„Technologie darf Mitarbeitende niemals behindern“ 

Susanne Tischmann ist CTO beim ÖAMTC, CIO Award Gewinnerin 2024 und Verfechterin einer menschenzentrierten IT. ITWelt.at sprach mit ihr über aktuelle Projekte und das Nice-to-have einer Anwendung – das gute Erlebnis, das mit einem Standardprozess oft nicht möglich ist. [...]

Susanne Tischmann, CTO beim ÖAMTC (c) ÖAMTC
Susanne Tischmann, CTO beim ÖAMTC (c) ÖAMTC

Sie führen den CTO-Titel, nicht den eines CIO. Was ist der Grund? 

Susanne Tischmann: Als ich die Verantwortung für die IT übernommen habe, war das mit einer Reorganisation verbunden. Davor war die IT auf verschiedene Business-Units aufgeteilt, ich habe jenen Teil aus dem Bereich der Nothilfe mitgebracht. Nach der erfolgreichen Zentralisierung durfte ich mir für Leiterin der Technologie einen englischen Chief-Titel aussuchen. Ich bin auf Forschungsreise gegangen und habe die Stellenbeschreibung für den ersten CTO für die USA unter Barack Obama gefunden. Nicht dass ich mich mit einem Staats-CTO vergleichen möchte, doch hat mir hier vieles besser gefallen als bei den landläufigen CIO-Beschreibungen. Im speziellen den Zugang als Berater und Experte für neue Produkte und Technologien finde ich erstrebenswert.  

Für Sie ist der menschliche Faktor in der IT sehr wichtig. Geht der mit dem CTO-Titel nicht etwas verloren?  

Wir sehen die Technologie immer als etwas, das die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unterstützt und niemals behindern darf. Die Technologie sorgt beispielsweise dafür, dass die Mitarbeitenden an den Stützpunkten die notwendigen Informationen schnell bekommen. Das Verständnis von IT vor 20 Jahren – die Software schreibt vor, wie Prozesse zu funktionieren haben – hat aus meiner Sicht nie funktioniert.

Warum nicht? Ist die IT nicht gut genug, um sinnvolle Vorgaben zu liefern? 

Sie kann nicht gut genug sein, weil Menschen eine grundsätzlich andere Herangehensweise haben. Ein Beispiel: Wenn jemand die Telefonnummer 120 wählt, um Pannenhilfe anzufordern, dann kann ein gut organisierter Mitarbeiter, der nicht im Stress ist, innerhalb von 45 Sekunden alle notwendigen Informationen in Erfahrung bringen. Wenn die Software nicht in der Lage ist, das in halbwegs ansprechender Zeit mitzudokumentieren, sondern zusätzliche Informationen benötigt, dann schreiben die Menschen die Daten wie früher auf Zettel, weil sie wissen, dass die Software sie nicht zu 100 Prozent unterstützen kann.  

Ich habe festgestellt, dass bei der Umsetzung operativer Prozesse zu 80 Prozent der Standard passt – Stichwort Paretoprinzip. Aber das Nice-to-have, das gute Erlebnis, ist mit dem Standardprozess oft nicht möglich, weil man vom Kunden zusätzliche Informationen verlangen muss.  

Haben Sie die menschenzentrierte Sicht schon im Studium entwickelt?   

Meine erste Aufgabe beim ÖAMTC in diesem Kontext war ein riesiges Change-Projekt. Die Nothilfe-Nummer 120 wurde auf zentralisiert, davor war sie auf die Stützpunkte verteilt. Ich wurde mit einer Software losgeschickt, um zu zentralisieren, worüber die Zentrale und auch die Stützpunktleiter nicht sehr glücklich waren. Es war ein Change, der von der IT initiiert wurde. Wenn man auf diese Weise losgeschickt wird, leidet der Status der IT und auch die Umsetzbarkeit. Mein Ziel war es, gute Qualität zu erreichen, die auch den Kunden zuträglich ist. Das hatte weniger mit dem Studium zu tun, sondern viel mehr mit dem pragmatischen Tun im Prozess – und auch im Erkennen, wo die IT ihre Grenzen in der Unterstützung hatte. 

Wo waren die Grenzen aus Ihrer Sicht? 

Ganz klar in der Verfügbarkeit, die sich mittlerweile dramatisch verbessert hat. Damals war auch die Technologie noch nicht so weit, um Dinge wie VR zu betreiben. Es gab weltweit zwei bis drei Einrichtungen, die für ein Privatunternehmen aber nicht zugänglich waren. Damit sind weniger die Grenzen der IT gemeint, sondern die Grenzen des für ein durchschnittliches europäisches Unternehmen Machbaren. Wir waren oder sind nicht Google oder Amazon mit den entsprechenden finanziellen Mitteln.   

Sie haben einmal geschrieben, dass Komplexität Menschen davon abhält, Software sinnvoll zu nutzen. Hat sich das gebessert? 

