„Social ist overhypt, weil es nicht datengetrieben genutzt wird“

Programmatic Marketing ersetzt das früher übliche Bauchgefühl durch eine solide Datenbasis und Messbarkeit. Die COMPUTERWELT sprach mit Siegfried Stepke, Geschäftsführer der Wiener Online Marketing Agentur e-dialog und Veranstalter der ProgrammatiCon, die vom 18. bis 20. Oktober 2017 im Parkhotel Schönbrunn über die Bühne geht. [...]

Für alle, die mit der Materie nicht vertraut sind: Was versteht man unter Programmatic Marketing?
Unter Programmatic Marketing versteht man Marketing-Maßnahmen, die von Regeln und Algorithmen gesteuert werden – das reicht bis zum automatisierten Einkauf der Werbekontakte. Programmatic Marketing ist der Oberbegriff dafür, dass man Daten nutzt, um zu entscheiden, wen ich mit welcher Botschaft auf welchem Kanal adressieren will. Einer der ersten Spezialbereiche ist Realtime Bidding. Hier geht es darum, dass freie Werbeflächen in Echtzeit über Börsen gehandelt werden. Der das beste Gebot abgibt, bekommt den Zuschlag für diesen Werbeplatz.

Dafür brauche ich eine verlässliche Datengrundlage, um entscheiden zu können, ob ein bestimmter User, der gerade auf einer Site ist, für mich interessant ist. Zweitens muss ich entscheiden, wie viel mir der User Wert ist. Ist es jemand, der am Anfang der Customer Journey steht? Dann wird mein Angebot nicht hoch sein. Oder ist es jemand, der kurz vor dem Kauf steht? Für diesen zahle ich einen anderen Preis. Drittens die Dynamisierung der Botschaften: Der Banner wird an die spezielle Situation des Users angepasst. Es geht meist um die Individualisierung der Botschaft bei Gruppengrößen von 200 bis 2.000 Personen. Auf diese Weise kann ich beispielsweis einen Bestandskunden anders ansprechen als einen Neukunden, was aber in der Regel sträflich verabsäumt wird. Es ist ärgerlich, als Bestandskunde ein Neukundenangebot zu bekommen, nur um zu sehen, wie günstig es wäre, jetzt abzuschließen. Das ist mit technischen Mitteln vermeidbar.

Man kann auch automatisiert out of home einbuchen, d.h. digitale Litfasssäulen und digitale Plakate. Es gibt schon die ersten Ansätze dafür, dass daraus dynamische Werbemittel werden, die Interaktionen erlauben, etwa über Touchscreens oder über eine Kamera, die meine Bewegungen erkennt.

Heißt das, dass der Marketier der Zukunft Data Scientist sein wird?
Wir brauchen Data Scientists, aber ich glaube nicht, dass es zu einer Personalunion kommen wird, weil das Thema unterschiedliche Anlagen und Ausbildungen erfordert. Das sehen wir in unserem eigenen Digital Analytics-Team. Nicht alle Mitarbeiter sind gleich ausgebildet und besetzen die gleichen Schwerpunkte. Die einen konzipieren, um die Business Requirements zu erfüllen, die anderen kümmern sich um die Implementierung und die Schnittstellen, damit die Daten einfließen können und korrekt sind. Andere wiederum lesen daraus die Insights. Es sind die heterogensten Leute.

Wie weit lässt sich Marketing automatisieren? Droht dem Werbetreibenden der Jobverlust? 
Eine sehr spannende Frage. Jeder muss sich selbst auf den Prüfstand stellen, egal ob Chirurg, Kreativer oder Werbetreibender. Eins ist ganz klar: Unsere Systeme haben explizit oder implizit Machine Learning inkludiert. Wir sitzen aber noch immer am Steuerhebel und testen verschiedene Strategien, die wir überwachen. Ich kann mir schon vorstellen, dass die Maschinen uns sehr viel Arbeit abnehmen werden, wenn ich die Zielgrößen dem System bekannt gegeben habe. Man darf auch nicht vergessen, dass wir heute erst in der Steinzeit sind von dem, was alles möglich sein wird. Wir werden deswegen nicht arbeitslos sein, da wir bis dahin andere Skills erreicht haben werden.

Das Ziel von Programmatic Marketing ist nicht, dass komplett automatisiert wird, sondern dass Werbung effizienter und relevanter wird. Der Nebeneffekt ist, dass viel Automatisierung und Intelligenz einbezogen wird.

