Sollen Mitarbeiter in Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse integriert werden – beispielsweise um ihre Identifikation mit den angestrebten Zielen und ihre Motivation zu erhöhen – dann ist auch eine entsprechend agile Gesprächsführung nötig, bei der die zentralen Inhalte visualisiert und dokumentiert werden. Diese sollten Führungskräfte und Projektleiter trainieren. [...]
„Wir wollen (beziehungsweise müssen) schneller, dynamischer und flexibler, sprich agiler, auf die Veränderungen in unserem Markt reagieren.“ Zu dieser Überzeugung gelangten in den letzten Jahren viele Unternehmen – insbesondere solche, die für ihre Kunden komplexe Problemlösungen entwerfen, an deren Entstehen viele Spezialisten mitwirken. Deshalb forcieren sie in ihrer Organisation die bereichs- und funktionsübergreifende Team- und Projektarbeit und verlagern immer mehr Handlungs- und Entscheidungsbefugnisse auf die operative Ebene.
Dadurch verändern sich die Anforderungen an die Mitarbeiter, aber auch Führungskräfte. Zu ihrer Schlüsselaufgabe entwickelt es sich zunehmend,
die Voraussetzungen für eine effektive Zusammenarbeit in ihrem Bereich oder Team zu schaffen,
die Mitarbeiter zu motivieren und ins Geschehen zu integrieren und
die erforderlichen Beschlüsse, um die Alltagsarbeit in ihrem Team zu planen und zu koordinieren, herbeizuführen.
Das macht auch eine neue Art der Gesprächsführung nötig, die darauf abzielt,
die Mitarbeiter zu integrieren und ihre Kompetenzen gezielt zu nutzen und
die in Meetings und Teamsitzungen oft flüchtigen Gesprächsbeiträge festzuhalten und für alle Beteiligten transparent zu machen,
so dass es möglich wird, einen Konsens herbei zu führen beziehungsweise ein Commitment zu erzielen.
Eine Methode, um diese Ziele zu erreichen, ist das sogenannte Agile Simultan-Visualisieren, bei dem während des Kommunikationsprozesses unterstützende Visualisierungen entstehen – zum Beispiel am Flipchart. Diese Visualisierungen können abhängig vom Ziel der Besprechung oder des Meetings Diskussionen provozierend, Zusammenhänge erhellend, die Stärken und Schwächen einer Lösung problematisierend oder konsensbildend wirken. Und den Simultan-visualisierenden Personen – unabhängig davon, ob es sich hierbei um eine Führungskraft oder einen Projektleiter handelt – dient das Agile Simultan-Visualisieren unter anderem als Werkzeug zum Klären von Sachverhalten, Positionen und Beziehungen sowie Erklären komplexer Sachverhalte.
Ein mächtiges Instrument der Gesprächsführung
Gute Simultan-Visualisierungen vermitteln Struktur. Sie fördern die Kreativität sowie das Verständnis und die Akzeptanz. Und der Kommunikationsprozess? Er gewinnt an Tiefe und die Ergebnisse werden verbindlicher. Deshalb ist das Agile Simultan-Visualisieren insbesondere für „Führungskräfte“ ohne Weisungsbefugnis wie Projektleiter eine wertvolle Methode der Gesprächsführung – auch weil sich die Protokollführung erübrigt. Denn wirken die Teilnehmer am Entstehen der Visualisierungen mit, akzeptieren sie auch eine Fotodokumentation der Gesprächsergebnisse als Protokoll.
Für die Visualisierungen benötigt man ein Medium – zum Beispiel einen Flipchart. Und für ihre ansprechende Gestaltung Stifte, die ein kalligrafisches Schreiben ermöglichen. Manche Personen scheuen Visualisierungen, weil es ihnen schwer fällt, spontan Bilder zu malen. Für sie gibt es einen Rettungsanker: die Formen.
Neben den geometrischen Grundformen bieten freiere Formen wie abgerundete Rechtecke, diverse Pfeile, Sprechblasen und bildhafte Formen wie eine stilisierte Waage zahlreiche Möglichkeiten der Visualisierung in Wort und Bild. Und für das Visualisieren von Menschen gilt: Aus zwei oder drei Grundformen lassen sich plakative Darstellungen von Personen ableiten, denen man sogar Bewegung einhauchen kann – zum Beispiel mittels Schraffuren.
Hilfreich ist auch der gezielte Einsatz von Farben. So können zum Beispiel Zusammenhänge mit grünen, geschwungenen Linien dargestellt werden, die an Zweige erinnern. Und die Farbe Rot eignet sich zum Transportieren emotionaler Botschaften und als Strukturfarbe für Tabellen. Wichtig ist jedoch: Der Leiter des Gesprächs und der Simulation sollte einen Style-Guide für seine Visualisierungen verinnerlicht haben. Das heißt: Er setzt die Farben und Formen, dicke und dünne Stifte gezielt und systematisch ein. Er agiert nach nachvollziehbaren Regeln. Das verschafft den Meeting-Teilnehmern Orientierung.
Gespräche spontan visualisierend führen
Wer ein Gespräch führen und zugleich visualisieren möchte, dem stellen sich zwei „technische“ Fragen:
Was, wann und wie visualisiere ich? Und:
Was mache ich mit der Gruppe, während ich visualisiere?
Denn ein Gesprächsleiter, der zugleich visualisiert, muss seine Aufmerksamkeit zwischen Flipchart und Gruppe teilen. Zudem gibt er beim Visualisieren den Blickkontakt mit seinen Gesprächspartnern auf.
