Etablierte IT-Strukturen fit machen: 6 Prinzipien zur agilen IT-Organisationsaufstellung

Viele Unternehmen richten aktuell die IT-Strukturen auf die Veränderungen der Digitalisierung aus. Zentrale Silos weichen dabei teamorientierten Netzwerken. Wir zeigen, wie der Wandel gelingt. [...]

Zentralisierte IT-Einheiten und -Abteilungen stehen kurz davor für Unternehmen irrelevant zu werden. Über lange Jahre aufgebaute und zentrale Linienstrukturen auf Basis der Trennung von Entwicklung und Betrieb werden aufgebrochen und durch interdisziplinäre Teamarbeit oft im Zusammenspiel mit dem Geschäft ersetzt. Aktuell beschäftigen sich deshalb viele Verantwortliche innerhalb und außerhalb der IT mit der Frage, wie dieser Wandel gelingen kann. Im Kern geht es dabei immer um die Frage der Überwindung von Struktursilos sowie dem Mut, den „großen“ Sprung zu wagen.
Silos zwischen Geschäft, Entwicklung und Betrieb aufbrechen
Ein Blick auf die heutigen IT-Strukturen in Unternehmen zeigt in vielen Fällen die „klassische“ Trennung von Geschäft, Entwicklung und Betrieb. Über die Jahre hinweg sind so organisatorische „Silos“ entstanden, die getrennt voneinander agieren. Sie bilden Struktureinheiten, die sich nach außen in der Form abgrenzen, dass sie nicht oder nur schwer mit anderen Einheiten zusammenarbeiten.
Die Lösungen von gestern sind die Probleme von heute. Denn die „Siloisierung“ war die Reaktion auf den Anspruch der Unternehmen, IT-Kosten zu sparen. So wurden gleiche oder ähnliche IT-Funktionen organisatorisch gebündelt und zusammengefasst, um einen möglichst großen Grad an Standardisierung zu erreichen. Ebenfalls war die Erwartung, dass Synergien und Skaleneffekte in gleicher Weise einen Beitrag dazu leisten, die IT-Kosten im Zaum zu halten. In manchen Fällen hat dies auch tatsächlich den gewünschten Effekt gezeigt, wenn es z.B. darum ging, Technologien zu zentralisieren und Leistungen über Services bereit zu stellen. Dies spiegelt sich dann auch in den zugehörigen Prozessen wieder. So ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Unternehmen mit der Einführung agiler Prozesswelten schwer tun, weil eine Gesamtorchestrierung fehlt.
Allerdings hat der Kostenfokus dazu geführt, dass die Nutzenseite von Informationstechnologie lange Zeit außer Acht gelassen wurde. Wer erinnert sich nicht an die, aus heutiger Sicht falsche These und Aussage von Nicholas Carr, dass Informationstechnologie ein „Commodity“ darstellt und nicht zur Wertschöpfung von Unternehmen beiträgt. In dieser Logik wäre der heutige Erfolg von Unternehmen wie Amazon, Google, INGDiBa oder Spotify nicht zu erklären. Sie gelten heute als Aushängeschilder moderner Organisationsgestaltung.
Trotz des Zugewinns an Effizienz ist mit der Einführung von Fließbandfertigung und arbeitsteiliger Organisationmodelle ein großer Nachteil verbunden: End-to-End-Wertschöpfungsketten haben sich derart zergliedert, dass Wertströme Wasserfall-orientiert durch die Einheiten laufen. Die Definition von Eingangs- und Ausgangskriterien, ursprünglich gedacht, um ein nahtloses Zusammenspiel zwischen den einzelnen Arbeitsvorgängen zu gewährleisten, hat in der Praxis häufig dazu geführt, dass immer höhere Barrieren entstanden sind. Schlimmstenfalls geht es am Ende nur noch darum, das eigene Terrain abzusichern. Kommentare wie „Das Business weiß nicht was es will“ oder „wenn nur IT auf seine Versprechen liefern könnte“ sind Symptome für diesen Zustand. Hohe Reibungsverluste und lange Wartezeiten sind die beobachtbaren Konsequenzen. Am Ende nimmt niemand übernimmt mehr Verantwortung für den Gesamtprozess. Im Ergebnis entsteht daraus zu wenig Nutzen für das Geschäft. Zentrale Konfigurationen haben in der Vergangenheit funktioniert – sind aber ein Problem im Zuge der Digitalisierung. Die Frage ist, wie viel zu dezentralisieren ist und welche Dimensionen betroffen sind.
