Vibecoding verändert, wie wir arbeiten: mehr Innovation, weniger Routine. Christoph Becker, CEO der ETC, erklärt im Interview mit ITWELT.at, warum KMU profitieren – und warum der Mensch trotz KI unverzichtbar bleibt. [...]
Vibeworking – so nennen Experten die neue Art, mit Künstlicher Intelligenz quer durch Unternehmensbereiche zu arbeiten. KI wird zum praktischen Werkzeug, das nicht nur Entwickler, sondern auch Marketing-Teams, Controller oder Führungskräfte nutzen können. Statt selbst zu programmieren, reicht Spracheingabe, die KI setzt Ideen in funktionierende Prototypen, Automatisierungen oder Datenprozesse um. Doch diese Demokratisierung der Digitalisierung birgt Chancen und Risiken zugleich: Unternehmen können effizienter und kreativer werden, wenn es gelingt, die richtigen Fragen zu stellen und Qualitätskontrolle ernst zu nehmen. Christoph Becker, CEO der ETC, erklärt im Interview, wie sich Arbeitswelt, Bildung und Unternehmensstrategien verändern – und warum die wahre Herausforderung nicht nur technischer, sondern vor allem kultureller Natur ist.
Was sind die spannendsten Anwendungsfälle von Vibecoding? Wo wird es vor allem eingesetzt?
Die spannendsten Anwendungsfälle sehe ich in drei Bereichen: Erstens im Rapid Prototyping – Marketing-Teams erstellen Landing Pages ohne Entwickler-Support. Zweitens in der Prozessautomatisierung – Controller bauen ihre Excel-Makros selbst. Und drittens – das ist für mich persönlich das Faszinierendste – in der Demokratisierung von Innovation. Plötzlich können auch Nicht-Techniker ihre Ideen umsetzen. Das ist wie beim Segeln: Früher brauchte man Jahre, um Navigation zu lernen. Heute macht’s das GPS – aber die Kunst liegt darin, zu wissen, wohin man segeln will. Aktuell sehen wir den größten Bedarf bei KMU, die endlich ihre Digitalisierungsprojekte angehen können, ohne auf teure externe Entwickler angewiesen zu sein.
Was genau sind die „neuen Kompetenzen“, die erforderlich sind? Geht es um Prompt-Engineering, um ethische Aufsicht oder um die Fähigkeit, die Fehler und „Halluzinationen“ der KI zu erkennen und zu korrigieren?
Es geht weniger um neue technische Skills, als um eine neue Art zu denken. Die drei Kernkompetenzen sind für mich: Problemformulierung – die Fähigkeit, der KI die richtigen Fragen zu stellen. Das ist wie die Kursbestimmung beim Segeln. Qualitätsbewertung – zu erkennen, wann die KI halluziniert oder Unsinn produziert. Und ethische Reflexion – zu verstehen, wann menschliche Entscheidung unersetzbar ist.
Prompt-Engineering? Ja, wichtig. Aber noch wichtiger ist das, was ich „Meta-Kompetenz“ nenne: Zu verstehen, wann man die KI nutzt und wann nicht.
Täuscht die vermeintliche Einfachheit der Spracheingabe nicht über die immense Systemkomplexität hinweg und wiegt Anwender in falscher Sicherheit?
Ja, das ist wie mit modernen Segelyachten – sie haben alle möglichen elektronischen Hilfsmittel, aber wenn Sie nicht verstehen, wie Wind und Wellen funktionieren, werden Sie trotzdem kentern. Diese scheinbare Einfachheit ist tatsächlich eine Gefahr. Ich erlebe das täglich: Führungskräfte glauben, mit ChatGPT sei ihre digitale Transformation erledigt. Dabei beginnt sie erst! Die Komplexität verschwindet ja nicht – sie wird nur verlagert. Statt Code-Syntax müssen Sie jetzt Systemarchitektur verstehen, Datenqualität bewerten, rechtliche Rahmenbedingungen kennen.
Befeuert Vibeworking menschliche Kreativität oder beschleunigt es die Überflüssigmachung kognitiver Arbeit?
KI greift in kognitive Bereiche ein, die wir für „menschlich“ hielten. Aber: KI kann zuhören und umsetzen, entscheiden bleibt menschlich.
Menschen können sich mit KI von Routine befreien und sich auf das konzentrieren, was uns ausmacht: Kreativität, Empathie, ethische Urteile. Bei ETC bilden wir keine KI-Bediener aus, sondern KI-Dirigenten. Der Mensch bleibt der Kapitän – die KI ist nur ein sehr intelligenter Autopilot.
Wie sollten sich Bildungseinrichtungen – von Schulen bis zu Universitäten – anpassen, um eine Generation auf eine von Vibeworking geprägte Arbeitswelt vorzubereiten?
Radikal umdenken! Unser Bildungssystem ist wie ein Dampfschiff im Zeitalter der Segelyachten – überholt und träge. Drei konkrete Forderungen: Erstens: Weg vom Auswendiglernen, hin zum kritischen Denken. Wenn KI alle Fakten kennt, müssen Menschen lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Zweitens: Interdisziplinarität als Standard. Ein Programmierer ohne Ethik-Verständnis ist heute gefährlich. Drittens: Lebenslanges Lernen als Normalität, nicht als Ausnahme. Wir bei ETC integrieren KI-Awareness in jedes Training, nicht nur in spezielle KI-Kurse. Unis sollten das kopieren: KI nicht als separates Fach, sondern als Querschnittsmaterie.