Wie sieht es mit der Ausbildung in diesem Bereich aus?
Viele kommen aus der Ausbildung und glauben noch immer, dass das Fernsehen die Zukunft ist. In Wahrheit schwindet der Impact von klassischem, linearem TV rapide. Aber das Schöne an der heutigen Zeit ist, dass man sehr vieles lernen kann, wenn man den Willen und Hausverstand mitbringt.

Ist das Thema in den heimischen Marketing-Abteilungen angekommen?

Leider hinkt Österreich bei diesem Thema hinterher, im Online-Marketing-Umfeld ist es aber angekommen. Derzeit wird Programmatic Marketing mit Banner und Video assoziiert und gelebt. Aus meiner Sicht wird jedoch noch zu wenig auf die Themen Data Ownership und Data Governance geachtet. In der Regel lagert man das einfach an eine Mediaagentur aus und hofft, dass die Aspekte dort geregelt werden. Am erfolgreichsten werden die sein, die nicht nur über ihre Daten Bescheid wissen, sondern sie auch besitzen und intelligent damit arbeiten. Die Chancen, die sich jetzt ergeben, ist, mehrere Kanäle anzubinden, also nicht nur auf Video zu beschränken, sondern auch auf andere Bereiche wie etwa Search auszudehnen, um die Customer Journey weiterzubetreuen. Klassische Offline-Kanäle wie Plakat und Fernsehen kommen ebenfalls hinzu.

Wie sieht es auf der Anbieterseite aus?

Wir machen das seit 15 Jahren. Wir arbeiten immer schon sehr stark mit Analytics und Tracking – Dinge, auf die früher niemand geachtet hat. Seit etwa zwei Jahren sagen all jene, die vor drei Jahren noch mit Excel gearbeitet haben: Wir können auch mit Daten. Plötzlich sind alle Experten. Das würde ich hinterfragen und mir Cases zeigen lassen.

Welche Herausforderungen kommen auf die Kunden zu?

Man muss sich erst einmal damit auseinandersetzen, welche Daten gesammelt werden sollen. Manche sammeln Daten, die nur Schrott sind. Sobald überprüft wurde, ob die Daten valide sind, werden diese verknüpft und intelligent segmentiert, um daraus gute Kampagnen zu machen. Ein wichtiger Punkt, den viele Kunden mit uns diskutieren, ist die Verknüpfung dieser schönen digitalen Welt mit der klassischen CRM-Welt. CRM gibt es schon viel länger und hat nur personenbezogene Daten, die aber in einer viel größeren Tiefe. Wir adressieren auch User, die noch keine Kunden und somit noch nicht im CRM sind. Diese beiden Bereiche in Echtzeit zu verknüpfen, ist sehr spannend. Mit Realtime meine ich nicht 15 Minuten, wie oft beim Mitbewerb, sondern 15 Millisekunden.

Neben den Themen wie Machine Learning ist für uns Attributionsmodellierung zentral. Das bedeutet, dass wir jetzt viel besser in der Customer Journey erkennen können, welche Kontakte in welcher Reihenfolge erfolgreicher waren als andere Kombinationen. Etwa Video, Banner, Suche oder ist eine andere Reihenfolge besser? Ich kann auch sagen, wie lange die Customer Journey dauert und auch die Cross Device Journey miteinbeziehen – etwa vom Smartphone über Desktop zum Tablet.
Wir gehen auch in die Qualität der Daten. Wir tracken z.B. mit, wie viel Wörter ein Text hat, der gerade gelesen wird. Man weiß zwar nicht, was und wie genau jemand gelesen hat, aber summiert über 10.000 Aufrufe kann man darüber etwas ablesen. Dann sehen wir uns an, ob etwa Kommentare produktiv oder kontraproduktiv sind, um das Engagement auf einer Seite zu erhöhen.

Sie gelten als ein Befürworter von E-Mail, was nicht gerade dem aktuellen Trend entspricht.
Aus Marketing-Sicht ist E-Mail einer der besten Kanäle, die es gibt. Wenn ich das Opt-in von einem User habe – ich spreche also nur von sauberem E-Mail-Marketing –, dann hat er mir sehr viel Freiheiten und Vertrauen gescheckt. Mails werden inzwischen am Handy gelesen – das persönlichste Device überhaupt. Mit E-Mail komme ich in die Inbox meines Adressaten. Selbst wenn er das Mail wegwischt, habe ich einen Markenkontakt gehabt und erhalte dadurch ein sehr wichtiges Signal, dass eine bestimmte Information den User nicht interessiert. Das heißt, ich schicke ihm eine andere Botschaft. Auf diese Weise kann ich lernen, den User nicht zu nerven.

