Europa droht das Erneuerbare-Energien-Paradoxon: Die EU sollte ihre Abhängigkeit von russischem Gas nicht gegen eine Abhängigkeit bei Schlüsselkomponenten für die Energiewende ersetzen. Erforderlich ist ein schnellerer Ausbau der erneuerbaren Energien und höhere Investitionen in grüne Schlüsseltechnologien. [...]
Capgemini hat die 24. Ausgabe des jährlichen World Energy Markets Observatory (WEMO) veröffentlicht, der in Zusammenarbeit mit De Pardieu Brocas Maffei, Vaasa ETT und Enerdata erstellt wurde. Dem Report zufolge ist es dringend notwendig, eine Balance zwischen zwei gleichermaßen wichtigen Erfordernissen herzustellen: der Versorgungssicherheit mit bezahlbarer Energie und dem Kampf gegen den Klimawandel.
Der diesjährige WEMO untersucht, wie dieses Gleichgewicht durch die Kombination von kurzfristigen Maßnahmen und langfristigen Entscheidungen erreicht werden kann. Diese betreffen etwa die Reform des Energiemarktdesigns, nachhaltige Energieversorgung und attraktive Finanzierungskonditionen für langfristige klimafreundliche Investitionen.
Martina Sennebogen, Managing Director bei Capgemini in Österreich, sagt: „In den letzten Jahren lag die Aufmerksamkeit stärker auf dem Klimaschutz als auf der Energiesicherheit. Die aktuelle Krise bietet für die globalen Energiemärkte und Regierungen die Chance, beide Themen gemeinsam voranzubringen. Indem wir jetzt Energiesparmaßnahmen sowie Solar- und Windkraftanlagen fördern und parallel die bislang größten Klimaschutzpakete effektiv umsetzen, können wir bedeutende Fortschritte in beiden Bereichen zugleich erzielen.“
Sicherheit der Gasversorgung hängt von drei Faktoren ab
Infolge des Kriegs in der Ukraine hat das langjährige Risiko, das die Abhängigkeit Europas von russischem Gas darstellt, eine Zäsur erreicht. Diese Abhängigkeit hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten durch den Rückgang der europäischen Gasproduktion und den Anstieg des Gasverbrauchs erhöht.
Sie wurde zusätzlich verschärft durch die Notwendigkeit, die Treibhausgasemissionen auf dem Weg zu Net Zero zu reduzieren, sowie durch die Stilllegung von Kernkraftwerken nach der Reaktor-Katastrophe von Fukushima.
Angesichts des erzwungenen Umstiegs Europas von russischem Gas wird die Sicherheit der Gasversorgung im kommenden Winter von drei Faktoren abhängen: von der Befüllung der Gasspeicher (die EU-Gesetzgebung schreibt vor, dass Gasspeicher bis zum 1. November 2022 zu mindestens 80 Prozent gefüllt sein müssen), von der Erschließung weiterer Gasimportquellen und insbesondere vom Erfolg der Energiesparkampagnen.
Anreize zum Energiesparen, die in vielen europäischen Ländern bereits gesetzt wurden, können potenziell einen bedeutenden Wandel auslösen.
Das Paradoxon der erneuerbaren Energien auf mittlere bis lange Sicht umgehen
Die EU hat neue Pläne zur Beschleunigung des Ausbaus regenerativer Energien entwickelt, um die Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen und die weitgehende Elektrifizierung der Wirtschaft zu erreichen.
Zu ihrer Umsetzung werden bis 2027 weitere 210 Milliarden Euro an Investitionen im Energiesektor benötigt. Gegenwärtig sind Wind- und Solartechnologien die vielversprechendsten Lösungen.
Unter den bestehenden regenerativen Lösungen hat die Solarenergie erhebliches Wachstumspotenzial, da innovative Materialien und Methoden zur Optimierung der Solarstromerzeugung zur Verfügung stehen – z. B. bifaziale Zellen, integrierte Linsen und Reverse Solar Panels, die auch nachts Strom erzeugen können.