Wird die durch Vibeworking gewonnene Effizienz tatsächlich in Innovation und neue Arbeitsplätze reinvestiert, oder führt sie primär zu einer Reduktion von Personal in Bereichen wie Marketing, Design und eben der Softwareentwicklung?
Die ehrliche Antwort? Beides wird passieren. Aber lassen Sie mich das differenzieren. In meiner Erfahrung sehe ich drei Gruppen: Die Innovatoren nutzen Effizienzgewinne für neue Geschäftsmodelle. Die Optimierer reduzieren Kosten und leider auch Personal. Und die Zögerer – die werden vom Markt verschwinden. Der entscheidende Punkt: Unternehmen, die nur auf Kostensenkung setzen, sägen am eigenen Ast. Warum? Weil KI-gestützte Konkurrenz sie links und rechts überholt. Bei ETC selbst? Wir haben durch Automatisierung niemanden entlassen – im Gegenteil, wir stellen ein – nämlich Menschen mit KI-Kompetenzen!
Wie wird die Qualität, Sicherheit und Wartbarkeit des von einer KI per Spracheingabe generierten Codes sichergestellt? Wer ist verantwortlich für das Debugging und die langfristige Pflege dieser Systeme, insbesondere wenn der menschliche „Entwickler“ keine Programmierkenntnisse besitzt?
Das ist DIE Achillesferse! Es ist wie beim Segeln mit Autopilot – funktioniert super, bis Sie auf ein Riff laufen, das nicht in der Karte verzeichnet ist.
Unsere Antwort: Mehrschichtige Qualitätssicherung. Erstens: Code-Reviews bleiben Pflicht, egal wer den Code geschrieben hat. Zweitens: Automatisierte Tests auf Steroiden – wenn KI 10 mal schneller Code produziert, müssen auch Tests 10 mal schneller werden. Drittens: Die neue Rolle des „KI-Auditors“ – Menschen, die verstehen, wie KI denkt und wo sie typischerweise Fehler macht. Die Verantwortung bleibt beim Menschen! Das ist rechtlich und ethisch nicht verhandelbar. Wer KI-generierten Code in Produktion gibt, muss ihn verstehen können. „Ich hab’s nicht geschrieben“ gilt vor Gericht nicht.
Wer profitiert wirtschaftlich am meisten: KMU mit neuen Möglichkeiten oder Tech-Giganten als Plattform-Betreiber?
Klare Antwort: Die großen Tech-Konzerne kassieren die Grundgebühr – Microsoft, Google, OpenAI. Das ist wie bei der Seefahrt: Wer die Häfen kontrolliert, verdient an jedem Schiff. Aber – und das ist wichtig – die größten relativen Gewinne sehe ich bei KMU! Warum? Ein Konzern, der von 1.000 auf 900 Entwickler reduziert, spart 10 Prozent. Ein KMU, das plötzlich ohne Entwickler-Team digitale Produkte bauen kann, multipliziert seine Möglichkeiten! Bei uns in Österreich sehe ich Hidden Champions, die plötzlich global konkurrieren können.
Droht eine Entwertung hochqualifizierter Software-Ingenieure durch sinkende Einstiegshürden?
Hat Excel die Mathematiker arbeitslos gemacht? Nein, es hat sie von Rechenknechten zu Problemlösern gemacht! Ähnlich sehe ich das hier. Ja, der reine Code-Schreiber wird an Wert verlieren. Aber der Software-Architekt, der System-Designer, der Algorithmen-Experte? Die werden wichtiger denn je! In unseren Trainings erlebe ich das täglich: Senior-Entwickler, die früher 80 Prozent ihrer Zeit mit Routine-Coding verbracht haben, lösen jetzt die wirklich harten Probleme. Ihre Erfahrung ist unbezahlbar – sie wissen, was die KI nicht weiß. Das kann kein Vibecoding ersetzen.
Schaffen Unternehmen durch Vibeworking-Integration eine gefährliche Abhängigkeit von wenigen KI-Anbietern?
Absolut! Das ist, wie wenn alle Schiffe nur noch mit GPS fahren und keiner mehr navigieren kann – was passiert, wenn die Satelliten ausfallen?
Drei Gegenstrategien, die wir empfehlen: Multi-Vendor-Strategie – nie nur auf einen Anbieter setzen. Exit-Strategien – immer wissen, wie man Daten und Prozesse migriert. Kernkompetenz behalten – gewisse Dinge müssen inhouse bleiben.
Schafft Vibeworking eine neue Kluft zwischen denen, die souverän mit KI-Systemen interagieren und deren Logik verstehen (AI-Literates), und denen, die zu reinen Befehlsgebern degradiert werden?
Ja, diese Kluft entsteht jetzt, in diesem Moment. Aber sie ist überwindbar! Warum? Weil die Einstiegshürde noch nie so niedrig war. Bei ETC sagen wir: „Das kann ich jetzt auch!“ Menschen über 60 lernen bei uns KI-Tools zu nutzen. Nicht als Entwickler, aber als kompetente Anwender.
Die wahre Gefahr ist nicht die Technologie-Kluft, sondern die Einstellungs-Kluft. Zwischen denen, die sagen „Das lern ich noch“ und denen, die sagen „Das brauch ich nicht“. Die zweite Gruppe wird zu digitalen Analphabeten.

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