„Der menschliche Faktor muss in der IT wieder mehr Raum finden“

Andreas E. Thyen, Präsident des Verwaltungsrats der LizenzDirekt AG, schildert im Gespräch mit der COMPUTERWELT, was wir aus dem Jahr 2021 für die Zukunft mitnehmen können, erklärt, wie sich die Corona-Krise und New Work auf uns auswirken und skizziert die wichtigsten IT-Trends für das kommende Jahr. [...]

Andreas E. Thyen, Präsident des Verwaltungsrats der LizenzDirekt AG: "Es muss um mehr als nur technische Lösungen gehen, nämlich um langfristige IT-Strategien zugunsten von Nachhaltigkeit, Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit sowie ein hierauf eingestelltes Geschäftsmodell." (c) LizenzDirekt AG

Welche Lehren lassen sich aus dem Jahr 2021 im Allgemeinen und aus der Corona-Krise im Speziellen für die Zukunft mitnehmen?
Allgemeine Lehren aus dem Jahr 2021 zu ziehen, ist angesichts der einzigartigen und vor allem andauernden Krise und ihres Ausmaßes kaum möglich. Vielmehr war die Coronakrise auch 2021 das dominierende Ereignis. Einerseits hat sich hierbei gezeigt, wie verletzlich unsere Freiheit und Existenz in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft sind. Die Effekte auf unser aller Privatleben und das kulturelle wie wirtschaftliche Treiben sind einzigartig in ihrem Ausmaß.

Andererseits wurden gnadenlos vor allem Defizite an öffentlicher wie privatwirtschaftlicher Digitalisierung offengelegt. Viele versuchen hier nach wie vor erst noch den Anschluss zu finden und mitzuhalten. Dennoch haben viele Unternehmen auch gezeigt, dass radikal umgeschwenkt werden kann und neue Lösungen funktionieren. Gleichwohl werden sich erst auf lange Sicht die Folgen einschließlich etwaiger Schäden der oft hastigen Entscheidungen zeigen. Auch dies erschöpft sich nicht nur in wirtschaftlichen Effekten, sondern umfasst ebenso die gesellschaftlichen und politischen Folgen.

Wie wird sich die Corona-Krise Ihrer Meinung nach im kommenden Jahr auf die IT-Branche, auf Unternehmen bzw. auf unsere Gesellschaft auswirken?
Der radikale Transitionsprozess und der damit verbundene enorme Zeit- und Leistungsdruck werden sich fortsetzen. Das zielt keineswegs nur auf die IT-Branche ab, sondern auf nahezu sämtliche Unternehmen und alle Bereiche unserer Gesellschaft. Es bleibt abzuwarten, ob und wann wir Corona als Gesellschaft hinter uns lassen können und welche Auswirkungen verbleiben werden. Insbesondere die spürbare existenzielle Knappheit etwa von Chips sowie lahmende Lieferketten werden sicher noch einige Zeit andauern. Unsere Gesellschaft und Wirtschaft werden nach Corona nicht mehr dieselben sein.

Die Relevanz von IT über den technischen Sinn hinaus hat durch die beschleunigte Digitalisierung nochmals zugenommen. Vor allem aber hat sich gezeigt, in welcher Dimension sämtliche Lebensbereiche, Branchen und Tätigkeiten betroffen sind. Folglich steigt nicht nur die Bedeutung von IT weiter an – es nehmen auch die damit verbundenen Herausforderungen zu, diese über technische Lösungen hinaus zu gestalten und der ständigen Dynamik gerecht zu werden.

Was waren Ihre beruflichen bzw. persönlichen Highlights im Jahr 2021?
In diesem Jahr konnte ein Etappensieg im Kontext des Gebrauchthandels verzeichnet werden. So strich Microsoft infolge der andauernden Kritik der LizenzDirekt unter anderem den im Vorjahr plötzlich ergänzten Zusatz, dass nach Umstieg (von SA) auf Abos die Alt-Lizenzen behalten werden müssen. Viele Unternehmen und Behörden in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben 2021 infolge des Drucks, neue IT-Anforderungen binnen kürzester Zeit umzusetzen, zunehmend auf gebrauchte Software gesetzt. Damit konnten sie ihre technischen Bedürfnisse nicht nur identisch umsetzen, sondern gleichzeitig Kosten einsparen und für ein Stück europäische Freiheit eintreten. LizenzDirekt konnte im Zuge dessen auch personell weiterwachsen, zum Beispiel in Frankreich.

