weiter auszubauen oder diese radikal zu verändern, um dadurch selbst ein disruptiver Innovationsführer nach dem Vorbild von Amazon, AirBnB & Co. zu werden. Die letzte Option erscheint hochriskant bis unrealistisch. Vielmehr sollten Unternehmer über moderate Veränderungen ihrer Geschäftsmodelle durch die Nutzung von digitalen Technologien nachdenken und Bedrohungen durch innovative Wettbewerber beobachten.

Moderate und radikale Innovationen

Gemäß dem Innovations-Vordenker Joseph Schumpeter (1942) müssen Unternehmen die Grundlagen ihres Geschäftserfolgs ständig überprüfen und fortwährend neue Ideen und Erfindungen umsetzen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Diese über acht Jahrzehnte bestätigte These wirft die Frage auf, zu welchem Grad die Unternehmen in Innovationen investieren.

Unternehmer stehen vor der grundsätzlichen Entscheidung, ihre Budgets für die schrittweise Evolution ihrer Produkte einzusetzen oder völlig neue Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln, welche existierende Geschäftsprozesse und -modelle angreifen oder gar zerstören („Creative Destruction“). Diese Fragestellung betrifft das vom Harvard-Professor Clayton Christensen (1997) beschriebene „Innovator’s Dilemma„. Unternehmer haben die Wahl zwischen

  • der moderaten Innovationsstrategie, das heißt, die Verbesserung ihrer Produkte und dem allmählichen Ausbau des Geschäftserfolgs, oder
  • dem radikalen, disruptiven Innovationansatz mit dem Ziel, mit stark differenzierten Produkten die Regeln des Wettbewerbs umzuschreiben.

Der radikale Ansatz ist äußert riskant, er kann zu Marktdominanz oder zu Konkursen von Unternehmen führen. Im Zusammenhang mit der sogenannten digitalen Transformation werden meistens die positiven Fälle wie zum Beispiel Uber und AirBnB zitiert; die Vielzahl gescheiterter Start-ups bleiben jedoch weitgehend unerwähnt.

Kleine und mittelständische Unternehmen, die mit ihren Produkten die Märkte bereits erobert haben, sollten sich nicht von den wenigen erfolgreichen Beispielen radikaler, digitaler Innovation verwirren lassen – es sind selektierte Extrembeispiele, die als Maßstab untauglich sind. Vielmehr sollten die Chancen digitaler Technologien für moderate (oder inkrementelle) Innovationen ausgelotet und genutzt werden.

Was sind moderate digitale Innovationen?

Moderate Innovationen von Produkten und Dienstleistungen verbessern die Leistungsfähigkeiten und/oder bieten neue Funktionen im Vergleich zu den Vorgängerprodukten und den Angeboten bestehender Wettbewerber. Bedienerkomfort, Flexibilität, Zuverlässigkeit, und Wartungsfreundlichkeit sind einige Beispiele für Eigenschaften, die mit neuen Produkten weiterentwickelt werden (Blitz, 2016).

Digitale Innovationen gehen über diese Ziele hinaus, indem sie digitale Aspekte in der Produktentwicklung und -anwendung einbeziehen. Die digitalen Innovationsfaktoren (Gellweiler & Krishnamurthi, 2020) zur Erzeugung, Sammlung, Transport, Verarbeitung und Nutzung von Daten sind:

  • Neue, digitale Technologien, die menschliche Fähigkeiten simulieren.
    Beispiele: sehen, hören, riechen, tasten und fühlen mit Sensoren; lernen, denken und entscheiden mit künstlicher Intelligenz.
  • Nutzung sozialer Trends.
    Beispiele: Soziale Netzwerke, Umweltschutz, Gesundheitsschutz, „Sharing Economy“.
  • Netzwerke, die Endgeräte und Server verbinden und Daten von Personen und Geräten übertragen.
    Beispiele: Internet, WAN, Wireless LAN, NFC, Bluetooth, RFID.
  • Änderung von Geschäftsmodellen, das heißt, die Art und Weise wie Produkte/ Dienstleistungen geliefert, genutzt und bezahlt werden.
    Beispiele: Methoden zur Umsatzgenerierung und Bezahlung, Integration von Partnern in der Wertschöpfungskette, Aufbau innovativer Vertriebskanäle, Integration von Online-Handel und stationären Einzelhandel.

