Die Beratungen der 28 Staats- und Regierungschefs zeigen erneut, wie riesig die Kluft zwischen Analyse und Umsetzung in der EU ist. Denn erneut werden Entscheidungen wohl vertagt. [...]
Zumindest in der Analyse sind die Europäer stark. „Bis 2020 könnte Europa sein Wirtschaftswachstum um vier Prozent steigern, indem es die schnelle Entwicklung des digitalen Binnenmarktes vorantreibt“, hat die EU-Kommission den Staats- und Regierungschefs ins Stammbuch geschrieben. Auch deshalb wurde die „digitale Agenda“ zum Thema des EU-Gipfels am Donnerstag in Brüssel gewählt.
Nach der Vertagung wichtiger Entscheidungen schieben sich EU-Kommission, Europäisches Parlament und Mitgliedstaaten erneut gegenseitig die Schuld dafür zu. Wegen des bevorstehenden Endes der Amtszeiten für Parlament und EU-Kommission drohen sich weitreichende Entscheidungen für den sich sehr schnell entwickelnden IT-Markt bis ins Jahr 2015 zu verzögern. Für die vom Europäischen Parlament kürzlich auf den Weg gebrachte neue Datenschutzverordnung fürchtet der federführende Abgeordnete Jan Philipp Albrecht von den Grünen eine Umsetzung sogar erst 2016.
Obwohl die NSA-Enthüllungen und die gigantischen Wachstumszahlen der US-IT-Konzerne aller Welt gezeigt haben, wie groß der amerikanische Vorsprung ist, tut sich nicht viel. In fast allen Bereichen hinkt die EU hinterher. Die Europäer werden nach Einschätzung der EU-Kommission mittlerweile nicht nur von den USA und China, sondern auch von Japan und Südkorea abgehängt. Die Probleme beginnen bei der Ausbildung. Obwohl viele EU-Staaten über hohe Arbeitslosenzahlen klagen, warnt die EU-Kommission, dass die Ausbildung von IT-Experten in der EU trotz rasant steigender Nachfrage stagniert. Bereits 400.000 Arbeitsplätze im IT- und Kommunikationsbereich können schon heute in der EU nicht besetzt werden, weil Experten fehlen. Bis 2015 soll die Zahl auf eine Million steigen, schätzt die Kommission.
Viele Studien zeigen zudem, dass ein Hemmnis für die Entwicklung der digitalen Internet-Wirtschaft das mangelnde Vertrauen der Verbraucher in Datensicherheit ist – und die Angst hat durch die NSA-Abhöraffäre besonders in Deutschland massiv zugenommen. Dennoch wird der Flickenteppich aus 28 sehr unterschiedlichen Datenschutzniveaus in der EU, den etwa US-Konzerne auf der Suche nach einem niedrigen Standards ausnutzen, noch eine Weile weiter bestehen. „Dabei wäre die Datenschutzverordnung für EU-Firmen ein Wettbewerbsvorteil, weil die Menschen wüssten, dass ihre Informationen dort geschützt sind“, argumentiert der Europa-Abgeordnete Albrecht.
Nun aber deutet die Bundesregierung an, dass in diesem Jahr keine Einigung mehr für die Verordnung fallen dürfte. Während etwa Berlin der Kommission schlampige Vorarbeit vorwirft, beklagt die Brüsseler Behörde Widerstand der Mitgliedstaaten. Tatsächlich haben Länder wie Großbritannien oder Irland aber kaum ein Interesse an strengeren Standards. Das hat wirtschaftliche Gründe (Irland) und sicherheitspolitische bei den Briten, die selbst nach Angaben des NSA-Enthüller Edward Snowden massive Wirtschaftsspionage gegen die Partner betreiben.
Deshalb werden auch die Steuerschlupflöcher, mit denen gerade amerikanische IT-Konzerne ihre Steuerlast herunterrechnen, nicht geschlossen, weil etwa Irland diese als Standortvorteil sieht. Obwohl die Debatte seit langem gärt, hat EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso aber erst jetzt kurz vor dem Gipfel eine Kommission eingesetzt, die prüfen soll, wie man die Löcher stopfen kann. Vor 2015 dürfte auch hier zur Freude von Konzernen wie Google oder Amazon nichts geschehen.
Seit Jahren fordert die EU-Kommission zudem verstärkte Investitionen zum Ausbau etwa von Breitbandverbindungen und untermauert dies in ihrer Vorlage für den Gipfel mit drastischen Zahlen. Danach befinden sich 88 Prozent der Nutzer des modernen 4G-Mobilfunkstandards in den USA, Japan und Korea. Europas Anteil beträgt sechs Prozent. In Südkorea verfügen 58 Prozent der Haushalte über eine Glasfaserkabelanbindung, in Europa sind dies nur fünf Prozent, weil die meisten Mitgliedstaaten die Entwicklung verschlafen haben. Nun sind zwar im EU-Finanzrahmen bis 2020 einige Milliarden bereitgestellt, aber bis das Geld fließt, wird es dauern. Seit Anfang 2013 liegt ein Verordnungsentwurf der Kommission über vereinfachte Zulassungsverfahren vor, der aber ebenfalls noch nicht von den Mitgliedstaaten verabschiedet wurde.
Erst am Anfang steht die durch die NSA-Debatte aufgeworfene Frage nach einer strategischen Antwort der Europäer auf den amerikanischen und chinesischen Vorsprung in der IT-Technologie. Frankreich ist hier mit einer staatlichen Förderung der Cloud-Technologie zum Aufbau heimischer Datenbanken vorangeprescht – auch aus Sicherheitsgründen. In Deutschland hat ebenfalls eine Debatte über einen möglichen „IT-Airbus“ begonnen, bei dem die Europäer mit Geld und politischer Entschlossenheit eigene IT-Kapazitäten aufbauen könnten. Aber der Weg ist mühsam, zumal schon der einst angestrebte Aufbau einer eigenen Chip-Industrie angesichts der sich viel dynamischer entwickelnden Weltmärkte gescheitert ist. Zudem ist nicht klar, ob man angesichts des gegenseitigen Misstrauens auch in der EU nicht eine deutsche oder deutsch-französische Lösung forcieren sollte.
Und wie seltsam Europa agiert, zeigt etwa die Kritik der EU-Kommissarin Neelie Kroes an der Ankündigung der Deutschen Telekom, künftig sicherzustellen, dass innerhalb Deutschlands versandte Emails nicht mehr über die USA oder andere Länder umgeleitet werden. Die Telekom wirbt damit, dass damit wieder Vertrauen hergestellt und das Risiko des Abhörens fremder Dienste begrenzt werden könne. Kroes sieht darin eine Gefährdung des Binnenmarktes.
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