Gastkommentar: Führungskraft und Change-Manager zugleich

Führungskräfte stehen heute häufig vor der Herausforderung, dass neben der Alltagsarbeit in ihren Bereichen noch Change-Projekte laufen. Deshalb müssen sie zugleich Change-Manager sein. Hierfür benötigen sie spezielle Kompetenzen. Michael Schwartz, Leiter des Instituts für integrale Lebens- und Arbeitspraxis (ilea) in Esslingen, hat die wichtigsten zusammengefasst. [...]

Kompetenz 1: den „Change“ als Normalität begreifen
Die technische Entwicklung schreitet rasant voran; ebenso die (digitale) Vernetzung in den Unternehmen sowie zwischen den Unternehmen und ihrer Umwelt. Deshalb ist das Thema Change, sprich Veränderung, heute ein Dauerthema im Betriebsalltag. Das heißt, die Notwendigkeit, das eigene Verhalten zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern, um in neue Rollen hineinzuwachsen, ist ein elementarer Teil der Alltagsarbeit. Und die Aufgabe, Changeprozesse zu initiieren, zu managen und zu steuern? Sie hat sich zu einer Kernaufgabe von Führung entwickelt. Dieses Bewusstsein haben viele Führungskräfte noch nicht verinnerlicht. Sie betrachten das Managen von Changeprozessen häufig noch als eine Zusatzaufgabe, die sie neben ihrer Führungsaufgabe zu erfüllen haben. Deshalb setzen sie bei ihrer Arbeit die falschen Prioritäten – was oft zu einer realen oder gefühlten Überlastung führt.
Kompetenz 2: mit Komplexität umgehen können
Infolge der technologischen Innovation und wachsenden Vernetzung werden die Strukturen in den Unternehmen und deren Märkte stets komplexer. Das heißt, die Führungskräfte müssen mit veränderlichen Zielen rechnen, immer mehr Einflussfaktoren beachten sowie mehr experimentieren und Risiken eingehen. Trotzdem müsse sie entscheidungsbereit und -fähig sein – selbst auf die Gefahr hin, mögliche Fehlentscheidungen zu treffen. Zugleich müssen sie bereit sein, ihre Entscheidungen zu revidieren – zum Beispiel, wenn sich gewisse Annahmen, unter denen sie ihre Entscheidungen trafen, sich als unzutreffend erweisen oder sich Umfeldfaktoren ändern. Das setzt eine hohe Selbst-Reflektionsfähigkeit und -bereitschaft seitens der Führungskräfte voraus. 
Kompetenz 3: mit Unsicherheit und begrenzter Planbarkeit leben können
Wie sieht in fünf oder gar zehn Jahren unser Markt aus? Welche (technischen) Problemlösungen sind dann möglich? Das weiß heute kein Unternehmen. Deshalb haben die Entscheidungen der obersten Unternehmensführer eine immer geringere Halbwertszeit. Das heißt für die Führungskräfte: Sie agieren häufiger in einem Umfeld, das von Unsicherheit geprägt ist. 
Zudem stehen sie und ihre Bereiche häufiger vor Herausforderungen und Aufgaben, mit deren Lösung sie noch keine Erfahrung haben. Deshalb müssen sie sich von der Fiktion verabschieden, komplexe Aufgaben und Changevorhaben seien vom Anfang bis Ende planbar. Stattdessen gilt es, sich mit anfangs kleinen, wohl überlegten Veränderungsschritten allmählich an die mögliche Problemlösung heranzutasten und die Auswirkungen jedes Schritts zu reflektieren, bevor die nächsten Schritte geplant und ergriffen werden. Das Bewusstsein für ein solch iteratives Vorgehen gilt es auch den Mitarbeitern zu vermitteln; ebenso das Bewusstsein: Pläne sind keine „heiligen Kühe“, die nicht geschlachtet werden dürfen. Im Gegenteil: Sie müssen oft „geschlachtet“ werden, wenn….
Kompetenz 4: den typischen Verlauf von Change-Prozessen kennen
In jedem Changeprojekt gibt es verschiedene Phasen. Auf eine Anfangseuphorie folgt oft das sogenannte „Tal der Tränen“. Das heißt, die Mitarbeiter erkennen zum Beispiel: Die Auswirkungen für uns sind größer als gedacht. Oder: Das neue Vorgehen ist schwieriger als gedacht. Die typischen Phasen eines Change-Prozesses müssen Führungskräfte kennen – nicht nur, damit sie nicht völlig überrascht und unvorbereitet sind, wenn ihre Mitarbeiter plötzlich klagen, sondern auch, weil diese gerade in den schwierigen Phasen eines Changeprojekts Unterstützung brauchen. 
