„KI ist einer der großen Treiber für Innovationen“

Um seine technologische Unabhängigkeit zu sichern, muss Europa seine Innovationskraft im Bereich KI stärken. [...]

Foto: applied AI

Andreas Liebl, Managing Director der KI-Initiative applied AI, erklärt im Interview, wie deutsche Unternehmen von Künstlicher Intelligenz profitieren und warum Europa bei dieser Technik nicht weiter ins Hintertreffen geraten sollte.

Und er erklärt, welche Rolle das Gemeinschaftsprojekt zwischen dem Münchner Innova­tionszentrum UnternehmerTUM und dem Heilbronner Innovation Park Artificial Intelligence dabei spielen soll.

com! professional: Was verstehen Sie unter KI? Mit echter Intelligenz hat das ja noch wenig zu tun.

Andreas Liebl: Als KI würden wir Systeme bezeichnen, die ihre Umgebung wahrnehmen und entsprechend reagieren und handeln können. Die für uns interessanten Bestandteile sind maschinelles Lernen, das mit historischen Daten trainiert wird. Auf Basis dieses trainierten Systems kann die KI dann mit neuem Input Vorhersagen machen und Entscheidungen treffen.

com! professional: Es ist also eher ein besonders schnelles Verarbeiten von Algorithmen?

Liebl: Ein besonders schnelles Verarbeiten von Algorithmen, die aber nicht von Menschen als Regeln in das System eingegeben werden, sondern die das System lernt – entweder aus historischen Daten in einem Supervised-Learning-Ansatz oder über Zielvorgaben oder selbstlernende Systeme.

com! professional: Wo steht Deutschland in Sachen KI?

Liebl: In meinen Gesprächen in anderen europäischen Ländern habe ich den Eindruck gewonnen, dass wir innerhalb Europas relativ gut dastehen. Problematisch wird es aus einer globalen Sicht, da sind wir ein ganzes Stück hinter den USA und China zurück, auch als Europa insgesamt. Nur auf Europa zu schauen, hilft uns nicht weiter, weil der Benchmark außerhalb von Europa liegt.

„Mehr Prototypen helfen uns nicht in die Skalierung.“

com! professional: Die deutschen Unternehmern sind also eher KI-Nachzügler als Vorreiter?

Liebl: Wir unterscheiden im Konzept der „AI Journey“, abgesehen von den Firmen, die noch gar nicht mit KI angefangen haben, vier Gruppen: „Experimenter“ bauen den einen oder anderen Prototyp, „Practitioner“ nutzen KI bereits in einigen Anwendungen, „Professional“ setzt sie professionell ein, skaliert im Unternehmen und an allen möglichen Standorten, und als „Shaper“ bezeichnen wird die AI-first-Unternehmen, die KI in den Mittelpunkt des Business stellen.

AI Journey: Unter­nehmen durchlaufen mehrere Phasen auf dem Weg zu einer AI-first-Strategie.
(Quelle: appliedAI)

Wenn wir den Schnitt aller Unternehmen in Deutschland nehmen, dann sind wir irgendwo zwischen Experimenter und Practitioner, die vielleicht einige erste KI-Prototypen haben. Die bei uns führenden Unternehmen sind gerade auf dem Sprung zum professionellen Einsatz von KI, allerdings noch nicht weiter.

Die amerikanischen Unternehmen, die Big Player wie Google, haben schon 2017 auf AI first gesetzt und sich dadurch komplett transformiert. Das gilt auch für Firmen wie Tesla, Uber, Facebook und viele andere, die KI in den Mittelpunkt stellen.

com! professional: Wie weit ist China?

Liebl: Dort haben wir im Schnitt Unternehmen, die KI professionell, skaliert, einsetzen. In China haben sie Corona genutzt, um große „Stresstests“ ihrer KI-Systeme zu machen. Man ist schon ein großes Stück weiter als Europa. Wenn wir in Europa mithalten und führend sein wollen, dann müssen wir uns darum kümmern, wie die Unternehmen von den niedrigeren Phasen der Reife in die höheren Phasen kommen.

