Traditionelle Versicherer geraten durch Insurtechs und Big-Tech-Unternehmen unter Druck. Deshalb müssen Projekte mit IT-Fokus dort oft viel schneller umgesetzt werden – denn die stark datenbasierte und digitale Arbeitsweise sowie eine moderne IT-Infrastruktur verschaffen Wettbewerbsvorteile. Stefan Nagel Kristina Uhl von borisgloger consulting über die Gründe für diesen Paradigmenwechsel. [...]
Die Notwendigkeit, sich zu modernisieren, basiert auf einem geänderten Kundenverhalten: So ziehen die „Digital Natives“ Online-Verträge ohne lange Bindung in der Regel vor. Darüber hinaus reagieren sie durch Vergleichsportale preissensibler – insbesondere bei generischen Versicherungen wie Haftpflicht, Unfall- und Schadenversicherungen. Zum Beispiel steigt die Nachfrage bei den KfZ-Versicherungen nach personalisierten Telematik-Tarifen, die die Prämien aufgrund des eigenen Fahrverhaltens berechnen („pay-as-you-drive“). Die Tendenz zeigt: Künftig werden Kunden immer seltener dazu bereit sein, jedes Jahr eine Risikoabdeckung für einen Fall zu bezahlen, der vielleicht nie eintritt. Es führt also kein Weg daran vorbei: Neue Produkte und Geschäftsmodelle stellen auch für etablierte Versicherer die Weichen für ein Überdauern im Markt.
Gemeinsame Produktentwicklung: Vorteile von BizDevOps
Aktuell lähmt die Organisationsaufstellung vieler etablierter Versicherer jedoch Innovationen: So kämpfen sie mit Silodenken, monolithischen Infrastrukturen, veralteten IT-Systemen und dem Managementstreben nach Effizienz um jeden Preis. Kurz: Das Unternehmen wird als gut geölte Maschine mit planbarem In- und Output gesehen. Dabei haben sich die Vorzeichen geändert: Ein stabiles Umfeld mit Planungssicherheit ist in unserer volatilen Welt, Stichwort VUCA, nicht mehr gegeben.
Wie also können Unternehmen Zielkonflikte auflösen und einfache Kommunikations- sowie Entscheidungswege implementieren? Ein Baustein sind agile, multidisziplinäre Teams nach dem BizDevOps-Ansatz. Diese vereinfachen die Entwicklung von Produkten aus einem Guss durch ihre kurzen Kommunikationswege erheblich.
BizDevOps steht für die Vereinigung von Business Development, IT-Development & Operations und verknüpft die im digitalen Zeitalter notwendigen Ressourcen für den Markterfolg neuer und bestehender Produkte. Kollegen und Kolleginnen aus Softwareentwicklung, Fachabteilungen und IT-Betrieb arbeiten gemeinsam an einem Produkt – von Anfang bis Ende. Sie kommunizieren direkt statt über fünf Ecken. Das Resultat: innovative Produkte mit höherer Qualität, geringeren Stückkosten und einer wettbewerbsfähigen Entwicklungsgeschwindigkeit.
Multidisziplinäre Teams sind nachweislich erfolgreicher als die Produktentwicklung in Silos (siehe Nonaka, Ikujiro; Takeuchi, Hirotaka: The New New Product Development Game. In: Harvard Business Review, 64/1, Jan-Feb 1986, S. 137-146.) Denn sie fördern:
- Eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit des Produktes: Mit den unterschiedlichen Fachperspektiven im Team herrscht schnell Klarheit über die Anforderungen an das Produkt.
- Die stärkere Kundenorientierung: Die Teammitglieder identifizieren gemeinsam die Probleme der Kunden – und lassen ihre jeweilige Fachsicht einfließen.
- Produktentwicklung und IT-Architektur, die Hand in Hand gehen: Der Zielkonflikt zwischen kurzfristigem Markterfolg und langfristiger IT-Stabilität wird direkt im Team gelöst. Eine moderne IT-Infrastruktur und Produkterfolg schließen sich nicht länger aus, wenn das Team die eigene IT-Kapazität verantwortet.
- Höhere Umsetzungs- und Reaktionsgeschwindigkeit: Das Team reagiert schneller und flexibel auf Veränderungen im Kundenverhalten oder der Rahmenbedingungen, da sich die Planungs- und Entwicklungszyklen in einem agilen Umfeld verkürzen.