Diese digitalen Innovationsfaktoren sind miteinander kombinierbar, müssen jedoch nicht alle gleichzeitig in die Produktentwicklung und das zugehörige Marketing einfließen. Ein Unternehmen sollte ganzheitlich sein bestehendes Geschäftsmodell beleuchten und die Einsatzmöglichkeiten digitaler Technologien und sozialer Trends prüfen.

Das existierende Geschäftsmodell muss nicht ersetzt oder von Grund auf neu entwickelt werden (radikaler Ansatz), sondern es genügt, neue, kreative Kombinationen auf Basis des laufenden Geschäftsmodells zu schaffen (moderater Ansatz). Im Mittelpunkt steht dabei die Steigerung des Kundennutzens; die Neuartigkeit der digitalen Technologien ist untergeordnet.

Der Kundennutzen ist zentral

Digitale Innovationen garantieren keine Geschäftserfolge. Der Einsatz von innovativen, digitalen Technologien ist nur dann zielführend, wenn ein Mehrwert für die Käufer generiert werden kann. Das Ziel von allen Investitionen ist die Verbesserung der Wertschöpfung, das heißt die Steigerung der Profitabilität durch Senkung der Kosten und/oder Umsatzwachstum. Bei der Wertschöpfung stehen die Kunden im Vordergrund, sie sind die Quellen der Zahlungsflüsse. Digitale Innovationen und entsprechende Geschäftsmodelle müssen daher von den Kunden als Mehrwert wahrgenommen werden, für die Zahlungsbereitschaft besteht.

Die Kundenmehrwerte müssen vor dem Start von digitalen Innovationsprojekten bewertet werden. Diese Kunden-Mehrwerte ergeben sich aus drei Arten von Vorteilen:niedrige Preise, überlegene Produkt- oder Servicefunktionen, und/oder besondere Kundenbeziehungen, wie zum Beispiel Markenimage, Einkaufserfahrung oder Vertrauen (Treacy & Wiesema, 1993, 1995). Der Kundenvorteil ist entscheidend für den Erfolg von digitalen Innovationen, nicht die digitalen Technologien als solche.

Kernaussagen

  • Die Erfolge von prominenten digitalen Geschäftsmodellen (Amazon, Google, etc.) und deren radikalen Innovationen sind nicht maßgebend für die digitale Transformation von etablierten Unternehmen.
  • Unternehmer sollten sich auf moderate (oder inkrementelle) digitale Innovationen konzentrieren.
  • Sensoren, künstliche Intelligenz, Netzwerktechnologien und soziale Trends bieten Chancen zur Nutzung von Daten für neue digitale Geschäftsmodelle.
  • Im Vordergrund digitaler Geschäftsmodelle steht die Verbesserung des Kundennutzens durch Kostenvorteile, verbesserte Kundenbeziehungen und/oder funktionale Produktvorteile.

Hinweis: Aus Gründen der Lesbarkeit und der Verständlichkeit kommt hier das generische Maskulinum, das alle Geschlechter gleichermaßen einbezieht, zur Anwendung. 

*Dr. Christof Gellweiler ist selbstständiger und unabhängiger IT-Management-Berater mit mehr als 25 Jahren Berufserfahrung bei zahlreichen internationalen Unternehmen. Er verfügt über eine breite und tiefe Bildung: Dipl.-Ing. (TH Bingen), Executive-MBA (Kellogg-WHU) und PhD in Management (Aarhus University). Seine Forschungsschwerpunkte sind strategische IT-Planung und IT-Architektur. Er ist von PMI und Cisco Systems zertifiziert und unterrichtet Projektmanagement an verschiedenen Hochschulen.


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