Auf dem DSAG-Jahreskongress 2018 war die digitale Transformation das Hauptthema. transform! sprach mit dem stellvertretenden DSAG-Vorstandsvorsitzenden Otto Schell über die Notwendigkeit von Disruptionen in der digitalen Transformation. [...]
Die digitale Transformation ist eines der stärksten und herausforderndsten themen in der IT. Auch der Mitte Oktober in Leipzig veranstaltete Jahreskongress der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe e. V. (DSAG) nahm sich dieses Themas an, der mit 5.000 CIOs und IT-Verantwortlichen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz einen neuen Teilnehmerrekord verzeichnete.
Ein Experte in Sachen Digitalisierung ist Otto Schell, der sich als stellvertretender DSAG-Vorstandsvorsitzender täglich mit diesem Thema auseinandersetzt und auf die Bedeutung der Disruption in der digitalen Transformation verweist. So halte er von einem CDO, einem Chief Digital Officer, eigentlich gar nichts. Vielmehr brauche es einen Chief Disruption Officer, also jemanden, der sich traue, Unsinn als Unsinn zu bezeichnen, wenn man über digitale Transformation redet, der aber auch in der Lage sein müsse, das zu begründen.
»Denn eigentlich passiert in der digitalen Transformation immer noch nichts anderes als eine permanente Optimierung dessen, was wir kennen«, konstatiert Schell und gibt zu bedenken, dass die Möglichkeiten, die die neuen Technologien bieten, bei Weitem noch nicht ausgeschöpft seien. Es brauche eben einen Digital Disruption Officer, der auch einmal bei einem Meeting sage »Stop! Was macht ihr da?« Er, Schell, habe dies schon mehrmals getan und damit für Perplexität bei den Anwesenden gesorgt. Danach hätten sich aber alle in einer neuen Denkweise dem jeweiligen Problem genähert und seien zu einem guten Ergebnis gelangt.
Manchmal heiße Disruption eben genau das: Innehalten und ein Problem »neu denken«, das Geschäftsmodell zu hinterfragen, es herauszufordern, um es gegebenenfalls zu ändern. »Wir sollten versuchen, immer wieder an Grenzen zu gehen«, fordert Schell, anstatt ein im deutschsprachigen Umfeld eher übliches Lamentieren – »Geht das? Was tun wir da? Warum, wieso, weshalb?« – zu betreiben.
Beharrende Kräfte überwinden
Veränderungen durchzusetzen, ist allerdings nicht einfach, gilt es doch zahlreiche beharrende Kräfte zu überwinden. Dies können Entscheidungsträger sein, die sich nicht ändern wollen, aber auch rechtliche oder technische Rahmenbedingungen, die nicht an die neuen Gegebenheiten angepasst werden.
Otto Schell ist überzeugt davon, dass »dieses An-dem-Bestehenden-Festhalten genau das ist, was Digitalisierung verhindert«. Dahinter mögen Verlustängste stehen, so der DSAG-Experte. Leute, die im Unternehmen Jobs und bestimmte Themen hinterfragen, die versuchen zu standardisieren, seien im Unternehmen nicht geliebt.
»Ich glaube, in der Digitalisierung ist es im Moment so: Wir haben sehr viele Menschen, die überfordert sind, weil sie nicht wissen, worum es geht, und deshalb auch nicht mitreden können – darum wird geblockt«, begründet Schell den von vielen Mitarbeitern verteidigten Status-quo. Dabei werde aber, so Schell, nicht weit genug nach vorne gedacht, denn »was ist der Effekt, wenn ich blocke?«
Mit Transparenz überzeugen
Wichtig sei dabei, die Vorgänge für alle transparent zu gestalten. Schell verweist darauf, dass sich in den USA noch kein Uber-Fahrer über die Konditionen beschwert habe, da das Geschäftsmodell transparent gestaltet sei und der Fahrer ja nicht fahren müsse. Hierzulande gebe es langwierigen Verhandlungen mit den Gewerkschaften, die bloß darauf zielten, den Bestand zu schützen, ohne zu überlegen wie man die Lage für alle Beteiligten verbessern könne, das heißt, gleichzeitig mit einer Alternative für den jetzigen Bestand aufzuwarten. Dann kommt Schell noch einmal auf Uber zu sprechen, gegen die oft als Argument angeführt werde, dass deren Fahrer anders als Taxiunternehmen keine Lizenz bräuchten. »Aber warum muss ich denn an den Regeln festhalten, die vor 20, 30 Jahren gemacht wurden?«, fragt Schell und verweist darauf, dass sich in der Digitalisierung die Kräfte verändern. »Deswegen muss ich neue Gesetze aufbauen und einen Übergang dahin finden«, fordert Schell. Das werde aber nicht gemacht.
