Digitalisierung: Warum Unternehmen keine Berater benötigen

Im Digitalisierungszeitalter scheinen viele Unternehmen von den neuen Entwicklungen so überrascht wie die Dinosaurier vom Meteoriten. Dabei könnten sie im Kopf jedes einzelnen Mitarbeiters gegen ihr Aussterben vorbeugen. [...]

Obwohl Charles Darwin die Natur erforscht hat, hat er doch auch sehr trefflich die Situation beschrieben, die angesichts der Digitalisierung derzeit in vielen Unternehmen vorherrscht, als er im 19. Jahrhundert schon schrieb: „Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern eher diejenige, die am ehesten bereit ist, sich zu verändern.“
Nun ist es in der Natur ganz selbstverständlich, dass eine überlebensfähige Spezies sich weiterentwickelt und dabei den einen oder anderen Wandel durchläuft. Wenn doch noch viel mehr Unternehmen ebenfalls diesem Urinstinkt folgen würden! Schließlich gilt doch auch in Unternehmen: Wer sich nicht mit dem Markt – also dem Lebensraum – mitentwickelt, stirbt aus.
In den Fängen der Maschinerie
Statt einer agilen Digitalisierungsevolution beobachte ich leider viele Dinosaurier, die sich an allem festklammern, was noch nicht in Flammen aufgegangen ist: Digitalisierung bedeutet in der Realität eine Expedition ins Ungewisse, einen fundamentalen Wandel mit notwendigen Schritten hinein in noch nicht kartografiertes Gelände. Trotzdem wird dieser Wandel meist als Projekt nach altem Strickmuster aufgesetzt – etwa mit der Definition eines Zielzustands. Das Konzept dafür entsteht in der Regel im Kopf eines Einzelnen oder einiger weniger, zumeist in der Geschäftsführung. Oft nicht ganz freiwillig, sondern eher, weil die Zahlen des Unternehmens nicht (mehr) so sind, wie sie sein sollten. In Zeiten, in denen Digitalisierung als Allheilmittel in aller Munde ist, hoffen auch Unternehmen auf ihren (r)evolutionären Effekt.
Sehr gern ziehen Unternehmer dabei Externe hinzu, und hier gelangen sie an einen interessanten Entscheidungspunkt: Entweder fällt die Auswahl auf Berater, die zwar digitale Expertise einbringen, die aber konsequent die kreativen Potenziale der Organisation nutzen und Lösungen mit den Mitarbeitern erarbeiten. Oder das Management kauft sich die Gesamtlösung von außen ein und stülpt der Organisation nach altbekanntem Lösungsmuster ein Konzept von außen über – die Auswahl wird dabei sehr oft nicht nur inhaltlich motiviert getroffen, auch die Eignung der Berater für die Legitimation des Managements gegenüber der nächsten Ebene oder den Aufsichtsgremien spielt eine große Rolle. Es kommen in diesem Fall also Fachberater von außen ins Haus, die die Organisation nach Effizienz- und Digitalisierungspotenzialen durchleuchten. Sie prüfen Unterlagen, sie hinterfragen Prozesse und führen Interviews mit den Mitarbeitern.
Gefärbte Wahrheit
Spätestens nach den ersten Gesprächen setzt der Flurfunk ein. In den Büros und den Teeküchen wird getuschelt, sich hinter den Computerbildschirmen leise ausgetauscht. Die Mitarbeiter wissen: Da kommt irgendwas. Was genau? Keine Ahnung. Es sagt ihnen auch keiner. Das macht vorsichtig: Steht womöglich der eigene Arbeitsplatz auf dem Spiel? Besser nicht zu kritisch auf die Fragen der Externen antworten. Der Berater wird demnach zwangsläufig nur eine gefärbte Wahrheit zu hören bekommen. Mit entsprechender Auswirkung auf den Wert der Analyse am Ende.
Aus den vorliegenden Auswertungen zieht der Berater jedenfalls seine Schlüsse und erarbeitet ein Konzept. Er gibt eine klare Linie vor, in welche Richtung die Organisation sich bewegen muss, um erfolgreicher am Markt zu agieren. Ein Katalog an empfohlenen Maßnahmen rundet den Bericht ab. Das Konzept für die erfolgreiche Digitalisierung stellt er dann vor – in der Vorstandsrunde. Ehrfürchtig lauscht das Auditorium. Anschließend wünscht der Berater allen ein gutes Gelingen. Und ist weg.
Echte Digitalisierung ist ganzheitlich
Nun möchte ich Fachberatern gar nicht in Abrede stellen, dass sie durchaus einen Mehrwert für Unternehmen bieten können, indem sie ihre Erfahrung sowie ihr Wissen einbringen und Impulse setzen. Doch die Vorgehensweise, von außen kommend Veränderung zu verordnen, hat ein Manko: Sie verstößt gegen die Natur des sozialen Systems „Unternehmen“ und nutzt das in der Organisation vorhandene Wissen und Kreativitätspotenzial nicht. Sie produziert vielfach unpassende Lösungen und wird daher abgelehnt.
Nur weil der Vorstand auf dem Papier stehen hat, wie die Digitalisierung im Unternehmen funktionieren soll, wird sich nichts verändern. Dafür braucht es die gesamte Mannschaft – und zwar mitsamt der richtigen Einstellung, der Bereitschaft und dem Verständnis für die Herausforderung. Es genügt daher nicht, wenn Sie einzelne Auserwählte mit der Implementierung der Digitalisierung betrauen. Echte Veränderungen erzielen Sie nur, wenn alle mitmachen.
* Rainer Petek ist Autor, Speaker und Extrembergsteiger. Mit einem kennt der gebürtige Österreicher sich ganz besonders aus: dem Umgang mit dem Ungewissen. Bereits mit 19 Jahren durchstieg er die schwierigste Nordwand der Alpen. Mit dieser Erfahrung begleitet der studierte Organisationsentwickler seit 1998 Management-Teams internationaler Konzerne in herausfordernden Situationen und Umbruchphasen. 

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