Forderungsmanagement: Die digitale Plattform für Inkasso

Arvato Financial Solutions macht in Sachen digitaler Transformation keine halben Sachen und hat sein Inkasso-Geschäft von Grund auf neu konzipiert. Auf der neuen Plattform Paigo steht der Mensch im Mittelpunkt. [...]

Selbst ein so sprödes Thema wie Inkasso lässt sich digitalisieren und damit für alle Beteiligten besser handelbar machen (c) pixabay.com

Das Inkasso-Geschäft verändert sich, das bekommt auch Arvato Financial Solutions zu spüren. Zu den Herausforderungen zählt beispielsweise, dass Verbraucher zunehmend schneller die Übersicht über ihre Finanzen verlieren. Das liegt auch daran, dass Konsum immer einfacher wird. Konsumenten kaufen auf Kredit und in Raten wie noch nie.

Das Ergebnis: etwa 6,9 Millionen Bürger in Deutschland sind überschuldet. Dazu kommt, dass neue digitale Geschäftsmodelle die Komplexität erhöhen. Auch das regulatorische Umfeld verschärft sich: Im Januar 2021 trat das Gesetz zur Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkasso in Kraft. Es wird zu Umsatzeinbußen von bis zu 30 Prozent in der gesamten Branche führen, schätzen Volker Bornhöft, Mitglied der Geschäftsführung bei Arvato Financial Solutions, sowie Florian Lampe und Sven Schneider, beide Geschäftsführer bei Paigo.

Dem Finanzdienstleister war klar, dass er sein Geschäft verändern musste, zumal neue Konkurrenz von Seiten Internationaler Tech-Unternehmen droht, die einen stärkeren IT- und Datenfokus verfolgen und an entsprechenden skalierbaren Lösungen arbeiten. Diese Gemengelage gab den Anstoß zur Gründung von Paigo, einem Fintech, das Inkasso neu denken sollte. Mit dieser Idee und der Art und Weise wie das folgende Projekt umgesetzt wurde, beindruckten die Verantwortlichen die Juroren des Digitale Leader Award (DLA) 2021.

Zwei Ziele – ein Widerspruch?

Am Anfang stand die Frage, wie sich zwei scheinbar widersprüchliche Ziele unter einen Hut bringen lassen: Wie Unternehmen durch schnellere Begleichung ihrer Forderungen ihre Liquidität verbessern können, und wie Verbraucher in Zahlungsschwierigkeiten ihre finanziellen Verhältnisse wieder eigenständig managen können. „Beides ist jetzt, mitten in der Corona-Pandemie, dringlicher denn je“, konstatierten die Initiatoren von Paigo und stellten fest: „Dafür braucht es eine gänzlich neue Lösung, einen Ansatz, der mit allem Bisherigen bewusst bricht.“

Als Lösung bot sich eine digitale Plattform für das Forderungsmanagement an. Allerdings sollte diese einem neuen Leitgedanken folgen: Der Mensch sollte in den Mittelpunkt gerückt werden. „Wir verändern unsere bisherige Betrachtung vom ‚Konsumenten als Schuldner‘ zum ‚Konsumenten als Kunden‘ und betrachten seine spezielle Lebenssituation“, heißt es bei Paigo. Dazu gehöre auch eine persönliche, individuelle Kommunikation, die direkt in die neue digitale Inkassoplattform integriert ist. Außerdem sollen sich die Nutzer dort einen finanziellen Überblick verschaffen, Schulden managen und Wissen aufbauen können.

„Wir begleiten Finanzprozesse entlang des gesamten Customer-Life-Cycles“, so die Verantwortlichen des Fintechs. Dieses Wissen habe man genutzt, um eine übergreifende IT- und Datenplattform aufzubauen, die bestehende Standardprodukte über APIs (Application Programming Interface) beziehungsweise Microservices miteinander vernetzt und nutzbar macht. Darüber hinaus entwickeln dedizierte Product Owner und interdisziplinäre Teams Features kontinuierlich weiter.