Unternehmen & Staat: Die Transformation umfasst alles
Ob das bedeute, dass nicht nur die Unternehmen sondern auch der Staat transformiert gehöre, beantwortet Schell mit einem eindeutigen Ja. »Das eine geht nicht ohne das andere.« Aber leider seien in Europa oft Gesetzgeber am Werk, denen allerdings das thematische Wissen zum Teil fehle. Als Beispiel nennt der DSAG-Vorstand das Thema Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).
»Wenn man die DSGVO neu strukturiert hätte man mit dem Knowhow, das wir heute haben, das anders gestalten können. Warum trauen wir uns nicht, etwas zu stoppen?« Werde man von einer Künstlichen Intelligenz angerufen, so müsse sich diese als solche zu erkennen geben, damit der Konsument wisse, ob sein Gegenüber eine reale oder virtuelle Person sei. Das sei eine gute Bestimmung, so Schell, gleichzeitig müsse man aber jetzt für die DSGVO aus Dokumentationsgründen alles auf Papier ausdrucken. »Das führt das ganze Thema ad absurdum«, sagt Schell.
Raum geben für Neues
Der diesjährige DSAG-Kongress stand unter dem Motto »Business ohne Grenzen«. Für Otto Schell bedeutet dies, dass man zunächst einmal weite Grenzen setzen sollte, um Neues zuzulassen. Falls nötig, könne man ja später nachkorrigieren. Denn »wenn ich die Grenzen zu eng aufstelle, haben wir das Problem DSGVO«, warnt der Transformationsexperte.
In Bezug auf unsere persönlichen Daten hätten wir ohnedies schon alles preisgegeben, ist Schell überzeugt: »Wir haben mindestens einmal eine Internetversicherung abgeschlossen, mindestens einmal eine Internet-Krankenversicherung/Zusatzversicherung gemacht. Und vielleicht sogar eine Hausverwaltungsversicherung. Da sind alle persönlichen Daten weg.«
Deswegen sollen wir die Grenzen eher so setzen, dass man vielleicht einen roten Knopf drücken kann, um wie beim Smartphone die Localisations-Dienste oder das mobile Datenroaming ausschalten zu können. »Allerdings brauche ich dann auch kein Smartphone mehr, also lasse ich die mobilen Daten immer an.« Aus diesem Grund sei es extrem wichtig, die Menschen eher aufzuklären, als die Grenzen allzu eng zu setzen.
Wir alle müssten zu Digital Natives werden, »denn sind die Menschen in technischer Hinsicht aufgeklärt, können die Rahmenbedingungen sehr weit gesteckt werden.«
Automatisierung braucht Standards
So wichtig Standards auch sind, ist der Standardisierungsprozess zumeist langwierig und mühsam und steht damit der gewünschten Agilität moderner Unternehmen entgegen. Dabei fördern Standards die Agilität, doch der Standardisierungsprozess wird eher als Bremser denn Enabler gesehen. Hier verweist Otto Schell auf die oft vorgebrachten Vergleiche von Deutschland mit den USA. Es heiße immer, Deutsche seien sehr präzise und deshalb langwierig, die Amerikaner jedoch immer schnell, zitiert Schell das in der IT vorherrschende Bild beider Länder. Dabei sei doch beides wichtig. Bezüglich Standardisierung habe die DSAG einigen Einblick, da man im Industrial Internetkonsortium vertreten sei, das sogenannte RAMI-Standards (Reference Architectural Model Industrie) setze, ähnlich jenen, die man in Deutschland aus der Plattformindustrie kenne. Diese Standards, auch als Architekturen bezeichnet, würden in drei Monaten erstellt, während die Deutschen in der Plattformindustrie ein bis zwei Jahre benötigten, so Schell. »Beides zusammen ist das, wo man hinkommen muss. Vom Inhalt her ist man nicht so weit auseinander.«
Die Vorgangsweise der Amerikaner sei oft so, dass man eine Pilotphase habe und – wenn danach keiner Einspruch erhebe – sei das Standard, ein De-facto-Standard sozusagen.