Alles, was jetzt aus einer Förderperspektive kommt, sind immer einzelne Momentaufnahmen, etwa um mehr Prototypen zu bauen. Mehr Prototypen helfen uns aber nicht, in die Skalierung, in AI first reinzukommen. Wir brauchen einen Ansatz über die Stufen hinweg und nicht nur Schicht-Sichtweisen.

com! professional: Und applied AI soll helfen, den Rückstand aufzuholen? Wie kam es zu diesem Joint Venture?

Andreas Liebl: Ich habe mit einem Kollegen 2017 angefangen, applied AI zu konzipieren mit dem Ziel, Deutschland in das KI-Zeitalter zu begleiten und die Anwendung von KI zu beschleunigen. Damals gab es starke Veränderungen auf der Technologie-Seite. Tensor Flow wurde veröffentlicht, Grafikkartenbeschleunigung wurde richtig gut.

Wir haben gesehen, dass es in Deutschland größere Forschungsinstitutionen im Bereich KI gibt, aber niemanden, der sich systematisch darum kümmert, wie wir diese Technologien in die Unternehmen bekommen.

com! professional: Wie ging es weiter?

Liebl: Wir waren im Bundeswirtschaftsministerium und haben unsere Ideen vorgetragen. Das war eineinhalb Jahre vor der deutschen KI-Strategie. Wir haben gesagt, wir brauchen eine nationale Initiative, die hilft, in Deutschland KI in die Anwendung zu bringen.

Nachdem damals der Fokus eher auf dem bevorstehenden Wahlkampf lag, haben wir gesagt: Gut, dann machen wir das im Rahmen der UnternehmerTUM als applied AI und helfen der Industrie und Organisationen, KI voranzubringen.

„KI geht in den nächsten fünf Jahren in die ganz breite Anwendung.“

com! professional: Was ist „UnternehmerTUM“? Der Name klingt schon mal ungewöhnlich.

Liebl: UnternehmerTUM feiert dieses Jahr zwanzigjähriges Bestehen als GmbH. Es handelt sich dabei um ein An-Institut der TU München und wurde mit Unterstützung von Susanne Klatten gegründet. Sie verfolgt mit UnternehmerTUM das Ziel, Innovationen und Entrepreneurship in Deutschland zu stärken.

UnternehmerTUM hilft Start-ups, auszugründen, und unterstützt über verschiedene Gesellschaften Unternehmen darin, zu wachsen und erfolgreich zu werden. Es sind im Moment 50 bis 80 Start-ups pro Jahr, die hier gegründet werden. Letztes Jahr sind etwa 3,5 Milliarden Euro in die Start-ups geflossen, die aus dem UnternehmerTUM-Ökosystem stammen – das macht Unter­nehmerTUM zu einem Powerhouse für Start-ups und Innovation.

Die jährliche Start-up-Landkarte von applied AI zeigt allein im Bereich Manu­facturing zahlreiche Start-ups, die auf
maschinellem Lernen basieren.
(Quelle: applied AI)

com! professional: applied AI mit Sitz in Garching und der Heilbronner Innovation Park Artificial Intelligence sind so etwas wie eine süddeutsche KI-Achse. Was erhoffen Sie sich davon?

Liebl: In Europa müssen wir mit den großen Digitalkonzernen aus China und den USA mithalten können. Diese Vision haben wir in eine strategische Agenda gepackt. In Frankreich verfolgen französische Institutionen bislang ihre eigene KI-Strategie, in Italien genauso, in Schweden genauso.

In den verschiedensten Ländern gibt es nationale Aktivitäten, dabei müssten wir auf einer europäischen Ebene zusammenarbeiten. Selbst innerhalb Deutschlands haben die einzelnen Bundesländer mit eigenen KI Strategien begonnen. Damit ist das Ganze weiter zerstückelt. Der Zusammenschluss ist ein erster Schritt, das zu ändern.

com! professional: Was folgt daraus?

Liebl: Es geht darum, gemeinsam vorwärtszukommen, und nicht darum, ob Bayern oder Baden-Württemberg besser ist. Mit dieser Südachse haben wir über zwei Regionen hinweg extrem starke Wirtschaftsräume zusammengebracht, um die Kräfte zu bündeln und als europäischer Leuchtturm KI in die Anwendung zu bringen.

Nun geht es darum, unseren Impact in den nächsten Jahren zu verzehnfachen und Europa wirklich in die Spitzenklasse der KI-Anwendung zu befördern.

com! professional: Gibt es ähnliche Achsen und Initia­tiven auch in anderen Regionen Deutschlands?