Auf der einen Seite will man alles parat haben. Auf der anderen Seite soll alles einfach sein. Dieser Spagat ist uns noch nicht gelungen. Die Situation verschlimmert sich gefühlt, weil die Komplexität mit der Anzahl der Einzelteile und dem Wunsch, dass diese permanent miteinander kommunizieren, weiter steigt. Das ist weniger an den Oberflächen zu bemerken als im Betrieb, in der Betreuung und in der Weiterentwicklung. So gesehen gefällt mir das Konzept der Microservices und der APIs sehr gut, bei denen alles in kleinere Pakete geteilt wird, um sie handhabbar zu machen. Die Realität ist aber die: Wenn ein Microservice zu einem zentralen großen Service wird und Dutzende Systeme darauf zugreifen, dann ist es alles andere als egal, wenn es einmal ausfällt. Dadurch steigt die Komplexität und macht es notwendig, dass die Überwachungstools besser werden. 

Hilft die KI bei der Reduktion oder macht sie alles noch schlimmer?  

Mit den LLMs haben wir gelernt, dass es Menschen braucht, die die Systeme betreiben und überwachen – besonders dann, wenn es um Einsatzgebiete geht, in denen man sich darauf verlassen können muss, dass die Informationen richtig sind. Da kommt man mit einem Standard-ChatGPT nicht weiter, weil dieses darauf ausgerichtet ist, immer Antworten zu geben – Stichwort halluzinieren. Auch die großen Unternehmen tüfteln gerade, wie sie das Problem in den Griff bekommen.  

Wenn man LLMs als Unterstützung bei der Arbeit verwendet, dann erspart man sich das Schreiben, nicht das Konzeptionelle. Man kommt auch nicht umhin, die Ergebnisse zu überprüfen und zu verifizieren. Was KI uns also nicht bringt, ist eine Reduktion der Komplexität. Im Gegenteil.  

Durch den KI-Hype werden oft falsche Erwartungen geweckt. Man ist als IT-Leiter gefordert, zu erklären, was die Technologie nicht kann, wie sie am besten zu nutzen ist und worauf man eine Auge werfen sollte. 

Man sagt, dass die Data Governance das Um und Auf jedes KI-Systems ist. Wie sieht es damit beim ÖAMTC aus?  

Wir sind jetzt dort, wo wir geplant haben. Wir haben das Regelwerk geschaffen, wir führen heuer die ersten Use Cases ein. Wir haben an verschiedenen Stellen der Quellsystemen noch Themen in der Datenqualität, die wir mit Hilfe der Data Governance und mit den gemeinsamen Definitionen, wie wir in Zukunft damit umgehen wollen, letztendlich transparent lösen.  

Was die Daten aus den Fahrzeugen betrifft, so treiben wir gerade das Thema intensiv mit Hilfe einer Unterschriftenaktion durch unsere Mitglieder voran. Es gibt von diversen Herstellern Bestrebungen, den Security Act heranzuziehen, um den Zugang zu den Fahrzeugdaten zu erschweren bzw. unmöglich zu machen. Wenn ich etwa in einem entlegenen Gebiet keine Netzwerkverbindung schaffe und damit keine Zwei-Faktor-Authentifizierung, dann darf ich nicht auf die Daten zugreifen, auch wenn der Kunde neben seinem Auto steht und den Zugriff freigibt. Daher sind wir auf europäischer Ebene bestrebt, den gesicherten Zugang zu den Fahrzeugdaten zu erhalten.  

Wird der Datenschutz in Europa zu streng ausgelegt? 

Ich bin grundsätzlich dafür, dass mit personenbezogenen Daten sauber umgegangen wird. Dass an einigen Stellen die DSGVO sehr rigoros gehandhabt wird, möchte ich nicht kommentieren, gerade wenn es um Forschung geht. Es wäre natürlich einfacher, wenn wir an der einen oder anderen Stelle nicht ganz so dramatisch niederreguliert wären. Mühsam ist es besonders dann, wenn man gezwungen wird, alles doppelt und dreifach zu dokumentieren.  

Was sind Ihre wichtigsten aktuellen Projekte? 

Wir haben vor kurzem unser zentralstes System, die Mitgliederverwaltung, auf S/4HANA gebracht. Die Finanzbuchhaltung war schon 2022 an der Reihe, aufgrund der Komplexität haben wir diese Transformation in zwei Teilen umgesetzt. Bei der Mitgliederverwaltung gibt es viele verschiedene Zusammenhänge zu berücksichtigen – z. B. gemeinsame Mitgliedschaften von Haushalten, für Firmen gibt es Sonderkonditionen usw. Dadurch steigt auf unserer Seite die Komplexität. Das haben wir aber gut über die Bühne gebracht.  