Netzwerkorientierte IT-Strukturen entwickeln
Unternehmen, wie die bereits erwähnten Amazons und Googles, zeigen, wie es auch anders gehen kann. Anstelle eine Ausrichtung an Aktivitäten und Funktionen mit einer Spezialisierung auf Wertstromausschnitte, konzentrieren sich diese zunächst auf ganzheitliche Betrachtung der Wertschöpfungskette. Sie zielen darauf ein Produkt auf dem Markt zu bringen oder einen Service am Markt zu etablieren. Die Architektur kann hier permanent umgestaltet werden (organische Architekturen). Dies gelingt nur durch interdisziplinäre Arbeit im Team. Das Team steht im Zentrum und ist für das Ergebnis (das Produkt oder den Service) verantwortlich. Verantwortung wird also nicht mehr zentral über alle Einheiten wahrgenommen sondern dezentral auf Teams verteilt. Anstelle eines einmaligen Super-Tanker-Projekts mit einem definierten Start- und festgelegtem Ende-Datum steht eine kontinuierliche Arbeit am Produkt oder am Service. Dies setzt voraus, dass sich die hierfür erforderlichen Kompetenzen auch im Team befinden. Anstelle einer Bündelung von Spezialisten finden sich in den Teams Generalisten zusammen.
Teams sind keine neue Idee – neu ist das vorgeschlagene Ausmaß an Interdisziplinarität. Agile Software-Entwicklungsteams waren schon immer funktionsübergreifend in Bezug auf Architekten, Analysten, Entwickler und Tester. Mit DevOps erweitert die Cross-Funktionalität die Bereitstellung um IT-Betriebsthemen. Für eine vollumfängliche IT- und Business-Agilität muss der Kreis weiter expandieren. Dedizierte Business Product Owner, UX Designer, Vertrieb, Marketing und Support gehörten in die Teams integriert.
Interdisziplinäre Teams sind damit das Instrument, um über die über Jahre gewachsenen Organisationsstrukturen hinweg wieder klarere Verantwortlichkeiten zu schaffen – Verantwortung für Ergebnisse, jenseits von Verzögerungen, die aufgrund von Missverständnissen, Redundanzen, Zuständigkeitsgerangel und ähnlichem Problemen entstehen. Ein solches Team arbeitet mit verschiedenen Spezialisierungen, um gemeinsam an einem Ergebnis arbeitet. In der Konsequenz verändert sich auch die Projektwelt. Einzelprojekte werden durch autonome Teams selbstbestimmt und werden viel stärker als früher durch Inhaltlichkeit geprägt. Die Komplexität in der Orchestrierung von Teams steigt deutlich und erfordert definierte Leitplanken und Disziplin „von außen“.
Viele IT-Verantwortliche hadern mit dem Umfang an Veränderung. Das Wagnis eines großen Sprungs ist für Sie zu groß. So entstehen aktuell in vielen Unternehmen hybride Organisationsformen auf dem Weg zu team-orientierten Netzwerkstrukturen. In diesen wird das Arbeiten in Teams innerhalb bestehender oder neuer Teamstrukturen verprobt – ein wesentliches Element in Richtung einer Kulturveränderung. Dies muss allerdings mit dem vollen Bewusstsein passieren, dass diese Strukturen lediglich „Transformationsorganisationen“ darstellen – also der permanenten Anpassung und Veränderung unterliegen. Dies stellt dann eine Herausforderung in der Abstimmung der Strukturentwürfe mit den Mitarbeitergremien und Betriebsräten dar, da diese meist auf mittel- bis langfristigen „Stabilität“ im Organisationsentwurf setzen.
Neue Lösungsmuster zur Veränderung anwenden
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“. Dieses Zitat von Albert Einstein lässt sich auf die Entwicklung moderner IT-Organisationen anwenden. Versuche IT-Organisationen von innen heraus zu verändern, sind nicht selten von wenig Erfolg gekrönt. Bisherige Strukturen und Systeme weisen oft erstaunliche Beharrungstendenzen auf und etablierte Liniengrenzen stehen der Veränderung oft im Weg. Hinzu kommt, dass die Führungskräfte in den Organisationseinheiten nach bisherigem Sicherheitsschema denken und arbeiten. Organisatorische Veränderungen stellen sich so in vielen Fällen am Ende als „Null-Nummer“ heraus. Die damit verbundenen Ziele werden nicht erreicht und die erhofften Effekte materialisieren sich nicht.
Sicher ist auch, dass es nicht die eine „Organisationsstruktur“ für alle gibt. Jede Organisation hat ihre eigene Kultur, ihre eigenen Kunden und ihre eigene Art der Zusammenarbeit. Es gibt keine Universallösungen. Trotzdem gibt es aus bisherigen Erfahrungen einige Prinzipien, die den Reorganisationserfolg maßgeblich beeinflussen.
1. Sichern Sie das Engagement und Unterstützung des Top-Managements
Ohne volles Engagement, Unterstützung und Veränderung der Führungskräfte ist eine Veränderung nahezu unmöglich. Dies beginnt bei entsprechenden Leitlinien und endet bei eher profanen Dingen, wie z.B. die Bereitstellung von Räumlichkeiten für die inter-disziplinärer Teamarbeit.