Schließlich blicke ich in diesem Jahr auch persönlich auf einige viel zu seltene intensive Momente mit meiner Familie und Freunden zurück und erinnere mich an sonnige und gesellige Stunden, als die Krise zwischenzeitlich abgeklungen war.

„Genauso wichtig wie zu arbeiten, ist es auch, sich in seinem Zuhause privat entfalten und erholen zu können. Daher ist gerade Home Office eine große psychische Belastung und lässt Grenzen noch mehr als zuvor verschwimmen – sofern sich Mitarbeiter nicht selbst Grenzen setzen und hierbei vom Arbeitgeber unterstützt werden.“

Andreas E. Thyen

Welche Themen sollten Ihrer Meinung nach im kommenden Jahr auf der Agenda von IT-Managern ganz oben stehen und warum bzw. welche IT-Themen werden 2022 eine besonders wichtige Rolle spielen?
Von hoher Bedeutung wird in der IT der allermeisten Unternehmen nach wie vor die Expansion in Cloud-Strukturen sein. Es gibt aber auch einen gewissen Nachholbedarf, die in der Krise getroffenen Entscheidungen zu rekapitulieren und die üblichen proaktiven Prozesse nachzuholen. Es gilt dabei auch die Vielzahl an Erkenntnissen in eine neue Unternehmenskultur und -strategie zu überführen. Aber auch (Selbst-)Kritik wird wichtig sein, wenn die Folgen von Lock-in-Effekten und Cloud-Verträgen ohne Exit-Regelungen erkannt werden.

Hierbei wird sich zeigen, dass IT nicht nur von technischer Bedeutung ist, sondern entscheidend für jedes Unternehmen in allen Bereichen und ausschlaggebend für dessen Erfolg ist. Insofern muss es um mehr als nur technische Lösungen gehen, nämlich um langfristige IT-Strategien zugunsten von Nachhaltigkeit, Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit sowie ein hierauf eingestelltes Geschäftsmodell. Es bedarf daher Prozesse und Strukturen, die den digitalen Dimensionen Rechnung tragen. Hierzu zählen flexiblere Prozesse zur IT-Governance und -Compliance in hybriden und dynamischen Landschaften. Schließlich muss aber auch der menschliche Faktor in der IT wieder mehr Raum finden. Insofern gilt es, die sozialen Effekte von Home Office und Online-Meetings auf lange Sicht zu evaluieren.

Die letzten beiden Jahre standen im Zeichen der Pandemie und beschleunigten die Digitalisierung und brachten uns Hybrid-Arbeitsmodelle. Nach der Pandemie gilt es die nächste – größere – Krise zu bewältigen, die Klimakrise. Wie schätzen Sie müssen sich Unternehmen in punkto Nachhaltigkeit umstellen? Welche konkreten Maßnahmen planen sie/plant Ihr Unternehmen für 2022 und darüber hinaus?
Die Klimakrise würde ich weniger als nächste Krise bezeichnen als eine sich über Jahrzehnte aufgebautes unaufhaltsames Risiko für unsere Existenz. Die EU hat aber zurecht neben der Klimakrise (Green Deal) auch die digitale Souveränität zu den größten Herausforderungen unserer Gesellschaft auserkoren. Praktisch sind beide Themen hochkomplex und geprägt von ambivalenten Effekten.

Dennoch kann jedes Unternehmen und jeder Bürger in beiden Fragen einen Beitrag leisten. Dieser beginnt mit einem entsprechenden Bewusstsein: Gebrauchte Software kann hier ein entscheidender Schlüssel sein, einerseits aktuelle Software-Versionen zu nutzen und andererseits von günstigen Preisen zu profitieren und einen nachhaltigen Lebenszyklus zugunsten europäischer Freiheiten zu fördern. Insofern ist gebrauchte Software im Vergleich zu oftmals gar nicht bedarfsgerechten Cloud-Abos die weitaus grünere Lösung. Gezeigt hatten das bereits Studien in vielen Ländern, woraufhin sie die intendierte Nachhaltigkeit im Rahmen der Kreislaufwirtschaft angemahnt haben. Insofern möchten wir 2022 für diesen Komplex zunehmend sensibilisieren und Unternehmen wie Behörden zugunsten von umsichtigem Handeln beraten. Konkret wird dies neben Beratungsprojekten mithilfe von Befragungen, Studien und Publikationen avisiert.

