EU-Barrierefreiheitsgesetz: Warum Unternehmen jetzt handeln müssen

Die Frist für digitale Barrierefreiheit naht. Sebastian Gierlinger, VP of Engineering bei Storyblok, erklärt im Interview mit ITWELT.at, wie Unternehmen diese Herausforderungen angehen können, welche Chancen Barrierefreiheit bietet und wie moderne Technologien wie Headless CMS einen spürbaren Unterschied machen. [...]

Sebastian Gierlinger, VP of Engineering bei Storyblok (c) Storyblok
Sebastian Gierlinger, VP of Engineering bei Storyblok (c) Storyblok

Am 28. Juni 2025 endet die Übergangsfrist des EU-Barrierefreiheitsgesetzes. Doch viele Unternehmen sind noch nicht ausreichend vorbereitet. Trotz klarer Vorgaben bleiben digitale Plattformen häufig unzugänglich – mit weitreichenden Konsequenzen. Neben rechtlichen Risiken stehen auch wirtschaftliche Verluste und Schäden am Unternehmensimage auf dem Spiel.

Das EU-Barrierefreiheitsgesetz rückt näher, die Frist endet am 28. Juni 2025. Warum sind Ihrer Einschätzung nach so viele Unternehmen trotz dieser nahenden Frist noch immer nicht ausreichend auf die neuen Vorschriften vorbereitet?

Ein großes Problem ist, dass viele Unternehmen Barrierefreiheit nicht als strategische Priorität sehen. Oft fehlt das Bewusstsein dafür, dass digitale Barrierefreiheit weit über gesetzliche Vorgaben hinausgeht und tatsächlich einen Mehrwert für alle Nutzer:innen schafft. Dazu kommen begrenzte Ressourcen – insbesondere, wenn andere digitale Projekte als dringender wahrgenommen werden. Ein weiteres Hindernis ist die technische Komplexität: Unternehmen, die bislang wenig mit Barrierefreiheitsstandards zu tun hatten, wissen oft nicht, wo sie anfangen sollen oder fürchten hohe Kosten. Dabei gibt es mittlerweile zahlreiche Tools und Lösungen, die den Einstieg erheblich erleichtern.

Welche spezifischen Hürden sehen Sie in der Umsetzung bei den Unternehmen?

Eine der größten Hürden ist, dass viele Unternehmen Barrierefreiheit erst spät in ihren digitalen Prozessen berücksichtigen. Häufig werden bestehende Websites nachträglich angepasst, anstatt Barrierefreiheit von Anfang an mitzudenken. Das macht die Umsetzung oft unnötig kompliziert und teuer.

Dazu kommen technische Herausforderungen wie beispielsweise die Sicherstellung der Barrierefreiheit über verschiedene Geräte und Browser hinweg. Unterschiede in Betriebssystemen, Endgeräten und Software-Versionen erschweren eine konsistente Umsetzung. Ein weiteres Problem sind Drittanbieter-Tools und Plugins, die nicht immer für Barrierefreiheit optimiert sind. Unternehmen sind dadurch von externen Lösungen abhängig, die oft nur schwer angepasst werden können. Auch die fehlende Integration von Accessibility-Checks in den Entwicklungsprozess führt dazu, dass Probleme zu spät erkannt werden. Wer Barrierefreiheit von Anfang an als festen Bestandteil in Design und Entwicklung integriert, kann diese Hürden deutlich reduzieren.

Die aktuellen Zahlen des WebAIM Million Reports zeigen, dass ein Großteil der meistbesuchten Websites noch nicht barrierefrei ist und durchschnittlich eine hohe Anzahl an Fehlern aufweist. Welche Ihrer Beobachtungen decken sich mit diesen Ergebnissen, und welche spezifischen Barrieren fallen Ihnen in Ihrer Arbeit mit Unternehmen besonders auf?

Die Zahlen des WebAIM Million Reports bestätigen unsere Beobachtungen: Viele Websites weisen grundlegende Probleme auf, die oft vermeidbar wären. Besonders häufig sehen wir fehlende Alternativtexte für Bilder, wodurch visuelle Inhalte für Screenreader-Nutzer:innen nicht zugänglich sind. Geringe Farbkontraste erschweren zudem die Lesbarkeit von Texten – nicht nur für Menschen mit Sehbehinderungen, sondern auch für Nutzer:innen, die ihre Geräte unter schlechten Lichtverhältnissen verwenden.

Ein weiteres Problem sind nicht barrierefreie Formulare, die keine klaren Fehlermeldungen ausgeben oder nicht vollständig mit der Tastatur bedienbar sind. Dadurch wird es für Nutzer:innen mit motorischen oder kognitiven Einschränkungen schwieriger, notwendige Eingaben zu tätigen. Auch die Navigation stellt eine große Hürde dar: Unstrukturierte Seiten ohne klare Überschriften oder logische Reihenfolgen erschweren die Orientierung, insbesondere für Menschen, die auf assistive Technologien angewiesen sind.

