ERP auf dem Weg zum Digital Twin

Die in einem ERP-System hinterlegten Daten spiegeln in der Regel die Wirklichkeit nur bedingt wider. Mit Hilfe der künstlichen Intelligenz soll sich das bald ändern. proALPHA entwickelt seine Kernapplikation im Zusammenspiel mit seiner schnell wachsenden ERP+-Familie in Richtung eines Digital Twin weiter. Das Ziel: die 1:1-Abbildung der realen Wirtschaftswelt. [...]

Helmut Reich, Managing Director proALPHA Software Austria (c) Erich Reismann
Helmut Reich, Managing Director proALPHA Software Austria (c) Erich Reismann

Ein Digital Twin – oder digitaler Zwilling – ist bekanntlich die virtuelle Abbildung eines Objekts oder eines Systems aus der realen Welt. Damit lassen sich Gegenstände oder ganze Anlagen sowie Prozesse und Dienstleistungen visualisieren. Die Vorteile liegen auf der Hand: Mit Digital Twins können Unternehmen beispielsweise kostengünstig Szenarien simulieren, Fehler vermeiden, bevor sie auftreten, oder Abläufe optimieren. Hier gilt: Je genauer und detaillierter das Abbild, desto größer der Nutzen.

proALPHA stellt sich seit einiger Zeit die Frage, inwieweit ein ERP-System etwa im Fertigungsumfeld als digitaler Zwilling dienen kann. „Optimalerweise produziert ein Unternehmen genau das, was der Kunde bestellt hat und liefert es zum gewünschten Termin aus. Es geht also um Effizienz und Kundenzufriedenheit, zwei sehr wesentliche Aspekte“, sagt Helmut Reich, Managing Director proALPHA Software Austria, im Gespräch mit transform! „In diesem Kontext ist man sehr schnell beim Thema Stammdaten. Das heißt zum Beispiel, dass zu einem Artikel gewisse Stückzahlen, Bearbeitungs-/Rüstzeiten, Wiederbeschaffungszeiten und Ressourcen hinterlegt werden. Kommt ein Auftrag herein, will ich diesen natürlich möglichst effizient fertigen und ausliefern. Ich fertige und bestelle also den eingetragenen Stammdaten zufolge die benötigten Teile zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Menge.“

Soweit die Situation in einer idealen Welt, die von der realen ein Stück weit entfernt ist. „Das Problem ist, dass sich die Rahmenbedingungen laufend ändern. So kann es sein, dass die Lieferung im Sommer länger dauert, weil eine für den Prozess wichtige Person auf Urlaub ist, oder 1.000 Stück mehr Zeit benötigen als 100. Ich kenne kein Unternehmen, dessen Stammdaten so gut organisiert sind, dass sie diese Dynamiken bei oft Tausenden von Artikeln abbilden können und auf Knopfdruck einen automatisierten Prozess in Gang setzen, der zum gewünschten Ergebnis führt: hohe Effizienz und ebensolche Kundenzufriedenheit.“ Gleichzeitig würden Unternehmen einen hohen Automatisierungsgrad benötigen, „um dem Kostendruck und Fachkräftemangel entgegenzuwirken oder schnell auf Marktänderungen reagieren zu können. Das schaffe ich nur, wenn ich weitgehend digitalisiert bin und die Prozesse gut im Griff habe“, so Helmut Reich. Auf den Punkt gebracht: ERP-Systeme sind heute vieles, eines sicher nicht: Digitale Zwillinge, die die dynamische Realität verlässlich widerspiegeln. Es geht jedoch auch anders.

Process Mining & KI

Genau hier kommt künstliche Intelligenz ins Spiel, ein Thema, mit dem sich proALPHA seit fünf Jahren intensiv beschäftigt. Dabei geht es den ERP-Spezialisten nicht wie derzeit üblich um die Aufgabe, ein externes System einzuführen – Stichwort GenAI –, sondern darum, KI als fix verankerten Bestandteil der Software selbst zu etablieren, wie es etwa bei der AI-Plattform NEMO der Fall ist.