Liebl: Ich sehe relativ wenig andere, sondern lediglich Landesinitiativen wie KI.NRW und hessian.AI. Das ist aber keine flächendeckende Bündelung in der Art und Weise, wie wir das jetzt in Süddeutschland machen.

„Wir haben rund 120 Hürden für Unternehmen auf ihrer AI Journey identifiziert.“

com! professional: Was macht der Süden besser?

Liebl: Aus meiner Sicht wird innovatives Denken hier stark aus der Wirtschaft heraus getrieben. Unser Zusammenschluss wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht große Unternehmer dahinterstehen würden, die eine Vision haben und den europäischen Gedanken in den Mittelpunkt stellen. Ganz ehrlich, wenn das nur aus der Politik gekommen wäre, dann wäre das weiterhin auf Bayern fokussiert oder auf Baden-Württemberg.

com! professional: Worin bestehen die Hürden, die ein Unternehmen beim Anwenden von KI überwinden muss?

Liebl: In den frühphasigen Unternehmen geht es zunächst darum, wo sie KI-Talente finden und was sie im Unternehmen mit der Technologie bewegen wollen. Muss ich das selbst machen oder geht das mit einem Partner? Wie komme ich an die Daten?

In der professionellen Ebene muss ein Unternehmen beispielsweise sicherstellen, dass das gleiche KI-System an zehn Standorten weltweit stabil läuft. Es stellen sich Fragen wie: Wie trainiert man systematisch Netze mit all den Daten, die von den Standorten kommen? Wie ist eine Qualitätssicherung umzusetzen, wie lassen sich die Entscheidungen nachvollziehbar und am besten in Echtzeit monitoren? Und wie stelle ich die Akzeptanz der Mitarbeiter und Kunden sicher?

com! professional: Und die Antworten darauf lauten?

Liebl: Was wir über die Jahre entwickelt haben, sind knapp 120 Herausforderungen, die sich einem Unternehmen auf dieser AI Journey in den Weg stellen. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, sich mit den Unternehmen zusammen diese Themen einzeln vorzunehmen.

Was hat gut funktioniert? Was sind typische Hilfsmöglichkeiten, die genau zu dieser Frage passen? Wie haben es andere gemacht?

Ein Unternehmen kann sagen, was die Themen sind, die aktuell bei ihm anfallen, und dann jeden dieser Punkte beantworten und systematisch weiter vorangehen. Dieses Wissen um die Zusammenarbeit mit Unternehmen teilen wir regelmäßig in Publikationen oder auf Events.

com! professional: Können Sie einige konkrete Beispiele nennen, wie Unternehmen von KI profitieren?

Liebl: Wir teilen KI in acht Grundfähigkeiten ein, etwa Computer Vision, Sprachmodelle, Vorhersagen, Mustererkennung, Optimierung und Steuerung von Anlagen. Diese Punkte lassen sich in Unternehmen in unterschiedlichen Bereichen einsetzen. Für verschiedene Themen ergeben sich verschiedene Vorteile.

Im Finance-Bereich kommt es vielleicht zu Effizienzsteigerungen. Es lassen sich aber auch Compliance-Checks global durchführen, die bisher nicht möglich waren. Ein anderes Beispiel ist das Monitoring von Attacken im Cybersecurity-Bereich. KI dient als Ermöglicher für Aktivitäten, die sonst nie möglich wären.

„Wenn die Daten nicht von uns kommen, dann sind auch die Werte nicht aus unserem Kulturkreis.“

Computer-Vision-Systeme können Aussagen treffen, wozu ein Mensch nicht in der Lage wäre, etwa in der Radiologie oder bei der Krebserkennung. Im juristischen Bereich kann man sich bei sehr komplexen Fragestellungen durch ein KI-System unterstützen lassen.

Oder nehmen wir das aktuelle Thema Stabilität von Stromnetzen: Wenn Sie mehr erneuerbare Energien haben, dann führt das zu einer hohen Volatilität auf der Angebotsseite. Solche Dinge zu optimieren, das können KI-Systeme. Auch hierzu haben wir eine eigene Bibliothek veröffentlicht, in der sich jedes Unternehmen ein Bild von möglichen Anwendungen machen kann.

com! professional: Stimmt die These, dass viele Mittelständler vor dem Thema KI die Augen verschließen?

