IT-Abteilung: Die „Business Prevention Unit“

Ron Tolido über Capgeminis aktuellen Application Landscape Report, über den Grund, warum ERP in Österreich wichtiger scheint als Trend-Technologien wie Big Data – und warum CIOs nicht die geeignete Personengruppe sind, Innovationen voranzutreiben. [...]

Anlässlich der 25-Jahr-Feier lud der Vorstandsvorsitzende von Capgemini in Österreich, Klaus Schmid, kürzlich alle ehemaligen sowie aktuellen Mitarbeiter zu einem „Circle of Excellence“ in den Justizpalast nach Wien ein. Unter den Gästen: Ron Tolido, Senior Vice President and Chief Technology Officer of Application Services Continental Europe bei Capgemini, mit dem COMPUTERWELT sprach.

Tolido schrieb vor kurzem in seinem Blog über die Bank ING, die plant, Kundendaten mit ausgewählten Partnerunternehmen zu teilen, um dem Klientel auf Basis von Big Data-Analysen maßgeschneiderte Angebote unterbreiten zu können. Obwohl ausschließlich als Opt-In geplant, war der Aufschrei in den Social Media-Kanälen groß.

COMPUTERWELT: Wird Big Data in Europa grundsätzlich kritischer gesehen als in anderen Teilen der Welt?
Ron Tolido: Besonders in Deutschland und in den Niederlanden sind die Bedenken beim Thema Datenschutz groß. Skandinavische Länder zum Beispiel scheinen die Bedenken geringer. Was mich überrascht, denn die Niederlande sind bekanntlich eine offene Gesellschaft, in der Informationen gerne geteilt werden. Niederländer haben zudem die größten Wohnzimmerfenster der Welt.  

Warum war dann der Protest hier so groß?
Ich glaube, dass einerseits Fehler in der Kommunikation passiert sind. Hätte man sich von Anfang an auf die Vorteile, die Kunden genießen können, konzentriert, wäre die Sache sicherlich anders abgelaufen. Jetzt steht im Raum, dass ING Kundendaten an Drittfirmen verkauft. Andererseits sind Menschen noch nicht an die Möglichkeiten von Profiling gewöhnt, obwohl etwa Handelsunternehmen das schon seit vielen, vielen Jahren machen.
Ich glaube, das ist auch ein Generationenproblem. Meine Kinder, alle rund 20 Jahre alt, kümmern sich viel weniger um Privacy. Auch die Art, wie sie Technologie nutzen, ist eine ganz anders. Die eigentlichen Bremser sind jedoch nicht die höheren Semester, sondern eher Menschen in ihren 40er-Jahren. Sie wissen, wie IT funktioniert, sind aber zu alt, um die Entwicklungen zu absorbieren. Die Menschen sind die neue „lost generation“. Leute über 60 haben da interessanterweise weniger Probleme etwa mit Big Data.

Big Data scheint in unseren Breiten ein Akzeptanzproblem zu haben. EIne CIO-Unfrage der COMPUTERWELT hat gezeigt, dass ERP das aktuell wichtigste Thema ist, weit abgeschlagen: Big Data.  
Das entspricht genau unserem aktuellen Application Landscape Report. Die CIOs machen sich am meisten Gedanken über die im Einsatz befindlichen Applikationen. Das in vielen Unternehmen eingesetzte ERP ist in der Regel sehr stark auf die speziellen Kundenwünsche ausgerichtet, oft übertrieben customized, nicht selten mit 40 und mehr Instanzen. Ein Upgrade des ERP-Systems ist unter diesen Voraussetzungen ein Event, das das Leben des CIOs verändern kann.
Dass Big Data so weit unten steht, sagt auch einiges über die geistige Haltung der heutigen CIO-Generation. Ich erlebe immer wieder, dass Business-Leute wie Top-Manager die Prinzipien moderner Technologien sehr gut verstehen und ob der Möglichkeiten, die sie bieten, begeistert sind. Diese Leute lieben IT, sie haben keine Probleme mit Big Data oder mobilen Applikationen, sie haben aber Probleme mit den IT-Leuten, die langsam sind, die nur versuchen, ihren Kopf über Wasser zu halten und eine IT-Landschaft bewahren, in der die neuen, spannenden Dinge nicht möglich sind.

Man hört immer wieder, CIOs würden ja gerne, aber die schrumpfenden Budgets erlauben keine Innovationen.
Unser aktueller Report zeigt, dass die IT-Budgets wieder steigen, nicht spektakulär, aber sie steigen. Das war vor drei Jahren noch anders. Das Problem ist, dass sehr viel Geld in die bestehenden, komplexen und daher teuren Infrastrukturen fließen. Wenn es um ERP geht, dann ist Rationalisierung das Gebot der Stunde. Es geht darum, die Komplexität herauszunehmen. Eine einzige Instanz ist einfacher zu warten als viele. Dadurch spart man Geld.

