Die Wirtschaftsinformatik-Professorin Gerti Kappel wurde im Jänner 2020, noch vor der Corona-Krise, Dekanin für Informatik der TU Wien. Die COMPUTERWELT hat mit ihr über ein Jahr mit Corona, über Forschungspolitik, Bildung und das Thema Frauen in der Informatik gesprochen. [...]
Wir leben seit rund einem Jahr mit Corona – wie haben Sie die Krise in Ihrer Rolle als Informatik-Dekanin erlebt?
Das dritte Semester im Lockdown hat gerade begonnen. Ich muss sagen, rückblickend auf die letzten zwei Semester bin ich ob der Disziplin sowohl der Lehrenden als auch der Studierenden sehr beeindruckt. Natürlich, in der Informatik sind wir die absolut Letzten, die sich aufregen dürfen. Denn wenn es nicht die Informatik schafft, mit der Situation fertig zu werden – wer dann? Wir hatten im Jänner Online-Prüfungen mit „Rumplern“ und waren damit in den Medien. Da kann man natürlich jetzt die Durchführung kritisieren und darüber auch diskutieren. Aber grosso modo gesagt, wir funktionieren. Und da möchte ich an dieser Stelle einmal ein großes Lob aussprechen, sowohl an die Lehrenden als auch an die Studierenden. Letztere haben in den vergangenen zwei Semestern sogar mehr Prüfungen absolviert als in den Jahren zuvor. Das ist eine sehr erfreuliche Tendenz, denn daran werden wir gemessen. Uni funktioniert nämlich so: Die weltweite Reputation einer Universität bekommen wir über die Forschung, aber das Geld kommt über die Lehre. Das ist in der aktuellen Leistungsvereinbarung des Ministeriums für die Unis ganz klar definiert: Für mehr prüfungsaktive Studenten gibt es mehr Geld.
Corona hat uns über Nacht viele Veränderungen gebracht, aber wie wird es da jetzt weitergehen?
Eines muss ich dazu vorweg sagen: Blended Learning, Flipped Classroom und Online Learning haben wir nicht erst am 16. März 2020 erfinden müssen, das gab es ja schon, auch Massive Open Online Courses (MOOC) hatten wir schon. Daher war ein Quickstart möglich. Wie es jetzt weitergeht? Das ganze Sommersemester wird online verlaufen, zumindest bei den großen Lehrveranstaltungen – das wird auch international bei den anderen Universitäten so gehandhabt. Bei den kleineren Seminaren oder Übungen haben wir es so geplant, dass wir sie in Präsenz machen könnten. Das ist aber gar nicht so einfach. In dem Moment, wo ein Student eine Risikoperson ist oder mit einer Risikoperson zusammenlebt, müssen wir einen Hybrid Modus anbieten. Dann kann man die ganze Sache ja gleich im Online-Modus für alle machen. In der Informatik kommt uns dabei zugute, dass man sehr vieles remote machen kann – aber auch nicht alles, z.B. in der technischen Informatik müssen etwa Hardware Laborübungen vor Ort stattfinden.
Was nervt denn Sie persönlich derzeit am meisten?
Dass Österreich es so lange nicht schafft, einen entsprechenden Impfplan und Prozess aufzusetzen, das verstehe ich nicht. Auch bei einem Fußballspiel schafft man es, dass innerhalb von zwei Stunden 30.000 Leute ins Stadion hinein- und hinausgehen. Warum klappt es denn beim Impfen und Testen nicht? Man hat echt den Eindruck, dass die Politiker eigentlich gar nicht wollen. Da hapert es nicht nur an Entscheidungen, sondern auch an klaren und verständlichen Botschaften. Beeindruckt hat mich der Politologe Peter Filzmaier, der gesagt hat: „In der Krisenkommunikation sind zwei Dinge wichtig: Ehrlichkeit und eine Stimme.“ Und das vermisse ich sehr.
Was halten Sie denn davon, das Testkonzept der Schulen auch für die Unis anzuwenden?
Ja natürlich. Die WU hat die Erstsemestrigen bereits im September zur Antrittsvorlesung im Austria Center testen lassen, das war eine einmalige Aktion. Aber die Tests haben sich ja weiterentwickelt. Mittlerweile bekommen die TU-Mitarbeiter zwei Tests pro Woche. Wir haben derzeit 5.000 Mitarbeiter und 30.000 Studierende, also brauchen wir die jetzige Kapazität noch mal sechs. Das ist sicher wünschenswert. Wir können nur testen und impfen – es gibt nichts anderes.
Daten und Simulationen, Statistiken und Prognosen waren und sind gerade in Corona-Zeiten sehr gefragt. Hat die Informatik durch die Krise profitiert?