Liebl: Die meisten verhalten sich erst mal sehr abwartend und eher skeptisch. Es gibt aber auch Unternehmen, die tolle Projekte umgesetzt haben. Viele Unternehmen haben allerdings die Datengrundlage und damit den ersten Schritt der Digitalisierung noch nicht erledigt. Sie brauchen im KI-Bereich aber eine Menge Daten, um zu trainieren. Um in die Anwendung zu kommen, brauchen sie die Daten kontinuierlich und qualitätsgesichert.

com! professional: Warum ist es wichtig, wer im KI-Wettlauf zwischen den USA, Europa und China gewinnt?

Liebl: Dazu zwei grundsätzliche Antworten: KI ist einer der großen Innovationstreiber der Zukunft. Wir können durch diese Technologie komplett neue Arten von Produkten bauen und auf der Effizienzseite als Unternehmen ganz anders agieren. Wenn wir da nicht mithalten, dann haben wir über alle Industrien hinweg Wettbewerbsnachteile, die uns auf der wirtschaftlichen Seite sehr hart treffen werden.

Das Zweite: KI wird durch Daten trainiert. Auch wir als Gesellschaft werden ganz erheblich mit KI-Anwendungen konfrontiert sein. Individualisierte Werbung, Ge­sichts­erkennung, digitale Assistenten – wenn die nicht mit Daten aus Europa trainiert werden, sondern aus den USA oder aus China, dann nehmen wir diese Trainingsdaten als Grundlagen für unsere Anwendungen.

Das hat den Effekt, dass die Werte, die in diesen Daten liegen, aus anderen Ländern nach Europa gebracht werden. Wenn die Daten nicht von uns kommen, dann sind auch die Werte und die zugrundeliegenden Informationen nicht aus unserem Kulturkreis.

com! professional: Wenn alle Unternehmen plötzlich auf KI setzten, fehlten dann nicht die Fachkräfte dafür?

Liebl: Es gibt KI-Lösungen, die ein Unternehmen eigentlich nur kaufen muss, weil es das Ergebnis haben möchte. Dann gibt es diejenigen Lösungen, die ein Unternehmen selbst bauen muss, weil es die Kompetenz und das Know-how im Unternehmen halten möchte.

Aus unserer Sicht sind 90 bis 95 Prozent der KI-Anwendungen auf der Kaufen-Seite. Dort geht es also nicht darum, den Algorithmus selbst zu trainieren, sondern das fertige System einzusetzen. Das erfordert Anwendungswissen. Auf der Machen-Seite brauchen Unternehmen durchaus eine tiefe technische Kompetenz, um Lösungen entwickeln und betreiben zu können.

Auf der Anwender-Seite gibt es eine ganze Menge Kurse, etwa „Elements of AI“ aus Finnland für technisches Grundlagenwissen (siehe Kasten unten) oder unser „KI Transfer Plus“ Programm mit dem bayerischen Digitalministerium, mit dem wir dem Mittelstand sehr systematisch helfen, Kompetenz aufzubauen.

Es gibt insgesamt sehr viele gut ausgebildete Menschen in den deutschen Universitäten. Das Kernproblem besteht darin, dass viele nicht in deutsche Unternehmen gehen, sondern zu den großen Digitalfirmen im Ausland. Das liegt auch ein Stück weit an der Mentalität in den Unternehmen hierzulande, mit dem Thema KI umzugehen.

Online-Kurs „Elements of AI“

Hinter „The Elements of AI“ verbirgt sich eine Reihe kostenloser Online-Kurse, entwickelt von der finnischen Unternehmensberatung Minna Learn und der Universität Helsinki. Ziel ist es, das Thema KI möglichst vielen Menschen näherzubringen.

In kostenlosen, deutschsprachigen Online-Kursen lassen sich die Grund­lagen von Künstlicher Intelligenz erlernen.
(Foto: Elements of AI)

Die Kurse kombinieren theoretische Wissensvermittlung mit praktischen Übungen. Die Teilnehmer können dabei ihr Lerntempo selbst bestimmen. „Einführung in die KI“ etwa ist ein kostenloser, deutschsprachiger Online-Kurs – ohne komplizierte Mathematik oder Programmierung. applied AI ist Partner von Elements of AI.


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