Standards seien jedenfalls wichtig, um Produktionsabläufe sicherzustellen, weiß Schell und schränkt ein: »Perfekt werden wir nie sein, manchmal ist es genug, die 80:20-Grenze zu erreichen, dann ist man schneller.« Jedoch gibt der DSAG-Vorstand zu bedenken, dass autonom arbeitende Maschinen langfristig nur über Standards funktionieren – Stichwort Plug-and-Play. In Hinsicht auf die USA müsse man das Best-of-Breed-Konzept akzeptieren, jedenfalls müssten wir lernen, »aus unseren alten Denkmustern auszubrechen.« Denn »wir werden auch keine andere Chance haben«, ist Schell überzeugt.
Das sei vielen aber noch nicht klar. So bekomme Schell bei seinen Vorträgen drei Feedbacks, wie er erzählt:
»Das erste Feedback ist ›Herr Schell, sehr visionär, aber damit mache ich heute kein Geld.‹ Die Auftragsbücher sind voll, wir hatten zum Beispiel im November 2017 25 Milliarden Exportüberschuss in Deutschland. Alibaba macht das aber am Black Friday weltweit an einem Tag – das bekommen wir in unsere Köpfe nicht hinein. Das zweite Feedback ist: ›Herr Schell, Sie haben ja völlig Recht, aber das steht nicht in meinem Bonusplan.‹ Ich muss also nur geschulte Sachen erledigen, um dafür entsprechend entlohnt zu werden. Freies Denken wird nicht gefördert. Und das dritte Feedback ist noch viel erschreckender: ›Wenn das so weit ist, bin ich hoffentlich im Ruhestand.‹ Das heißt meine Generation stiehlt sich aus der Verantwortung, mit der ganz jungen Generation zusammenzuarbeiten. Denn die Start-Up-Mentalität unterlässt ja im Prinzip Integration. Aber unsere Generation hat noch den Integrationsaspekt. Deswegen müssten diese beiden eigentlich zusammenarbeiten, um genau diese Rahmenbedingungen festzulegen.«
Mehr Kreativität …
Durch die digitale Transformation werden viele Berufe oder Berufsgruppen durch Maschinen ersetzt, zum Beispiel könnten Intermediäre wie Notare durch die Blockchain ersetzt werden. Andererseits schafft Automatisierung auch Zeit, die sich für andere Sachen verwenden ließe, wo im Idealfall der Mensch seine Kreativität ausleben kann, statt repetitive Sachen machen zu müssen, zeichnet Schell die positive Seite der Automatisierung. »Ich glaube, dass wir in 10, 15 Jahren keine festen Arbeitsverträge mehr haben werden, sondern basierend auf Grundeinkommen und einer Mischung von Kurzzeitaufträgen Geld verdienen werden.« Schell, der sich als einen talentorientierten Menschen bezeichnet, interessiert vor allem, wo das Talent von jemandem sitzt.
… und mehr Bildung
Dabei habe jeder ein Talent, auch Menschen, denen höhere Bildungswege gegenwärtig verwehrt seien. Das zeige sich an den kostenfreien Kursen, die etwa in Yale oder Oxford angeboten würden und wo jeder auf der Welt daran teilnehmen könne. Und in diesen Kursen schnitten die regulären Yale- und Oxford-Studenten relativ schlecht ab. »Da gibt es Leute, die keine Mittel haben und viel intelligenter sind. Die kommen aus Indien, Afrika oder China und manche auch aus Europa.«
Der Wert der Bildung kann in Bezug auf die digitale Transformation gar nicht stark genug betont werden. Wichtig sei es, das momentan für ein bestimmtes Ziel benötigte Talent zu erkennen. Hier ist dann schnell von den oft erwähnten »digitalen Skills« die Rede. Mathematik sei sicher wichtig, ist Schell überzeugt. Er erachtet aber die klassischen Notensysteme, bei denen eine 1 oder 2 gefordert ist, als wenig hilfreich. Wichtiger sei es, dass jeder in der Schule ein bestimmtes Grundverständnis bekomme, betont Schell die Sicht aufs große Ganze. In 10, 15 Jahren werde sich die Businesslandschaft dramatisch verändert haben. Deswegen ist es höchste Zeit, sich jetzt darauf vorzubereiten, ruft Schell zum Handeln auf: »Wir müssen Verantwortung übernehmen.«
Be the first to comment