2. Stellen Sie ein interdisziplinäres Reorganisationsteam zusammen
Die erfolgreiche Veränderung erfordert die Beteiligung von „Meinungsführern“ in der Organisation – sowohl „Befürworter“ als auch „Kritisierer“. Weiterhin ist es wichtig, dass einer der führenden und einflussreichsten Führungskräfte, dieses Team anleitet und unterstützt und auch die Mitarbeitervertretung beteiligt wird. Weiterhin bietet sich die Beteiligung erfahrener externer an, um möglichst frühzeitig externe Impulse in die Teamarbeit einzubringen, sodass diese bei der Lösungserarbeitung berücksichtigt werden können. Damit ergibt sich in Summe eine gute Mischung aus Kompetenz und Führung und das Prinzip „Team“ wird bereits vorgelebt. Dabei gilt es zu beachten, dass auch dieses Team die bekannten Phasen „Forming“, „Storming“, „Norming“ und „Performing“ durchläuft.
3. Entwickeln Sie eine Veränderungsstory
Dringlichkeit ist die Voraussetzung zu nachhaltiger Veränderung. Darauf aufbauend ist eine Veränderungsgeschichte („Story“) zu entwickeln und zu visualisieren, die für alle verständlich erzählt werden kann. Eine solche wird benötigt, um zu kommunizieren, zu beruhigen und zu begeistern. Eine kraftvolle Story mit einer Veränderungsvision, warum die Transformation geschieht, wird die Menschen mehr mitnehmen als eine 100-Seitige Folienpräsentation. Auch hierbei sind externe Impulse hilfreich.
4. Denken Sie groß, beginnen Sie klug und experimentieren Sie
Pilotieren und validieren Sie ausgewählte Aspekte der Reorganisation. Nehmen Sie ein kleines Team und geben ihnen die entsprechenden Freiheiten. Damit werden „im Kleinen“ Erfolgstories geschaffen, wie sich die Organisation „im Großen“ verändern kann.
5. Schaffen Sie messbare Transparenz
Wir messen, um zu verstehen und um zu lernen. Messen und bewerten ist der Schlüssel zum Verständnis über den Erfolg der Strukturveränderung. Vom ersten Tag an muss das Thema Messen und Bewerten Bestandteil der Teamarbeit sein. Fortschritte sind permanent transparent zu machen. Der Fokus sollte dabei auf Nutzen und nicht auf Kosten liegen.
6. Feiern Sie Erfolge
Stellen Sie sicher, dass die Erfolge des Teams für das ganze Unternehmen so sichtbar wie möglich sind und wenigstens mit kleinen Gesten gefeiert werden. Erfolgsstorys und das Feiern von Erfolgen hat bei der Veränderungsarbeit eine große psychologische Wirkung. Es generiert einen Pull-Effekt, in dem andere die agilen Veränderungen nachahmen. Jeder Erfolg scheint eine Gruppe leidenschaftlicher Evangelisten zu schaffen, die es kaum erwarten können, um anderen in der Organisation davon zu erzählen.
Gelten die geschilderten Prinzipien für alle Unternehmen gleichermaßen? Ja und nein. Die Zielsetzungen für Veränderung sind unterschiedlich ausgeprägt und die Schwerpunkte werden von Unternehmen zu Unternehmen verschieden gesetzt. Insofern erfahren die Prinzipien eine unterschiedliche Priorisierung und Gewichtung.
Auf Erfahrungen aus anderer Unternehmen bauen
Die Erarbeitung von neuen Organisationsstrukturen gehört nicht zum Standard-Repertoire von IT-Führungskräften. Dennoch wird von Ihnen erwartet, dass sie die hierfür erforderlichen Fähigkeiten und Kompetenzen mitbringen, um eine effektive und effiziente IT-Struktur entlang der geschilderten Prinzipien zu entwerfen und umzusetzen. In vielen Fällen resultiert daraus ein suboptimales Ergebnis, denn (1) IT-Führungskräften fehlen oft Erfahrungen im modernen IT-Organisationsdesign (2) das bisherige System zeigt Tendenzen zur Beharrlichkeit und Beibehaltung bisheriger Strukturen und (3) Impulse zur Veränderung sind im „eigenen“ System nicht stark genug.
Qualifizierte und erfahrene externe Berater können hier für Abhilfe sorgen. Als Moderatoren, Vermittler und Prozessbegleiter unterstützen sie bei der Entwicklung und Umsetzung einer IT-Aufbauorganisation über verschiedene Ebenen innerhalb der IT-Organisation hinweg. Weiterhin bringen Sie eine objektivierte Neutralität, die gerade in der politischen Klärung struktureller Fragen von Vorteil ist. Am Ende sorgen sie auch für eine orchestrierte Betrachtung von Struktur, Prozessen und Architektur. Eine neue Struktur ohne Veränderungen in den Prozessen und der Architektur wird genauso erfolglos sein, wie der Versuch agile Prozesse einzuführen ohne mittelfristig Strukturen anzupassen oder die technologischen Voraussetzungen hierfür zu schaffen.
Die Nutzung von und den Zugriff auf Erfahrungen aus anderen Umgebungen führt im Normalfall zu größeren Veränderungen mit geringeren Produktivitätsverlusten. Trotz aller Vorbereitung bleibt am Ende die Herausforderung, den Sprung ins Neue zu wagen. Nach Einstein ist die reinste Form des Wahnsinns, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.
* Oliver Laitenberger leitet bei der Managementberatung Horn & Company das Kompetenzzentrum Digitalisierung und Technologie.

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