Hinzu kommt das vorhin erwähnte Problem mit den Drittanbieter-Plugins. Da sich diese häufig nur schwer anpassen lassen, entstehen zusätzliche Barrieren. Das zeigt, dass Barrierefreiheit nicht nur ein technisches, sondern auch ein strukturelles Thema ist.

Es drohen Folgen für Unternehmen, die nicht rechtzeitig handeln. Könnten Sie über die rein finanziellen Aspekte hinaus erläutern, welche weiteren Konsequenzen Unternehmen befürchten müssen, wenn sie die Barrierefreiheitsanforderungen nicht erfüllen?

Neben den finanziellen Strafen riskieren Unternehmen vor allem einen massiven Reputationsverlust. Eine nicht barrierefreie Website sendet die Botschaft aus, dass eine große Nutzergruppe übersehen oder sogar ausgeschlossen wird. Gerade in einer Zeit, in der Diversität und Inklusion immer stärker in den Fokus rücken, kann das ein echtes Problem für die Markenwahrnehmung werden. Zudem hat Barrierefreiheit direkte Auswirkungen auf die Nutzererfahrung: Wer seine Website nicht zugänglich gestaltet, sorgt für Frustration – und riskiert, dass potenzielle Kund:innen abspringen und zur Konkurrenz wechseln.

Ein wichtiger Punkt ist, wie Websites barrierefrei werden können, ohne eine komplette Neuprogrammierung. Welche konkreten Strategien und Technologien können Unternehmen hierbei einsetzen, und welche Rolle spielt dabei beispielsweise ein Headless CMS wie Storyblok?

Der Schlüssel liegt darin, Barrierefreiheit nicht als nachträgliche Korrektur, sondern als festen Bestandteil der digitalen Strategie zu sehen und zu implementieren. Ein modernes CMS spielt dabei eine wichtige Rolle: Es ermöglicht eine komponentenbasierte Architektur, bei der einmal erstellte barrierefreie Elemente – z. B. korrekt formatierte Formulare oder zugängliche Navigationsstrukturen – wiederverwendet und über verschiedene digitale Kanäle hinweg ausgespielt werden können. Zudem lässt sich Barrierefreiheit so direkt in den Content-Erstellungsprozess integrieren, sodass Fehler gar nicht erst entstehen.

Ein Beispiel dafür ist ein neues AI-Feature von Storyblok, die es ermöglicht, Alt-Texte für Bilder automatisiert zu generieren. Durch den Einsatz eines Headless Systems kann diese Funktionalität in allen implementierten Frontends genutzt werden, ohne dass für jedes Frontend eine separate Lösung entwickelt werden muss. Dies spart nicht nur Zeit und Aufwand, sondern stellt auch sicher, dass die Barrierefreiheit durchgängig und konsistent gewährleistet ist.

Barrierefreiheit ist nicht nur ein Compliance-Thema, sondern stellt auch eine enorme Marktchance dar. Könnten Sie näher auf dieses Marktpotenzial eingehen und uns erläutern, wie Unternehmen von einer barrierefreien Gestaltung ihrer Online-Angebote profitieren können – abgesehen von der Vermeidung von Strafen?

Barrierefreiheit bringt Unternehmen einen klaren Wettbewerbsvorteil. Zum einen erweitern sie ihre potenzielle Kundengruppe erheblich, denn Menschen mit Behinderungen und ihre Familien stellen eine enorme Kaufkraft dar – allein in der EU sprechen wir von ca. 87 Millionen Menschen. Zum anderen profitieren aber auch alle anderen Nutzer:innen: Eine barrierefreie Website ist meist klarer strukturiert, intuitiver bedienbar und dadurch für alle angenehmer zu nutzen. Außerdem wirkt sich Barrierefreiheit positiv auf die Suchmaschinenoptimierung aus, da zugängliche Websites oft eine bessere Struktur und saubere Codebasis haben.

Technische Anforderungen können komplex sein. Wie gehen Sie in Ihrer Beratungspraxis vor, um diese komplexen Sachverhalte Unternehmen verständlich zu vermitteln und die Notwendigkeit von Barrierefreiheit auch auf technischer Ebene zu verdeutlichen?

Wir setzen auf eine Mischung aus automatisierten Tests und menschlichen Prüfungen, um Barrierefreiheitsprobleme sichtbar zu machen. Viele Unternehmen verstehen erst dann, welche Herausforderungen es gibt, wenn sie ihre eigene Website mit einem Screenreader testen oder versuchen, nur mit der Tastatur zu navigieren. Deshalb legen wir großen Wert darauf, Unternehmen Barrierefreiheit aus der Nutzerperspektive erleben zu lassen. Gleichzeitig helfen wir dabei, technische Anforderungen in konkrete, umsetzbare Maßnahmen zu übersetzen – etwa durch Priorisierungen nach Wirkung und Aufwand.