In einem nächsten Schritt widmen wir uns dem Thema RPA, um die repetitiven Aufgaben im Verrechnungsbereich zu automatisieren. OCR ist schon lange im Einsatz. Wir analysieren gerade, wie wir die Verarbeitung von einlangenden Dokumenten in Zukunft besser gestalten können. Wir haben auch die Großaufgabe vor uns, das Legacy-System der Nothilfe-Organisation auszutauschen. Hier haben wir uns für eine schrittweise Umsetzung entschieden. Denn eine medizinische Dienstleistung hat einen ganz anderen Prozess und Workflow als eine Pannenhilfe. Um das alles in einem einzigen System verarbeiten zu können, brauchte es von den Kollegen und Kolleginnen Kompromisse und Zugeständnisse und auch hier ist die kleinteiligere Betrachtung und Bearbeitung das Mittel der Wahl.

Wir bearbeiten in Programmform Use Case für Use Case und wir prüfen gerade die Unterstützung durch KI etwa bei automatischen Übersetzungen und der Standortoptimierung. Das heißt zum Beispiel: Wie bekommen wir am besten die Informationen des Kundenstandorts zu uns? Was LLMs betrifft, so wird mit Ende Mai für alle Mitarbeitenden Systeme in der Enterprise-Version ausgerollt. In dem Bereich haben wir mehrere Proofs of Concepts, die wir heuer noch umsetzen wollen, was etwa die Themen Spracherkennung und Sprachgenerierung betrifft. Das bedeutet, dass die Kundengespräche mit Hilfe der KI verbessert werden sollen. Die KI hört mit und präsentiert proaktiv Antworten – etwa durch automatisierte Übersetzung. Bei den Wartezeitvorhersagen sind wir gerade am Modellrechnen, wie das Thema auf Basis von historischen Daten und Echtzeitsituationen automatisiert werden kann. Bei den Stützpunkten soll die Unterstützung auch optimiert r werden. Wir sind gerade in der Beschreibung der Requirements, wie wir die Kunden im Zuge der technischen Dienstleistungen besser abholen können. 

Geht es Ihnen also eher um Digitalisierung als um die digitale Transformation? 

Das sind Buzz-Wörter. Wir sind seit 20 Jahren in der digitalen Transformation. Uns geht es in erster Linie darum, die Dinge, die wir haben zu perfektionieren und weitgehend zu automatisieren. Unsere Aufgabe ist es, all die Bausteine so zu gestalten, dass das Gesamtsystem nicht zum Erliegen kommt, wenn ein Baustein ausfällt. Auf der anderen Seite sollen die Verbindungen untereinander so automatisiert sein, dass auf dem Stützpunkt etwa die Daten eines technischen Überprüfungstermines immer präsent sind.  

Die Welt der Mobilität verändert sich gerade massiv. Stichwort Nachhaltigkeit. Inwieweit ist die ÖAMTC-IT davon betroffen? 

Wir betreiben beispielsweise Ladestationen und eine Sharing-Plattform, bei denen die IT natürlich involviert ist. Uns ist klar: Wir können uns nicht allein auf das Auto konzentrieren.  

Wie ist die IT aufgestellt und in der Organisation verankert? Ist Diversität ein Thema?  

Ich berichte direkt an den CEO sowie an die Direktoren und Direktorinnen unseres Landesvereinsgremiums. Das Team besteht aus rund 90 Personen, die in elf Teams aufgeteilt sind. Ein Team kümmert sich um die klassischen Bereiche wie Service Desk, ein Team widmet sich den Daten und mehrere Service-Teams verantworten die Bereiche Nothilfe und Stützpunkte. Quer darüber stehen die Services für die Mitglieder, ein SAP-Team sowie die Application bzw. Service Manager. Wir selber sind so aufgestellt, dass von zwölf Führungskräften vier weiblich sind. Es ist uns außerdem gelungen, Lehrlinge von beiden Geschlechtern auszubilden.  

Was die notwendige Flexibilisierung der Arbeitszeit betrifft, so wir waren schon vor Corona jener Bereich, der am meisten Home Office hatte. Das gleiche gilt für den Bereich der Nothilfe, das auch ich initiiert habe, weil dort Win-Win-Situationen möglich sind – etwa durch geteilte Dienste. 2021 kam der Firmenentscheid, dass alle, bei denen es möglich ist, einen Home Office-Vertrag bekommen. Das bedeutet 50 Prozent Home Office. Wir schauen aber auch, die Teams immer wieder zusammenzubringen, was man nun anders organisieren muss.  

Wenn Sie einen Wunsch an die IT-Industrie offen hätten, welcher wäre das?  

Ich würde mir wünschen, dass die Überwachungssysteme übergreifend funktionieren, um sich nicht immer wieder bei der Analyse durch mehrere Systeme quälen zu müssen, bis man fündig wird. Das trifft auf alle Bereiche zu, Windows, Linux, Cloud, Nicht-Cloud – es ist uns noch nicht gelungen, so übergreifend zu überwachen – und das zu einem vernünftigen Preis –, dass wir in unserer komplexen Welt schnell Fehler finden.  


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