Wie dieser Ansatz konkret aussieht, schildert der Österreich-Chef so: „Wir laden alle relevanten Daten aus dem ERP-System – und zwar die Belege –, um zu sehen, was im Unternehmen tatsächlich passiert. Hier kommen sehr viele Daten zusammen, Terabyte an Daten. Wegen der benötigten Rechenkapazität nutzen wir dafür die Cloud. Da immer der Finanzwert hinterlegt ist, sehen wir uns nicht eine einzelne Schraube an, sondern in erster Linie all jene Teile, mit denen ein signifikanter Wert verbunden ist, beziehungsweise jene Baugruppem, mit denen man den größten Umsatz erzielt. Die Bewertung dafür, wo die KI aktiv werden soll, ist also immer auf den Cashflow bezogen.“

Laut Helmut Reich lassen sich damit mehrere Ziele verfolgen. „Zum einen sehe ich, was tatsächlich im Unternehmen passiert. Man erkennt etwa, wo Prozesse umgangen oder abgekürzt werden. Ebenso werden Brüche in den Abläufen sichtbar. Wir befinden uns hier im Bereich des Process Mining, die Daten kommen allerdings von der KI. Und auch hier gilt: Die Bewertungen der Analyse basieren immer auf den wertschöpfenden Aspekten.“

Zum anderen erhalten die Kunden Empfehlungen in Form von Spinnendiagrammen, an denen sie genau sehen, in welchen Bereichen welches Verbesserungspotenzial brach liegt. Dabei geht es vor allem um das KI-gestützte Erkennen von Korrelationen. „Ein typischer Use Case: Liefere ich x Tage früher als bisher praktiziert, verbessert sich die Pünktlichkeit der Zahlungen der Kunden um y Prozent.“ Weitere Anwendungsfälle sind die Reduktion der Durchlaufzeiten in der Produktion und die Verringerung der Maschinenausfallzeiten – Stichwort Predictive Maintenance, wo in den KI-Analysen Abweichungen zu Tage treten, bevor etwas passiert. „Damit erhält man den Vorteil, frühzeitig aktiv werden zu können, solange die Maschine noch läuft.“ Als ein weiteres Beispiel nennt Reich die Einkaufsoptimierung. „Es geht darum, möglichst spät, möglichst wenig zu einem möglichst guten Preis einzukaufen. Natürlich gibt es sehr erfahrene Einkäufer und Einkäuferinnen, doch angesichts der steigenden Dynamik wird es zunehmend wichtig, sich unterstützen zu lassen. Wir machen das mit dem Parts Advisor, der dem Procurement hilft, die optimale Menge zu bestellen.“

KI in der Praxis

Wie proALPHA diesen Ansatz in die Praxis umsetzt, zeigt etwa der Fall emz Hanauer, ein weltweit agierender deutscher Produzent von Bauteilen und Systemen für Geschirrspüler, Waschmaschinen, Trockner und Kühlschränke. Das­ Unternehmen ­stand­ vor­ der­ Aufgabe, seine ­Lagerbestände­ effektiv­ zu reduzieren, um das gebundene Kapital zu verringern – und gleichzeitig die Lieferfähigkeit und Ressourcennutzung ­zu optimieren.­ Um­ die Ansprüche ­zu­ erfüllen,­ kam­ die­ proALPHA ­AI-Plattform­ NEMO­ zum­ Einsatz.­

Im ersten Schritt haben die Experten und Expertinnen die im ERP-System hinterlegten Wiederbeschaffungszeiten ­(WBZ) für 2.500­ Kaufteile­ mit Hilfe des intelligenten Systems geprüft­. Die erste Erkenntnis: Die Stammdaten und die tatsächliche Situation klafften in der Regel erheblich auseinander. So wurden erstere angepasst.

