Einschätzung: Apple Vision Pro

Die Vorstellung von Apples «nächstem großen Ding» gleicht einem Paukenschlag. Aber es braucht einen Moment oder zwei, um die Tragweite der Technologie abschätzen zu können. [...]

Das ist sie also: die sagenumwobene Apple-Brille (Quelle: Apple Inc.)

Über 80 Minuten lang plätscherte die Keynote in nie gekannter Belanglosigkeit vor sich hin. Drei neue Macs? Nett, denn sie sind die besten und schnellsten ihrer Art – aber nichts anderes haben wir erwartet. Neue Systeme? Das war unvermeidlich, denn schließlich ist das die «World Wide Developer Conference» eine Entwicklermesse – und die Programmierer wissen gerne, was auf sie zukommt.

Während auf dem Bildschirm eine gefühlte Stunde lang nur noch über Widgets gesprochen wurde, ließ mich die Ungeduld mit den Hufen scharren. Schließlich sollte nach Jahren der Spekulation endlich Apples Headset vorgestellt werden, das diese junge Branche in den Grundfesten erschüttert.

Das ist die Apple Vision Pro

Und Apple lieferte! Es braucht einen Moment, um die «Apple Vision Pro» in ihrer Gesamtheit zu erfassen, damit sich die Erkenntnis einstellt: Hier beginnt ein neuer technologischer Abschnitt, bei dem ein weiteres Stück pure Science-Fiction unser Leben erweitert.

Die Vision Pro verkörpert das erste Apple-Gerät, durch das man hindurchsieht – oder zumindest diesen Eindruck vermittelt. Das Gesicht ist zwar komplett abgeschottet, doch die Umgebung wird von 3D-Kameras erfasst und ins Innere der Brille übertragen.

Gleichzeitig signalisiert das Display auf der Außenseite, was der Träger gerade macht. Ist er in einen Film vertieft, zeigt es eine schillernde Plasmawolke: Bitte nicht stören.

Bitte nicht stören: so signalisiert es die Plasmawolke nach außen
Quelle: Apple Inc.

Wendet er sich der anderen Person zu, werden durch die Funktion «EyeSight» automatisch die Augen des Trägers eingeblendet, sodass eine natürliche Kommunikation möglich ist.

Im Umgang mit anderen Personen werden hingegen die virtuellen Augen eingeblendet
Quelle: Apple Inc.

Das sind allerdings nicht die richtigen Augen. Stattdessen wird die Brille bei der Einrichtung vor das eigene Gesicht gehalten, damit es von den Kameras erfasst und zu einem virtuellen Avatar konvertiert wird.

Das ist dein neues Herrchen
Quelle: Apple Inc.

Der nächste Kinoabend

Doch die eigentlichen Sensationen spielen sich im Inneren ab. Apple zeigte eine virtuelle Leinwand innerhalb der Brille, um einen Film in einer nahezu beliebigen virtuellen Größe anzusehen. Dabei wird der restliche Raum von den Kameras erfasst und virtuell gedimmt, um eine behagliche Atmosphäre zu schaffen.

So sieht ein Kino im Jahr 2024 aus
Quelle: Apple Inc.

Doch eigentlich spielt der Aufenthaltsort keine Rolle. Wenn im Haus nur noch die Besenkammer frei ist, reicht ein bequemer Stuhl für den Filmgenuss, denn die echte Umgebung lässt sich komplett austauschen. Das Open-Air-Kino in Miami ist genauso nah wie die Küste in Griechenland, über deren Wassern der neue Blockbuster schwebt. Die Umgebung riecht dann vielleicht nach Staubsauger, aber auch dafür wird sich eine Lösung finden.

Überhaupt: Vielleicht wird den 3D-Filmen (schon wieder) ein neues Leben beschieden, denn die Vision Pro schreit förmlich nach dreidimensionalem Futter. Doch da ist noch mehr: Weil das Wohnzimmer innerhalb der Brille nur als virtuelle Aufnahme existiert, steht einem Besuch der Protagonisten nichts im Weg. Last Action Hero lässt grüßen.

Weil das Wohnzimmer rund um die Leinwand ebenfalls nur virtuell ist, werden Grenzen gesprengt
Quelle: Apple Inc.

Und schließlich steht die Vision Pro für die erste 3D-Kamera von Apple, was eine völlig neue Art von Film für Privatanwender erlaubt. Die Brille signalisiert dabei nach außen, dass gerade eine Aufzeichnung läuft.