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Auswahl des Content-Management-Systems (CMS) für die Barrierefreiheit einer Website?

Das Content-Management-System ist ein entscheidender Faktor. Ein modernes, flexibles CMS kann Unternehmen enorm dabei unterstützen, Barrierefreiheit direkt in den Content-Erstellungsprozess zu integrieren. Allerdings kann ein CMS im schlechtesten Fall auch im Weg stehen, wenn es keine ausreichenden Funktionen zur Qualitätssicherung bietet.

Ein echtes Headless CMS hingegen ermöglicht es den Benutzer:innen, Pflichtfelder in den Komponenten zu definieren. So kann bereits bei der Erstellung des Contents auf fehlende Bildbeschreibungen, doppelte Überschriften oder mangelnde Lesbarkeit hingewiesen werden. Auf diese Weise werden potenzielle Barrierefreiheitsprobleme direkt vermieden, bevor der Content veröffentlicht wird. Außerdem erlaubt die komponentenbasierte Architektur eines Headless CMS, Inhalte unabhängig vom Frontend zu verwalten und barrierefrei aufzubereiten, um sie dann ohne Mehraufwand über die verschiedensten Kanäle auszuspielen.

Wie können Unternehmen sicherstellen, dass neue Features und Inhalte von vornherein barrierefrei implementiert werden und nicht nachträglich aufwendig angepasst werden müssen?

Barrierefreiheit muss von Anfang an Teil des Entwicklungsprozesses sein. Unternehmen sollten klare Richtlinien und Prozesse etablieren, damit jede neue Funktion und jeder neue Inhalt direkt zugänglich gestaltet wird. Dazu gehört, dass Design-, Content- und Entwicklungsteams eng zusammenarbeiten und Barrierefreiheit als festen Bestandteil ihrer Arbeit betrachten. Automatisierte Tests sind eine gute Grundlage, ersetzen aber nicht die Perspektive von Menschen mit Behinderungen. Deshalb lohnt es sich, aktiv mit betroffenen Nutzer:innen zusammenzuarbeiten – sei es durch Testgruppen oder durch das gezielte Engagement von Menschen mit Behinderungen als manuelle Tester. So können Unternehmen sicherstellen, dass ihre digitalen Produkte wirklich alltagstauglich und inklusiv sind.

Welchen Rat würden Sie Unternehmen geben, die jetzt kurz vor der Frist stehen und noch dringenden Handlungsbedarf in Bezug auf die Barrierefreiheit ihrer Websites haben?

Der wichtigste Schritt ist, jetzt sofort eine Bestandsaufnahme zu machen: Wo stehen wir aktuell in Sachen Barrierefreiheit? Unternehmen sollten zunächst eine umfassende Barrierefreiheitsprüfung durchführen – sowohl mit automatisierten Tools wie Accessibility-Scannern, die schnell gängige Probleme identifizieren, als auch mit manuellen Tests.

Parallel dazu sollten sich Unternehmen auf Maßnahmen konzentrieren, die mit relativ wenig Aufwand eine große Wirkung erzielen: Ungünstige Farbkontraste sollten optimiert, Bilder mit Alternativtexten versehen und die Seitenstruktur durch klare Überschriften verbessert werden. Besonders wichtig ist die Tastaturbedienbarkeit – interaktive Elemente müssen ohne Maus erreichbar sein und eine klare visuelle Rückmeldung geben. Auch Formulare sollten verständlich und korrekt beschriftet sein.

Für eine langfristige Umsetzung sollte Barrierefreiheit nicht als einmalige Anpassung betrachtet, sondern, wie vorhin erklärt, fest in Prozesse integriert werden – und dafür eignen sich vor allem Headless CMS hervorragend.

Zur Person
Sebastian Gierlinger ist erfahrener Entwickler, Team-Builder und Leader. Als VP of Engineering bei Storyblok setzt er alles daran, Entwickler:innen ein CMS zur Verfügung zu stellen, das all ihre Anforderungen erfüllt. Mit über 10 Jahren Erfahrung in den Bereichen CMS-Entwicklung und Sicherheit liegt sein Fokus auf Leistung und Benutzerfreundlichkeit. Sebastian ist leidenschaftlich daran interessiert, Open-Source-Projekte zu unterstützen und Community-Events für Entwickler:innen zu organisieren.


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Die beiden Sprecherinnen von Women@DSAG: (links) Franziska Niebauer, Beraterin für SAP IS-H bei der Helios Kliniken GmbH, und Anna Hartmann, Geschäftsführerin der in4MD Service GmbH (c) Bild links: Helios Kliniken GmbH; Bild rechts: www.AndreasLander.de
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