„Ziel muss sein, Europa wettbewerbsfähiger zu machen sowie einen entsprechenden Gründergeist zu fördern. Dazu bedarf es entschiedener Maßnahmen, um Themen wie digitale Souveränität, die zwangsläufig Kompetenzen verlangen, nicht zur reinen Illusion zu machen.“

Andreas E. Thyen

Wie gut ist ihr Unternehmen bzw. wie gut sind österreichische Unternehmen im Allgemeinen für New Work – also verteilte Teams, Home Office, hybride Arbeitsmodelle etc. – aufgestellt?
Die Krise hat schlagartig aufgezeigt, wo es Nachholbedarf gibt und welche Schwächen föderale Strukturen unter Zeitdruck aufweisen. Dennoch war ich überrascht, wie schnell österreichische Unternehmen umstellen konnten und wie gut neue Arbeitsmodelle funktionierten. Natürlich fehlt aber nicht selten der persönliche Kontakt, gerade beim Kennenlernen. Im Home Office setzt sich dies einerseits fort und anderseits stellten sich neue Herausforderungen. Es ist nämlich nicht damit getan, Mitarbeitern Laptop und Co zur Heimarbeit zur Verfügung zu stellen. Denn genauso wichtig wie zu arbeiten ist es auch, sich in seinem Zuhause privat entfalten und erholen zu können. Daher ist gerade Home Office eine große psychische Belastung und lässt Grenzen noch mehr als zuvor verschwimmen – sofern sich Mitarbeiter nicht selbst Grenzen setzen und hierbei vom Arbeitgeber unterstützt werden.

Da in unserer Unternehmensgruppe in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Frankreich schon immer New Work mit flexiblen Modellen und digitalen Prozessen gelebt wurde, konnten wir zunächst ohne große Schwierigkeiten Home Office umsetzen. Uns ging es aber vor allem darum, regelmäßig zu evaluieren, wie Mitarbeiter mit der Umstellung zurechtkommen, um individuelle Lösungen zu erarbeiten. Die Bedürfnisse sind oft unterschiedlich. Dem zu entsprechen, ist uns bislang gut gelungen. Gleichwohl gehört zur Unternehmensphilosophie von LizenzDirekt auch das gesellige und teambildende Zusammensein, das leider aktuell etwas leidet und wir für 2022 – wenn möglich – priorisieren werden.

Glauben Sie, dass sich die angespannte Situation beim Thema IT-Fachkräftemangel in den kommenden Jahren bessern wird? Was kann man in diesem Bereich tun?
Ich sehe hier leider nicht erst seit dieser Krise einen negativen Trend. Dennoch muss zunächst einmal rekapituliert werden, dass es heute immer weniger um klassische IT-Fachkräfte wie Telefon-Support geht, sondern um IT-Kompetenzen auf alle Ebenen, in allen Bereichen und in unterschiedlichen Dimensionen. All diese eint ein entsprechendes Ökosystem als Umgebung. Hierzu gibt es in Europa leider nicht nur ein mangelndes Bewusstsein, sondern auch fehlende Kompetenzen. Diese Zustände sind nur nicht einfach abzustellen, weil sie sich über Jahrzehnte im Zusammenspiel mit der zunehmenden Abhängigkeit von US-Anbietern aufgebaut haben.

Es muss daher mit einer Vision für Europas digitale Zukunft beginnen. Das versucht die EU derzeit, ist hiermit aber spät dran. Ziel muss sein, Europa wettbewerbsfähiger zu machen sowie einen entsprechenden Gründergeist zu fördern. Dazu bedarf es entschiedener Maßnahmen, um Themen wie digitale Souveränität, die zwangsläufig Kompetenzen verlangen, nicht zur reinen Illusion zu machen. Genauso wenig darf passieren, dass vermeintlich europäische Projekte wie die EU-Cloud GAIA-X durch US-Konzerne wie Microsoft und AWS umgesetzt werden. Damit geht es nach der Vision um deren praktische Umsetzung, um alle Akteure zu erreichen und im Idealfall zu begeistern.

Dieser Artikel ist Teil einer Interviewserie, für den die COMPUTERWELT rund 50 Top-Manager aus der IT-Branche befragt hat. Weitere Interviews lesen Sie in den nächsten Wochen auf itwelt.at.


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