Dadurch büßt man auch an Flexibilität ein.
Flexibilität kommt meiner Meinung nach nicht vom ERP-System. Das ist ein grundsätzliches Missverständnis. Ich bemühe in diesem Zusammenhang gerne die Analogie der Produktion von Zügen und Bussen versus Personenwagen und Motorrädern. Erstere sind stabil und robust, gemacht für Jahrzehnte. Im Gegensatz dazu Autos und Motorräder: Sie sind flexibel, schnell, agil mit kurzen Lebenszyklen, So sind moderne Applikationen, die als mobile Version mitunter wöchentlich upgedatet werden. Stellen Sie sich vor, jede Woche ein ERP-Update einspielen zu müssen. Wie gesagt, ein ERP-Upgrade kann das Leben verändern und die Karriere eines CIO beenden. Das sind berühmte letzte Worte: Wir machen ein ERP-Upgrade.

Was sollen CIOs konkret tun?
CIOs sollte das ERP-System so belassen, wie es gemeint war: als ein Silo. Silos haben derzeit einen schlechten Ruf, man will alle Silos im Unternehmen loswerden. Doch Silos haben den Vorteil, dass sie robust und sicher sind. Die spannenden Dinge sollte man nicht in den Silos machen, sondern um sie herum. In Frage kommt auch Cloud-ERP.  

Man sagt, dass ERP für die Cloud nicht wirklich geeignet ist.
ERP lässt sich sehr gut in der Cloud realisieren, es kommt nur darauf an, wie man an die Sache herangeht. Was man heute oft sieht, ist eine Two-Tier-Strategie. Ein zentrales, stark standardisiertes ERP auf der einen Seite und auf der anderen ein Cloud-ERP für abgelegene Niederlassungen oder exotische Business Units wie F&E mit speziellen Anforderungen. Via Konnektoren lassen sich die beiden Welten sehr gut verbinden.

Fördert Cloud-ERP nicht die Schatten-IT?
Es wird nur dann zur Schatten-IT, wenn der CIO falsch an die Sache herangeht. Wenn er zum Beispiel Themen wie Big Data weit hinten reiht. Manche CIOs gehen gegenüber den neuen Technologien in den Ignorier-Modus und schließlich fangen sie an, Verbote auszusprechen. Das letzte, das ein CIO machen sollte, ist, Initiativen zu unterbinden. Sonst wird die IT zur Nein-Sager-Abteilung – zum „Business Prevention Department“.

Kommt das nicht von dem organisatorischen Problem, dass viele IT-Abteilungen am CFO hängen, dem typischen Nein-Sager im Unternehmen?
Es gibt eine junge Generation von CFOs, die ganz anders gestrickt sind. Eine Generation, die viel mehr in Werten denkt als in Zahlen. Ich habe schon die Bezeichnung CVO gesehen, Chief Value Officer, statt CFO.

Wie sieht der CIO der Zukunft aus? Soll er die Innovationen im Unternehmen vorantreiben?
Ich glaube, dass Innovation abseits der IT passiert. Daher ist es besser, wenn sich die iT darauf konzentriert, eine Plattform zu schaffen, wo andere ihre Innovationen umsetzen können. Der CIO sollte weniger auf die Anforderungen der Fachabteilungen warten, sondern von sich aus eine Plattform schaffen, auf der andere neue Dinge entwickeln können.
Manche Unternehmen haben einen CIO und einen CDO, Chief Digital Officer, oder wie auch immer man ihn bezeichnen will. Letzterer ist mit der digitalen Transformation beschäftigt. Er ist der kreative Kopf, er sieht die Technologie als Plattform, die etwa dazu dient, das Geschäftsmodell zu ändern oder um die internen Prozesse zu verbessern.

Viele Unternehmen verlangen, dass der CIO beide Rollen vereint.
Es ist nicht gerecht, das von einem CIO zu verlangen. Die heutige IT muss als Business geführt werden. Eine sehr komplexe Aufgabe mit vielleicht Tauenden Mitarbeitern in vielen Ländern verteilt. Das ist ein Management-Job. Die digitale Transformation ist meiner Meinung nach kein Thema des Managements. Es ist eine Sache der Kreativität, der Visionen. Unterm Strich: Wir erwarten uns von der CIO-Rolle zu viel.

Sehen Sie kulturelle Unterschiede in Sachen Innovation?  
Unser Application Landscape Report zeigt zum Beispiel, dass Länder wie Brasilien und China neuen Technologien viel offener gegenüberstehen als andere. Auch ist es so, dass kleine und mittelständische Unternehmen viel leichter mit Innovationen umgehen als große. Selbst so manche mittelständische Bank – eine Branche, die Standard-Software grundsätzlich nicht unbedingt wohl gesonnen ist – scheut sich nicht, einige Applikationen als Cloud-Modell laufen zu lassen, sogar bei Amazon Cloud. Die Preisvorteile dieser Lösung sind derart groß, dass sich die CIOs anderer Unternehmen auf die Dauer nicht verschließen können.

Das Gespräch führte Wolfgang Franz.


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