Wir machen viele Customer Journey-Analysen, die zeigen: E-Mail pusht die Customer Journey tausend Mal besser als Social. Social ist overhypt, weil es kaum datengetrieben genutzt wird. Man spricht über Communities, Content und Stories ohne zu messen oder zu steuern. Was wir in Programmatic machen, ist: Wir bilden Segmente, targeten die mit individuellen Botschaften, lernen daraus und optimieren – und das Daten-basierend. Wir gehen auch hier ganz weg vom Gießkannenprinzip, optimieren innerhalb der Kampagne die Botschaft und holen damit viel mehr heraus. Unter diesen Vorzeichen ist Social genial. Aber nicht mit klassisch gedachten Kampagnen. So wie der Kanal jetzt genutzt wird, ist der ROI noch nicht da.

Als Konsument hat man das Gefühl, dass Werbung in den letzten Jahren nicht zielgenauer, sondern bloß penetranter geworden ist. Monatelang wird man im Internet von Botschaften verfolgt, die uninteressant sind.
Das kommt daher, dass die klassische Gießkanne die gleiche Botschaft vermittelt. Die Qualität lässt auch zu wünschen übrig, weil es sehr wenig Geld kostet, jemanden sechs Monate lang zu begleiten, auch mit „Falschem“. Wir beweisen gerade, wie man mit Daten relevante Kampagnen erzeugt. Natürlich kann man auch einmal bei der Individualisierung danebengreifen, ich habe aber auch die Chance, Fehler sehr schnell zu erkennen. Früher musste man lange warten, um zu erkennen, dass eine Kampagne nicht funktioniert hat. Heute weiß ich nach wenigen Millisekunden die Antwort auf die Frage: Habe ich die gewünschte Reaktion erreicht oder nicht?

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Programmatic Marketing-Veranstaltung zu organisieren?
Letztes Jahr habe ich gesehen, dass es Zeit ist, zu diesem Thema etwas zu etablieren. Das Programm ist an einem Wochenende entstanden, alle Partner haben innerhalb einer Woche zugesagt. Die Resonanz war sehr gut und ich bin für das erste Mal sehr zufrieden. Das Feedback am Ende der letztjährigen Veranstaltung war so, dass wir entschieden haben, es dieses Jahr zu wiederholen, nur größer. Wir haben das Programm zudem erweitert. Wir haben nun zwei parallele Tracks und vier Trainings statt einem. Wir haben jetzt noch Anfragen von möglichen Kooperationspartnern, die ich auf das nächste Jahr vertrösten musste. Das alles zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Was sind die Schwerpunkte der diesjährigen Veranstaltung?
Wir adressieren vor allem Einsteiger und Intermediates. Wir sind sehr praxisorientiert, zeigen Best Practices und erzählen, welche Weichen man stellen soll, um auf künftige Entwicklungen vorbereitet zu sein. Schwerpunkte sind Video und Native Ads. Wir sprechen aber auch über Daten bis hin zur Attributionsmodellierung. Wir haben Kanal-übergreifende Themen wie Cross Channel von Online zu Offline, aber auch die unterschiedlichen Devices.

Ich bin sehr stolz, dass es ein sehr ausgewogenes Programm ist und ich freue mich über die Keynote-Speakerin Barbara Agus von Time Inc. in London. UK ist der elaborierteste Markt überhaupt, teilweise vor den USA.

Siegfried Stepke ist Geschäftsführer der Wiener Online Marketing Agentur e-dialog und Veranstalter der ProgrammatiCon.

Die ProgrammatiCon findet von 18. bis 20. Oktober 2017 im Parkhotel Schönbrunn in Wien statt. Die Veranstaltung richtet sich an Marketingentscheider, Online Marketing Professionals, E-Commerce Verantwortliche, Advertiser, Publisher und Agenturen. Auf der Konferenz zeigen Experten, wie die Möglichkeiten von Programmatic optimal für das eigene Business genutzt werden. Die Anmeldung finden Sie hier.


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