Kompetenz 5: sensible Kommunikatoren sein
Mitarbeiter reagieren – zum Beispiel aufgrund ihrer Persönlichkeit, beruflichen Erfahrung und Position – auf dieselbe Information verschieden. Erlebt zum Beispiel der Eine die Nachricht „Wir führen ein neues IT-System ein“ als Herausforderung, ist diese für einen Anderen eine Bedrohung. Entsprechend sensibel sollten Führungskräfte ihre Botschaften verpacken und vermitteln. Sie müssen zudem darauf achten, dass sie ihre Mitarbeiter nicht überfordern – zum Beispiel, weil sie die Informationsflut, die auf sie einprasselt, ungefiltert weitergeben. Sie sollten das Relevante vom Irrelevanten trennen und die Einzelinfos so verdichten, dass hieraus klare und packende Botschaften werden. Zudem sollten sie mit ihren Kollegen in den anderen Bereichen vereinbaren, welche Infos sie wann ihren Mitarbeiter geben, damit diese keine unterschiedlichen Infos erhalten. Außerdem dürfen sie ihren Mitarbeitern keine Versprechen geben, von denen sie nicht 100-prozentig sicher sind, dass sie diese einhalten können – selbst wenn die Mitarbeiter sie noch so sehr bedrängen.
Kompetenz 6: Sinn vermitteln und stiften können
Betriebswirtschaftliche Ziele wie „Wir wollen den Ertrag um 10 Prozent erhöhen“ oder „Wir wollen die Bearbeitungszeit um 30 Prozent verkürzen“ sind zum Steuern von Unternehmen wichtig, doch sie vermitteln den Mitarbeitern keinen Sinn. Also motivieren sie diese auch nicht, sich für das Erreichen der Ziele zu engagieren. Hierfür ist Übersetzungsarbeit seitens der Führungskräfte nötig. Zum Beispiel: „Wenn wir den Ertrag erhöhen, können wir mehr Geld für die Forschung ausgeben, so dass die Existenz unseres Unternehmens und somit ihr Arbeitsplatz langfristig gesichert ist.“ Oder: „Wir wollen die Bearbeitungszeiten verkürzen, damit unsere Kunden zufriedener sind. Das wirkt sich auch positiv auf die Atmosphäre in den Gesprächen aus, die wir mit ihnen führen.“ Wichtig ist, dass der Sinn in einem direkten Bezug zu den betroffenen Mitarbeitern steht; des Weiteren, dass der konstruierte Sinnzusammenhang glaubhaft ist, denn die Mitarbeiter sind nicht dumm. Zudem müssen die Führungskräfte, die ihn vermitteln, selbst daran glauben. Sonst wirken ihre Aussagen unglaubwürdig – unter anderem, weil dann ihre Körpersprache und ihre gesprochenen Worte divergieren. 
Kompetenz 7: die Klaviatur der Akzeptanzbildung spielen können
Wenn Mitarbeitern eine geplante Veränderung verkündet wird, dann fällt es ihnen oft schwer, diese zu akzeptieren – nicht nur, weil sie an deren Sinnhaftigkeit, sondern auch Realisierbarkeit zweifeln. Dann stehen ihre Führungskräfte vor der Herausforderung, ihnen außer der Sinnhaftigkeit des Vorhabens auch zu vermitteln, dass das Erreichen des angestrebten Ziels realistisch ist – selbst wenn sie selbst noch nicht wissen, wie dies möglich ist. 
Am einfachsten gelingt ihnen dies, wenn sie ihre Mitarbeiter in das Erarbeiten der Problemlösung integrieren – unter anderem, indem sie ihre Mitarbeiter nicht nur informieren, sondern auch mit ihnen diskutieren; des Weiteren indem sie sich von ihnen beraten oder die Mitarbeiter gemeinsam Lösungen erarbeiten lassen.
Dabei sollte den Führungskräften jedoch klar sein: Bei komplexen Changevorhaben, bei denen es neben Gewinnern auch Verlierer gibt, gelingt es in der Startphase (fast nie) einen Konsens für das Neue zu schaffen. Entscheidend ist es, ausreichend Mitstreiter für das Vorhaben zu finden, die sich für das Erreichen der Ziele engagieren, so dass das Projekt voller Energie starten kann. Denn dann können mit der Zeit immer mehr „Fence-sitter“, also Mitarbeiter, die dem Projekt zunächst abwartend distanziert gegenüber stehen, als Mitstreiter gewonnen werden. Und die wenigen Personen, die das Projekt sozusagen „boykottieren“? Sie sind zunehmend isoliert.


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