Klare Antwort: wir brauchen nicht Corona, damit wir von irgendetwas profitieren. Die Informatik ist die zentrale Wissenschaft des 21. Jahrhunderts, weil wir wissen, wie wir mit Daten umgehen. Und Daten sind so wertvoll wie Erdöl und Gold. Wir haben die verdammte Verantwortung, mit dieser neuen Ressource sehr verantwortungsvoll umzugehen. Corona hat verstärkt, wie wichtig die Informatik heute ist – und die Bedeutung ist unbestritten. Das sieht man auch an den großen zwei EU-Zukunftszielen: Klimaschutz und Digitalisierung.
Und wo steht da Österreich?
Ein wenig „patschert“ würde ich sagen, was die Krisenbewältigung angeht. In der Informatik hingegen sind wir in Österreich, auch im weltweiten Vergleich, in Forschung und Lehre gut aufgestellt. Aus unserer Sicht kann ich stolz sagen: Die Fakultät für Informatik der TU Wien ist in allen Rankings immer unter den 15 Prozent besten Informatik-Departments weltweit. Wo wir wirklich Nachholbedarf haben, das ist in den Schulen. Ich meine jetzt nicht digitale Grundkompetenzen, das wird ganz gut abgedeckt. Aber: Das Bild des Informatiklehrers ist quasi in der Gesellschaft nicht existent. Informatik-Absolventen gehen in die Wirtschaft und werden nicht Lehrer. Solange die Reputation der Informatiklehrer so schlecht ist, haben wir mit dem Fach Informatik in der Schule ein Problem. Hier braucht es dringend Veränderungen, wahrscheinlich auch eine bessere Bezahlung. Und: Wir brauchen einen anderen Lehrplan.
Aber es geht ja schon einmal damit los, dass in den Schulen im Fach „Informatik“ nur wenig Informatik unterrichtet wird, sondern meist nur Word, Powerpoint und Basiswissen zur Internetnutzung. Wie sehen Sie das?
Ohne Anwendungskenntnissen und 10-Finger-System läuft heute nichts mehr. Aber Informatik als ein Zugang zu Problemlösungskompetenz, als eigene Disziplin, um unsere digitale Welt zu verstehen, ist etwas anderes als der bloße Umgang mit Anwendungs-Technologien. Wir brauchen informatisches Denken. Davon reden wir eigentlich schon seit Jahrzehnten. Ein Pionier war hier übrigens Statistik-Professor Erich Neuwirth, der jetzt anlässlich der Corona-Krise oft in den Medien war.
Ab wann sollen Kinder das lernen? Da gibt es ja auch schon einiges an Konzepten.
Ich denke, das muss mit Maß und Ziel passieren. Da sollten sicherlich auch Entwicklungs- und Lernpsychologen noch einbezogen werden. Ich bin ein Fan von interdisziplinären Zugängen, mit Robotik, Lego Mindstorm und Scratch, wo einerseits der mechanisch-haptische als auch der algorithmische Zugang abgedeckt wird.
… es gibt da ja auch die Beebots, schon für den Kindergarten
Vollkommen richtig, und auf dieser Ebene würde ich Informatik als Enabler sehen. Bei den Beebots oder programmierbaren Robotern – da geht es ganz wörtlich um das echte „Begreifen“, und wie gesagt um Interdisziplinarität. Da werden ganz spielerisch grundlegende Konzepte in Informatik, Mathematik, Konstruktion und Hydraulik vermittelt. Erst viel später erkennen die Kinder dann vielleicht in der Unterstufe: Wir haben es geschafft, ein Problem in Schritten zu lösen.
Das heißt, der Zugang in der Schule sollte viel interdisziplinärer erfolgen? Brauchen wir da ein Umdenken im Bildungswesen?
Ja, ich halte sehr viel davon. Ich denke, die Probleme der Zukunft, so wie wir es gerade auch aktuell in der Corona-Krise erleben, können nur interdisziplinär in Zusammenarbeit gelöst werden. Das heißt, dass die Schule der Zukunft ganz anders gelebt werden muss. Und Interdisziplinarität hört ja nicht bei der Technik auf, sondern das betrifft auch die ganzen Geistes- und Humanwissenschaften.
Viele Kritiker sagen, Schule hat sich nicht bewegt. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich da in den nächsten Jahren etwas ändert?
Wenn ich mir die Gewerkschaft ansehe, bin ich nicht sehr zuversichtlich. Ich halte die Lehrerschaft tatsächlich als einen der größten Bremser in der Weiterentwicklung. Aber es gibt da natürlich Ausnahmen und auch tolle, engagierte Lehrer. Nur eine Idee dazu. Ich bin ein Kind der Kreisky-Schulbuch-Aktion. Setzen wir doch eine IT-Aktion für die Schulen um. Heute kostet die IT-Ausstattung nicht viel mehr als Bücher.