Im Vergleich zur Windenergie sind Solaranlagen auch für die Kommunen vor Ort leichter umzusetzen. Derzeit kommen jedoch 75 Prozent aller Photovoltaik-Module aus China in die EU, was in den letzten zehn Jahren zu einem Rückgang der hiesigen Produktion geführt hat. Gemäß dem Report riskiert Europa so, die Abhängigkeit von russischem Gas durch eine Abhängigkeit von Akteuren wie China bei Schlüsselkomponenten der Energiewende wie Photovoltaik-Paneelen oder seltenen Erden und Metallen zu ersetzen.
Die europäischen Regierungen sollten die richtigen technischen, finanziellen und regulatorischen Rahmenbedingen schaffen, um eigene kritische High-End-Industriezweige wie die Produktion von Photovoltaik-Paneelen und Batterien zu entwickeln und so an Souveränität zu gewinnen.
Darüber hinaus ist eine umfassende Reform des Strommarktes erforderlich, um Investitionen in klimafreundliche Stromerzeugung zu fördern.
„In Anbetracht der aktuellen Situation müssen wir die Transformation der Energiewirtschaft stark beschleunigen und realistisch auf die Leistungsfähigkeit neuer Lösungen blicken. Aus wirtschaftlichen und technischen Gründen wird beispielsweise Wasserstoff seine Rolle als klimaneutraler Energieträger bis Mitte des Jahrhunderts nicht in vollem Umfang erfüllen können. Daher sollte grüner Wasserstoff zunächst den Industrien vorbehalten sein, in denen es schwierig ist, die CO2-Emissionen anderweitig zu senken,“ so Martina Sennebogen.
In der Zwischenzeit erlebt die Kernenergie eine Renaissance und wird als lokale Energiequelle mit zentraler Bedeutung für die Dekarbonisierung der Elektrizität und die Stabilität des Stromnetzes anerkannt.
Die Energiekrise hat außerdem dazu geführt, dass sich der Ausstieg aus der Kohleverstromung verzögert, was zu weiteren CO2-Emissionen führt. Technologien zur Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung (Carbon Capture, Usage and Storage, CCUS) sind wichtige Instrumente zum Management dieser Emissionen.
Ihre Umsetzung und Investitionen in CCUS-Anlagen müssen vorangetrieben werden. Im Jahr 2021 wurden der Bau von 97 neuen CCUS-Anlagen angekündigt; auf die USA und Europa entfallen drei Viertel aller in der Entwicklung befindlichen Projekte.
Zusätzliche Investitionen sind erforderlich, da die Kohlenstoffabscheidungskapazität bis 2030 auf 1,6 Milliarden Tonnen wachsen muss, um auf den Pfad zu Net Zero im Jahr 2050 zu gelangen; im Jahr 2021 lag die Kohlenstoffkapazität pro Jahr bei lediglich 40 Millionen Tonnen CO2.
Auswirkungen von Energieeinsparungen und Konjunkturabschwächung
Die geopolitischen Verwerfungen in Europa haben die Notwendigkeit verstärkt, die eigene Energieerzeugung auszubauen: durch erneuerbare Energien sowie – in den Ländern, die solche Projekte realisieren können – durch Kernenergie.
Obwohl die Nutzung von Kohle zugenommen hat und die Treibhausgas-Emissionen in den Jahren 2022 und 2023 wahrscheinlich höher sein werden als im Jahr 2021, gibt es zwei Faktoren, die diesen Auswirkungen entgegenwirken dürften: Erstens könnten Energieeinsparungen einen positiven Einfluss auf die Treibhausgasemissionen haben.
Zweitens ist davon auszugehen, dass die weltweite Konjunkturabschwächung in der zweiten Jahreshälfte 2022 zu einem Rückgang des Energieverbrauchs und der damit verbundenen Treibhausgasemissionen führen wird.
Ungeachtet der derzeitigen Krisen ist der politische Wille zur Bekämpfung des Klimawandels weiterhin vorhanden und wächst bei den weltweit größten Emittenten. Das zeigen Pakete der EU wie Fit for 55 und REPowerEU ebenso wie das 430 Milliarden US-Dollar schwere Inflationsreduktionsprogramm der Biden-Regierung und aktualisierte nationale Klimaschutzpläne von Ländern wie Indien.
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