Erfahrungsgemäß schadet dies dem Gesprächsprozess nicht, sofern die Visualisierung zügig erfolgt und das Gesagte treffend wiedergibt. Sinnvoll ist es, die Gesprächsebene und die visuelle Ebene abwechselnd zu bedienen: Ein Ergebnisbeitrag wird zunächst erarbeitet; dann bringt der Leiter ihn im Gespräch mit der Gruppe so auf den Punkt, dass er sich visualisieren lässt. Der Leiter bereitet die Gruppe also auf das vor, was er visualisieren wird, und holt sich ihr Einverständnis ein. Danach visualisiert er, ohne zu reden.
Anforderungen an den „Moderator“
Um zur Visualisierung essenzieller Ergebnisbeiträge zu gelangen, braucht der Leiter zwei Fähigkeiten: Er muss wirksam fragen können. Zudem benötigt er Techniken, um Gesprächsbeiträge auf den Punkt zu bringen – zum Beispiel, indem er umfängliche Redebeiträge umformuliert und zusammenzufasst. Indem er so die Qualität der Beiträge erhöht, trägt er wesentlich zu einem gelingenden Gruppenprozess bei.
Checkliste: Gesprächsbeiträge auf den Punkt bringen:
Geschlossene Fragen stellen, um das Okay für die Visualisierung einzuholen
Redebeiträge zusammenfassen; paraphrasieren
Präzisieren: knapp, klar, konkret
Konjunktive („könnte“) und Verallgemeinerungen („man“) vermeiden
Beiträge entpersonifiziert ans Flipchart „schreiben“
Bei Bedarf: polarisieren, simulieren, provozieren
Handlungsorientiert formulieren
Die 7 Schlüssel zum Erfolg beim Agilen Simultan-Visualisieren
1. Kontakt machen und halten
2.Den anderen dort abholen, wo er ist:
– zuhören und einfühlen
– die eigene Meinung für eine Weile zurückhalten
3.Mit offenen Fragen nachfragen; zukunfts- und lösungsorientiert fragen
4. Gesprächsbeiträge auf den Punkt bringen
5.Zügig und ansprechend die „Essenz“ visualisieren
6.Den Kontext beachten; wenn etwas geklärt oder transparent gemacht werden soll, nachfragen
7.Auf Rollenklarheit achten
Für das Agile Simultan-Visualisieren gibt es viele Einsatzmöglichkeiten. Ihr volles Potenzial entfaltet die Methode in Meinungsbildungs-, Entscheidungs- und Veränderungsprozessen, bei denen die Problemlösung selbst oder das Vorgehen bei ihrer Realisierung noch unbekannt sind.
Prozesse und Abläufe visualisieren
Zu den strukturgebenden Visualisierungen zählen Prozessmodelle, die einen Prozess horizontal in seine Prozessschritte zerlegt visualisieren und vertikal die mit den einzelnen Prozessschritten verbundenen Tätigkeiten zeigen. Bei unbekannten Themen oder wenn ein Thema erforscht werden soll, bietet sich eine Mind Map als Struktur an.
Konflikte und Interessenunterschiede visualisieren
Die Methode eignet sich auch zum Bearbeiten von (Ziel-)Konflikten. Wird es in Meetings inhaltlich schwierig, liegt oft eine entsprechende Störung vor. Über eine treffende Visualisierung kann der Leiter der Diskussion diese ins Bewusstsein heben und so ein Bearbeiten der Störung einleiten. Der Leiter kann im Dialog mit der Gruppe beispielsweise zunächst die beteiligten Konfliktparteien herausarbeiten, die er dann anonymisiert simultan visualisiert (zum Beispiel als große Kreise mit den unverfänglichen Namen A, B und C). Danach fordert er die Parteien auf, konkrete Aspekte ihrer Positionen zu nennen, die er den Kreisen zugeordnet visualisiert. Diese Visualisierung bildet die Basis für die weitere Konfliktbearbeitung.
Diskussionen visualisieren
Recht anspruchsvoll ist das Erstellen von Verlaufsprotokollen von Diskussionen. Das heißt: Während die Gruppe über ein Thema diskutiert, dokumentiert der Leiter die Argumente und gegebenenfalls Emotionen in der Diskussion auf einer Pinwand. Soweit möglich, strukturiert er die Beiträge, indem er Abhängigkeiten und Schlussfolgerungen visualisiert.
Diese Anwendung setzt eine gewisse Routine des Leiters mit dem Agilen Simultan-Visualisieren voraus, denn er ist allein für das treffende Verkürzen der Beiträge und das Visualisieren der Zusammenhänge zuständig. Während er einen Beitrag notiert, hört er den nächsten, um diesen danach zu visualisieren. Und am Ende enthält das Verlaufsprotokoll alle wesentlichen Argumente der Diskussion – zum Beispiel im Vorfeld einer Entscheidung.
Wie wirkt das Agile Simultan-Visualisieren?
Die besondere Wirkung des Agilen Simultan-Visualisierens in Veranstaltungen wie Projektmeetings beruht auf einer Art Stereo-Effekt: Hör- und Sehsinn werden zugleich bedient. Dadurch wird das Lernen und Behalten gefördert. Zudem erzeugen die Visualisierungen Transparenz, was verbindlichkeits- und akzeptanzfördernd, aber auch polarisierend wirken kann. Denn bildhafte Darstellungen zeigen Zusammenhänge auf, und in Worten visualisierte Beiträge erhalten eine höhere Bedeutung. Zudem adressieren eine gekonnte Strichführung, ein geschickter Einsatz von Farben und Formen sowie ansprechende, bildhafte Darstellungen die rechte Hirnhälfte, die unsere künstlerisch-emotionalen Fähigkeiten repräsentiert. Dadurch werden die Fantasie und Kreativität der Gruppe stimuliert.
*Michael Schwartz leitet das Institut für integrale Lebens- und Arbeitspraxis (ilea).
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