Ein Wort noch zur Informatik als solches: Wir sind die Wissenschaft, die datengetriebene Forschung ermöglicht. Künftig müsste hier viel mehr an Schulterschluss passieren, um aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Wir brauchen nationale Datenpools und eine nationale Daten-Infrastruktur. Die unterschiedlichen Fachdisziplinen müssten viel mehr zusammenarbeiten, um einem Popper und Neuwirth Datenanalysen zu ermöglichen. Da hapert es noch gewaltig.
Stichwort: Frauenanteil in der Informatik. Wie hat sich das in den letzten Jahren entwickelt?
Wir haben im Jänner die neueste Statistik zur Entwicklung des Frauenanteils beim Informatikstudium an der TU Wien erstellt, und zwar bei Studentinnen, Bachelor, Master bis hin zum Doktorat. Und ich kann Ihnen sagen: es hat sich in den letzten Jahren nichts verändert. Der Anteil liegt nach wie vor bei 17 bis unter 20 Prozent. Das liegt aber nicht an den Aufnahme- bzw. Reihungstests. Unsere Tests diskriminieren nicht nach dem Geschlecht und nicht nach der sekundären Schulausbildung. Aber sie diskriminieren nach der Muttersprache. Weil wir deutsche Bachelor-Studiengänge haben, läuft der Test auf Deutsch ab, und wir testen hier natürlich sinnerfassendes Lesen. Wir haben gesehen: Bei den Bewerberinnen hatten wir mehr junge Frauen mit nicht-deutscher Muttersprache und einige haben den Test vermutlich deswegen nicht geschafft. Aber sogar wenn wir diese Frauen aufgenommen hätten, würde der Frauenanteil leider unter 20 Prozent bleiben.
Warum hat sich da nichts verändert – trotz der vielen Aktivitäten und Aktionen, die gesetzt werden, um mehr Mädchen für Informatik zu begeistern?
Konservative Schule, konservative Familie, konservative Gesellschaft. Da sind wir auch wieder bei der Role-Model-Thematik. In der Informatik haben wir noch viel zu wenig Role-Models. In der Mathematik schaut das schon ganz anders aus, da haben wir auch einen Frauenanteil von rund 30 Prozent. In der Chemie gibt es sogar über 40 Prozent Studentinnen. Gesamt haben wir an der TU Wien einen Frauenanteil von über 30 Prozent. Zurück zu den Ursachen. In der Schule fehlen die Vorbilder, dazu kommen das konservative Weltbild und das Nerd-Image der Informatik. Ich möchte damit ein wenig aufräumen: Man braucht keinen HTL-Abschluss, um bei uns zu studieren und wir sind nicht alle Nerds. Um diesem Image entgegenzuwirken und aufzuklären, haben wir zum Beispiel 2019 die Dauerausstellung „Abenteuer Informatik“ bei uns extra für Schulen eingerichtet. Wir haben da auch Workshops für Schülerinnen und Schüler gemacht. Da hat uns Corona leider ein wenig einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir haben auch Online Formate von Workshops entwickelt. Zudem gibt es einen Online Programmierkurs (zu Processing, Anm.d.Red.), den wir jetzt nach Ostern auch für die Schulen öffnen werden (siehe etwa das Einführungsvideo hier).
Abschlussfrage: Was haben Sie sich als Dekanin für Informatik für Ziele gesetzt, welche inhaltlichen Schwerpunkte sind wichtig?
Es gibt zwei große inhaltliche Schwerpunkte, die wir ausbauen werden, auch institutionell, mit dem Zentrum für Artificial Intelligence und Machine Learning und dem Zentrum für Security und Privacy. Weiters geht es uns darum, die interdisziplinäre Kraft weiterhin zu positionieren. Neben der Ausbildung und der Anhebung des Frauenanteils ist uns auch das Thema lebenslanges Lernen und damit die Schnittstelle zu den Alumni ein großes Anliegen. Am 11. Juni laden wir dabei zu einem ganzen Tag rund um Technologien der Künstlichen Intelligenz. (Detailinfo und Programm).
Gerti Kappel, geb. 1960, studierte Informatik und Wirtschaftsinformatik an der Uni Wien und der TU Wien. Sie forschte in Genf und Linz. 2001 kehrte sie als Professorin an die TU Wien zurück und übernahm den Vorsitz der Business Informatics Group (BIG) innerhalb des Instituts für Information Systems Engineering. Die Mutter zweier Kinder engagiert sich bereits seit vielen Jahren für Frauenförderprogramme im Technikbereich. Seit Jänner 2020 ist sie die erste Dekanin für Informatik an der TU Wien und folgte hier Hannes Werthner nach.
Be the first to comment