Es wird spannend, zu sehen, wie die Resultate wirken. Das Beispiel mit dem stolzen Papi, der den Geburtstag seiner Tochter mit aufgesetzter Vision Pro filmt, wirkt kurios; allerdings beschleicht mich der Verdacht, dass auch das nächste iPhone 15 mit einer 3D-Kamera kommen wird. Und dann wird die Vision Pro für Filmer fast zu einem Muss.

Das sind die Kopfhörer, die für den 3D-Sound zuständig sind
Quelle: Apple Inc.

Fotos zeigen sich sowieso im besten Licht, wenn sie innerhalb des Wohnzimmers auf volle Größe aufgeblasen werden. Das gilt erst recht für Panoramen, die laut Apple das Gefühl vermitteln sollen, dass man wieder mitten in der Szene steht.

Blöd nur, dass ich fast nie solche extremen Breitbilder geschossen habe, weil mir die Wirkung auf einem regulären Display nie gefiel. Wer hätte das aber auch ahnen können?

Panorama-Fotos aus dem iPhone bekommen plötzlich eine neue Bedeutung
Quelle: Apple Inc.

Ein zutiefst privates Gerät

Schnell wird klar, dass die Vision Pro für Singles gedacht ist – oder zumindest für Aktivitäten, die man allein ausübt. Denn die Brille wurde an der Keynote nie in einem Umfeld gezeigt, wo sie von mehreren Personen getragen wird.

Sind Kinoabende zu zweit möglich? Wie sieht es in einer vierköpfigen Familie aus? Dabei dürfte die technische Herausforderung längst nicht so anspruchsvoll sein, wie die finanzielle: Vier Brillen à 4000 Franken müssen zuerst einmal gestemmt werden.

Bei der Verwendung wird außerdem der Datenschutz eine gewichtige Rolle spielen, selbst innerhalb der Familie.

Die Vision Pro agiert als natürliche Erweiterung zum Mac oder iPhone. Alle Daten in der iCloud sind einsehbar, vom Spesenzettel bis zum grenzwertigen Foto.

Oder anders gesagt: Die Vision Pro ist nichts, das man an andere ausleiht – sondern ein zutiefst privates Gerät.

Der neue Arbeitsplatz

Natürlich soll die Vision Pro auch die Arbeit revolutionieren – und auch hier wartet ein endloses Potenzial. Apple betont dabei vor allem die Zusammenarbeit mit anderen Personen, etwa gemeinsame FaceTime-Besprechungen oder die kollektive Arbeit an einer Tabelle.

Ein virtuelles Display lässt sich in 4K-Auflösung auf die gewünschte Größe bringen, doch dabei bleibt es nicht: Mehrere Anwendungen und Fenster können im Raum verteilt werden, jedes einzelne hübsch umrahmt und mit seinem eigenen virtuellen Schatten.

Der virtuelle Home-Bildschirm
Quelle: Apple Inc.

Und selbst wenn jedes Mitglied der Gruppe eine Vision Pro trägt, sind die Gesichter ohne Brille zu sehen. Denn übertragen wird nicht das echte Konterfei, sondern der Avatar. Der könnte allerdings genauso als Memoji oder eine beliebige andere Figur in Erscheinung treten.

Links das Dokument, rechts die Mitstreiter im FaceTime-Chat
Quelle: Apple Inc.

Technisch vom Feinsten

Doch abseits von den technischen Möglichkeiten muss das Design der Vision Pro gewürdigt werden. Apple beweist einmal mehr, zu welchen Leistungen seine Ingenieure fähig sind.

So besteht die Brille aus den leichtesten Materialien, auch wenn das genaue Gewicht nicht genannt wurde. Die gesamte Front besteht aus einem einzelnen laminierten Glas – so wie das Display der iPhones, aber gewölbt.

Es bietet gemäß Apple eine optische Qualität, die den Kameras und den Sensoren gerecht wird und den Avatar in aller Deutlichkeit zeigt.

Da tummelt sich so einiges auf der Vorderseite
Quelle: Apple Inc.

Dabei spielt das Display in einer eigenen Liga. Ich kann es kaum erwarten, das eigene Wohnzimmer aus einem neuen Blickwinkel zu sehen – im besten Sinn des Wortes. Sagenhafte 23 Millionen Pixel werden auf zwei Displays verteilt, beide so groß wie eine Briefmarke. Das sollte reichen, um die Grenzen zwischen der Realität und der Virtualität zu verwischen, denn jedes Auge bekommt mehr als eine 4K-Auflösung ab.