Mit KI zu einer individuelleren Ansprache

Beispielsweise eine automatische Anliegenerkennung mittels KI: Das sorgt für mehr Effzienz und Qualität. Zudem lassen sich Verbraucher in Gruppen clustern, um eine individuellere Ansprache zu ermöglichen. Die Funktion „Blick ins Konto“ hilft Nutzern, schneller und einfacher Ratenzahlungen zu vereinbaren und Potentiale zum Sparen ausfindig zu machen. Die digitale Selbstauskunft soll für mehr Transparenz und Kontrolle über offene Forderungen sorgen und ein digitales Finanzlexikon und ein Finanzratgeber vermitteln Wissen.

Für den Bau der Plattform hat sich Paigo auch einen kulturellen Wandel sowie eine agile Organisationsentwicklung verordnet. „Mittels Design Thinking, Scrum und Lean Startup füllen wir strategische Ziele mit Leben“, sagen die Verantwortlichen. Man habe hierarchisches Denken durch Selbstverantwortung ersetzt. Fortschritte würden mithilfe von OKRs (Objectives and Key Results) gemessen. „Wir reflektieren und adaptieren als digitale Wachstumsorganisation kontinuierlich, was wir tun.“ Dazu kommt eine enge mit allen Beteiligten. Die Lösung wird in Co-Creation mit den Mandanten entwickelt. So ließen sich neue Produkte an spezifische Kundenbedürfnisse anpassen, gemeinsam Standards setzen und die Kundenbindung stärken. Digitale Self-Service-Portale sorgten für Transparenz und offerierten datengestützte Entscheidungsgrundlagen basierend auf individuellen KPIs.

Plattformökonomie verändert Inkasso-Unternehmen

Die ersten Zahlen belegen, dass die Plattform bei allen Beteiligten gut ankommt. Seit dem Launch von Paigo sei die Zahl der Kontakte mit Verbrauchern um 15 Prozent gestiegen, hieß es. Diese würden das neue Portal außerdem gut bewerten: mit durchschnittlich 4,5 von möglichen 5 Sternen. Außerdem sind rund drei Viertel der direkten Kommentare positiv. Auch für die Mandanten lohnt sich Paigo: Die Zahlungsbereitschaft der Portalnutzer liegt um 25 Prozent höher, konstatiert das Fintech. Zudem bewirke die verstärkte Nutzung digitaler Kanäle, dass die Rückflüsse im Mittel einen Tag früher erfolgen. Zudem habe sich die Lösungsquote bei Reklamationen deutlich gesteigert. Und auch die eigenen Mitarbeiter seien zufriedener und zeigten ein höheres Engagement, wie regelmäßige Befragungen belegen.

Mit der Technologie-Plattform paigo.com sind wir näher an Verbraucher gerückt, und über Co-Creation-Projekte näher an unsere Mandanten, lautet das Fazit der Fintech-Verantwortlichen. Das Projekt habe gezeigt, wie sehr die Plattformökonomie auch die Rolle der Inkasso-Unternehmen insgesamt verändern kann. Es sei deutlich geworden, wie wichtig die User Experience von Endkunden im Forderungsmanagement ist. „Nie zuvor waren Inkasso-Unternehmen so sehr gefordert, auf die Bedürfnisse von Verbrauchern einzugehen.“

Für Arvato Financial Solutions war die digitale Transformation genau der richtige Weg. Durch die Entwicklung zu einem Fintech-Unternehmen habe man die Voraussetzungen geschaffen, die eigene Innovationsfähigkeit erheblich zu steigern. „Wir konnten Interaktionen digitalisieren, Prozesse effizienter gestalten, Komplexität senken und somit Ressourcen besser einsetzen.“ Doch Paigo dürfte nur der erste Schritt gewesen sein. „Wir befinden uns auf einer Reise, bei der wir wissen, dass wir niemals ankommen werden“, stellen die Verantwortlichen fest. Fernab tradierter Pfade gebe es immer Neues zu entdecken. Dafür brauche es Mut, Willen und die Bereitschaft, Dinge auszuprobieren, sowie ein hohes Vertrauen in Mitarbeiter.

*Martin Bayer: Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP; Betreuung von News und Titel-Strecken in der Print-Ausgabe der COMPUTERWOCHE.


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