Der zweite Schritt adressierte die Transparenz im Lager. Dazu analysierte proALPHA mit Hilfe von NEMO die Bestandsmengen­ und­ -werte­ für­ alle­ Teile­, um die sogenannte Lagerreichweite zu ermitteln. Besonderes­ Augenmerk­ lag­ auf­ Artikeln,­ die­ auffällige ­Liegezeiten – etwa von über zwölf­ Monaten­ – aufwiesen,­ was­ auf­ mögliche­ Ineffizienzen­ in­ der­ Lagerhaltung­ hindeutete.­ Im dritten Schritt ging es um die Ermittlung präziser Verbrauchsprognosen, die Königsdisziplin der Bestandsoptimierung.­ Die Spezialisten trainierten zu diesem Zweck das KI-Modell mit den Verbrauchsdaten der letzten 24 Monate. Der Trick dabei: Der­ prognostizierte Zeitpunkt lag­ ebenfalls in­ der­ Vergangenheit,­ sodass­ umgehend­ ein­ Abgleich­ mit­ den­ tat­sächlichen­ Verbrauchsdaten ­möglich ­war.­ Nach mehreren ­Iterationen mit den Echtverbräuchen stieg die Prognosequalität­ bis zu dem Punkt, an dem die Ergebnisse signifikant besser waren als jene der Menschen – geschweige denn, dass sich das System um ein­ Vielfaches­ effizienter­ und schneller präsentiert als jede Dispositionsabteilung.

Nun besitzt emz Hanauer einen smarten Parts Advisor als zusätzliche Informationsquelle und Entscheidungshilfe­, der direkt im proALPHA ERP integriert ist.

„Wir nutzen die geschilderten Verkaufsprognosen auch als Proof of Concept, bei dem sich sehr schön zeigen lässt, wie gut das System arbeitet. Das schafft Vertrauen“, kommentiert Helmut Reich. Vor diesem Hintergrund vergleicht er die Einführung von KI mit dem autonomen Fahren. „Wir nehmen nicht gleich die Hände vom Lenkrad, um uns fahren zu lassen, sondern gewöhnen uns mit Hilfe der unterschiedlichen intelligenten Fahrerassistenzsysteme Schritt für Schritt an die neuen Möglichkeiten. Bei der KI ist es nicht anders: Es wäre technisch möglich, einen Prozess komplett zu automatisieren, beginnend bei der Auftragserfassung bis hin zur Produktion. Zum einen muss das System aber erst lernen, zum anderen ist es notwendig, dass die verantwortlichen Personen das Vertrauen gewinnen, dass die Ergebnisse passen. Das bedeutet, dass wir nicht komplette Systeme durch KI ersetzten, sondern punktuell. Wir machen den nächsten Schritt erst dann, wenn die notwendige Vertrauensbasis dafür geschaffen ist.“

Digital Twin

Diese Vorgehensweise in mehreren kleineren Schritten bringt auch einen anderen Vorteil mit sich. Während große Unternehmen nicht vor aufwendigen KI-Projekten zurückschrecken, ziehen mittelständische Firmen kleinere Maßnahmen mit schnellen Ergebnisse vor. „Ein typischer Einstiegspunkt in die KI-Welt sind die Lagerbestände, die etwa bei wirtschaftlicher Unsicherheit oder instabilen Supply Chains hochgefahren werden, was wiederum Kapital bindet. Mit unseren Analysen erkennt man die Probleme, dann werden die Stammdaten zurückgeschrieben, was die Planungsgenauigkeit verbessert. Schließlich lassen sich dadurch die Lagerbestände reduzieren. Das ist kein großes organisatorisches Projekt, sondern lässt sich sehr schnell umsetzen und iterativ verbessern.“ Und: „Da wir auf der Beleg-Ebene ansetzen, besteht der Vorteil, das wir die Analysen auch bei älteren proALPHA Releases durchführen können, da sich die Kernelemente wie Vertriebsauftrag, Kommissionierung, Produktionsauftrag und Materialbuchung nicht ändern. Das heißt, wir können die Daten versionsunabhängig und ohne Adaptionen verwenden.“
Am Ende dieser Entwicklung, die durch KI ermöglicht und getrieben wird, entsteht ein ERP-System, das die reale Welt 1:1 widerspiegelt – und das laufend: Kurzfristige Änderungen am Markt finden hier genauso Niederschlag wie mögliche Verzögerungen durch den Urlaub eines Ansprechpartners beim Lieferanten. Damit besitzen Unternehmen künftig tatsächlich einen Digital Twin, und zwar in der Gestalt eines intelligenten ERP-Systems.