Die wenigen Bedienelemente haben sich bereits bei der Apple Watch bewährt: Eine Taste löst die Kamera aus, während die digitale Krone für den Aufruf des Home-Bildschirms und für die Stärke der Immersion verwendet wird.

Die grundlegende Steuerung erfolgt hingegen über dezente Gesten im freien Raum, die komplett neu entwickelt wurden. Und wenn doch einmal getippt werden muss, aber keine Tastatur zur Hand ist, blendet die Vision Pro ein virtuelles Gegenstück auf dem Schreibtisch ein.

Verarbeitung und Design bieten das, was wir von anderen Apple-Geräten kennen
Quelle: Apple Inc.

Natürlich lässt sich eine solche Brille nur dann vermarkten, wenn auch die klassischen Brillenträger damit zufrieden sind. Dazu bietet Apple in Zusammenarbeit mit Zeiss korrigierte Gläser an, die einfach in die Brille eingelegt und magnetisch gehalten werden.

Die Einlagen kompensieren die klassische Brille
Quelle: Apple Inc.

Das thermische System leitet außerdem die Luft dezent durch die Brille, sodass sie nicht beschlägt oder der Träger in Schweiß ausbricht.

Und weil die Geschmäcker verschieden sind, ist die Brille modular aufgebaut, sodass sich Elemente ersetzen oder gegen andere Materialien und Farben tauschen lassen.

Der modulare Aufbau ermöglicht einfache Anpassungen
Quelle: Apple Inc.

Die Brille lässt sich am Arbeitsplatz direkt mit Strom versorgen; in Bewegung sorgt hingegen der externe Akku für eine Laufzeit von etwa 2 Stunden. Er wird über ein magnetisch gehaltenes Kabel mit der Vision Pro verbunden und findet am Gürtel oder in der Gesäßtasche seinen Platz, sodass sein Gewicht den Komfort der Brille nicht belastet.

Einschätzung

Die Vision Pro wird unser Leben verändern. Es wird allerdings seine Zeit brauchen, bis sie auf breiter Ebene akzeptiert und – vor allem! – verstanden wird. Auch wird man dieses Gerät im Vergleich zum iPhone oder den AirPods nur selten in der freien Wildbahn antreffen.

Apple ist sich dessen wohl bewusst und wird sich auch nicht der Illusionen hingeben, dass sich die Vision Pro zu diesem Preis so gut verkaufen wird wie eine Apple Watch.

Xbox- und Playstation-Controller werden unterstützt; den Anfang bei den Spielen macht die Apple Arcade
Quelle: Apple Inc.

Dabei teilen sich die beiden Geräte dasselbe Schicksal. Bereits die erste Generation der Apple Watch kam mit einem Funktionsumfang, der jeder Beschreibung spottete – und trotzdem wurde er über die Jahre hinweg stetig ausgebaut: mit neuen Sensoren, schnelleren Prozessoren und frischen Möglichkeiten.

Heute betrachten wir mit der Vision Pro gerade einmal die Spitze eines Eisbergs. Gehörlose könnten sich die Worte als Untertitel einblenden lassen. Simulatoren bringen das Fliegen auf eine völlig neue Art bei. Der Ingenieur in Stockholm sieht sich die neue Maschine gemeinsam mit seinem Kollegen in Palermo an.

Und statt einen schnöden Videochat mit den Liebsten zu Hause zu führen, setzen wir uns gemeinsam an einen Tisch in der Strandbar. Die Möglichkeiten sind endlos – und dabei haben wir erst einen Vorgeschmack erhalten.

Die erste Generation wird vornehmlich von den Technik-Enthusiasten gekauft werden. Doch wenn diese Lawine erst einmal ins Rollen kommt, werden die Mitbewerber auf Jahre hinaus nichts vorweisen können, was auch nur in die Nähe dieser Brille kommt, während Apple die Spielregeln definiert – genau wie damals beim iPhone. Und dem iPad. Und der Apple Watch und den AirPods.

Es stimmt also, was man sagt: Geschichte wiederholt sich.

Verfügbarkeit und Preise

Die Vision Pro erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2024 und wird in den USA ohne Mehrwertsteuer ab 3499 Dollar angeboten, was vermutlich auf einen Preis von 3990 Euro hinauslaufen wird. Nicht enthalten sind die korrigierten Gläser für Brillenträger, deren Preis nicht genannt wurde.

*Klaus Zellweger ist Autor bei PCtipp.ch.


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