- Die nutzerzentrierte Entwicklung: Kleine Teams sind eher gezwungen, hypothesen- und datengetrieben zu arbeiten. Sie bevorzugen daher Design-Thinking-Prozesse, schnelles A/B-Testing und Nutzer-Interviews gegenüber großen Marktforschungsinitiativen.
- Kürzere Release-Zyklen: Durch die Nähe von IT-Entwicklung und Betrieb werden Entwicklungs-, Test- und Veröffentlichungszyklen kürzer.
- Wissenstransfer ohne Übergabe: Durch die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit ist notwendiges Wissen für jedes Teammitglied schnell greifbar. Gleichzeitig hat ausgesuchtes Spezialwissen weniger Chancen, die Produktentwicklung zu gefährden.
- Kürzere Wartezeiten: Das Team setzt einen klaren Fokus auf ein Produkt und hat das Wissen vor Ort – daher muss es nicht auf notwendige Rückmeldungen aus der Linienorganisation oder anderen Abteilungen warten.
Praxisbeispiel: Telematik-Tarif mit dem BizDevOps-Ansatz entwickeln
Anhand eines Beispiels für die Entwicklung eines neuen, App-basierten Telematik-Tarifs für PKW zeigen wir, wie die Umsetzung in der Praxis gelingen kann:
Der Tarif erfordert mindestens die Zusammenarbeit von Marketing und Vertrieb, Rechtsabteilung (Datenschutz & Versicherungsbedingungen), Aktuariat oder Spezialisten für Data Analytics, Vertretern aus der IT-Entwicklung (z.B. App-Entwicklung Frontend/Backend, je nach Art der Anwendung) sowie des IT-Betriebs (Hosting). Mit dem BizDevOps-Ansatz arbeitet ein multidisziplinäres Team synchron an diesen Tätigkeiten, während ein funktional organisiertes Unternehmen in der Regel sequenziell an ein Projekt herangeht, also nacheinander.
Das BizDevOps-Team könnte sich nach unserem Beispiel wie folgt zusammensetzen:
- Ein Produkteigentümer (Product Owner) aus Marketing/Vertrieb, um die marktgerechte Produktentwicklung sicherzustellen und die Produktverantwortung klar in der Organisation zu verankern
- Ein Jurist, um Datenschutz und Versicherungsbedingungen kongruent mit der Entwicklung zu halten
- Ein Data Analyst, um datengestützt die Tarifierung zu entwickeln beziehungsweise weiterzuentwickeln
- Vier Fullstack-Developer, um App-Frontend-/Backend-Entwicklungen zu gewährleisten
- Ein Spezialist aus IT-Operations, um die infrastrukturellen Belange der Entwicklung zu gewährleisten
- Ein ScrumMaster oder Agile Coach als laterale Führungskraft des Teams und Eskalationsweg zum Management
Diese neun Personen bilden den gesamten Entwicklungsprozess in einem Team ab, das technisch unabhängig von der bestehenden Organisation noch schneller liefert. Dafür sollte es eine IT-Architektur mit möglichst wenig Abhängigkeiten (sog. Microservice-Architektur) aufbauen. Im Sinne iterativer Entwicklung, also kleinen Entwicklungszyklen mit direktem Kundenfeedback, fokussiert sich dieses Team vorerst nur darauf, die notwendigen Basisfunktionalitäten für das Telematik-Produkt unter realen Bedingungen zu erproben. Zum Beispiel: Die entsprechende Hardware für ein „Pay-as-you-drive“-Projekt wird über einen Dienstleister eingekauft. Um diese Hardware nutzbar zu machen, entwickelt das Team eine entsprechende App. Danach generiert das Team Testkunden, deren Prämien zum Beispiel ein Jahr lang gestundet werden mit dem Ziel, die Wechselbereitschaft zu erhöhen. Mit dem Feedback dieser Testkunden wird die App weiterentwickelt und später um weitere Funktionalitäten ergänzt. So platziert das Unternehmen im Idealfall nach nur wenigen Monaten ein nutzerzentriertes Produkt am Markt.
Fazit
Die traditionelle Produktentwicklung wird auch in Versicherungsunternehmen zum Auslaufmodell. Die Zukunft liegt stattdessen in der kontinuierlichen, iterativen Entwicklung von Produkten. Zunächst sollten traditionelle Versicherer die innerbetriebliche Komplexität konsequent reduzieren, um sich danach mit einem multidisziplinären Ansatz effektiv und kundenzentriert aufzustellen.
*Stefan Nagel ist Senior Management Consultant bei borisgloger consulting und Kristina Uhl ist ebenfalls dort als Management Consultant tätig.
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