ERP+-Familie

Den Informationen des Österreich-Chefs zufolge kommt KI auch intern zum Einsatz. „In der Beratung gibt es viele repetitive Tätigkeiten, wie zum Beispiel Testcases zum Pflichtenheft. Dazu braucht es Testdaten, die ich mir generieren lassen kann. Wir beschäftigen uns auch mit dem Thema KI-generierter Entwickler-Code. Ein weiteres Thema ist die automatisierte Protokollierung von Meetings.“

Der Fokus auf KI zieht sich laut Helmut Reich durch die gesamte Unternehmensgruppe. „So ist die Linzer DIG, die Gesamtlösungen zur umfassenden Automatisierung des Einkaufs realisiert – von eProcurement über automatisierten Belegfluss und Rechnungseingang bis zu komplettem Purchase-to-Pay –, ein Stück weit auf der NEMO AI-Plattform vertreten. Das Gleiche gilt für tisoware, die Lösungen und Systeme zur digitalen Zeiterfassung, Personaleinsatzplanung, Zutrittskontrolle und Manufacturing Execution System bietet. GEDYS als CRM-Spezialist gehört ebenfalls dazu. Das Spannende ist, dass KI produktübergreifend aktiv ist. Das bedeutet etwa, dass genannten Elemente nicht nur über die ERP-Prozesse, sondern auch über die künstliche Intelligenz integriert sind. Gleichzeitig haben wir unser Aktionsfeld entlang der Lieferkette deutlich vergrößert. Mit CRM kommen wir näher an den Kunden, mit DIG näher an die Lieferanten.“ Zum Einsatz kommt nicht nur NEMO, sondern auch Empolis, das KI-gestützte Produkte im Bereich Service-, Wissens- und Content-Management bereitstellt.

Die genannten Lösungen sind Teil der proALPHA ERP+-Familie, zu der unter anderem auch Corporate Planning und ENIT im Nachhaltigkeitsbereich gehören. Angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheiten ist die Nachfrage in diesem Bereich sehr groß, da kleinere Projekte derzeit bevorzugt werden. So teilt sich das Business zwischen dem Kernbereich ERP und ERP+ zu 50:50 auf. Was das Geschäft in Österreich betrifft, so „wachsen wir weiter, aber vorsichtiger“, sagt Reich. „In den letzten Jahren ist der ERP-Markt im Durchschnitt um die drei Prozent gewachsen und wir typischerweise um das Dreifache. Das werden wir aus heutiger Sicht auch dieses Jahr schaffen. Wir können jedenfalls zufrieden sein“, so der Österreich-Verantwortliche bei proALPHA abschließend.

Der Artikel erschien in transform! 03/2024.


Mehr Artikel

Gregor Schmid, Projektcenterleiter bei Kumavision, über die Digitalisierung im Mittelstand und die Chancen durch Künstliche Intelligenz. (c) timeline/Rudi Handl
Interview

„Die Zukunft ist modular, flexibel und KI-gestützt“

Im Gespräch mit der ITWELT.at verdeutlicht Gregor Schmid, Projektcenterleiter bei Kumavision, wie sehr sich die Anforderungen an ERP-Systeme und die digitale Transformation in den letzten Jahren verändert haben und verweist dabei auf den Trend zu modularen Lösungen, die Bedeutung der Cloud und die Rolle von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Unternehmenspraxis. […]

News

Richtlinien für sichere KI-Entwicklung

Die „Guidelines for Secure Development and Deployment of AI Systems“ von Kaspersky behandeln zentrale Aspekte der Entwicklung, Bereitstellung und des Betriebs von KI-Systemen, einschließlich Design, bewährter Sicherheitspraktiken und Integration, ohne sich auf die Entwicklung grundlegender Modelle zu fokussieren. […]

News

Datensilos blockieren Abwehrkräfte von generativer KI

Damit KI eine Rolle in der Cyberabwehr spielen kann, ist sie auf leicht zugängliche Echtzeitdaten angewiesen. Das heißt, die zunehmende Leistungsfähigkeit von GenAI kann nur dann wirksam werden, wenn die KI Zugriff auf einwandfreie, validierte, standardisierte und vor allem hochverfügbare Daten in allen Anwendungen und Systemen sowie für alle Nutzer hat. Dies setzt allerdings voraus, dass Unternehmen in der Lage sind, ihre Datensilos aufzulösen. […]

Be the first to comment

Leave a Reply

Your email address will not be published.


*