Während Agentische KI weltweit Geschäftsmodelle transformiert und Arbeitsabläufe automatisiert, hinken viele österreichische Unternehmen bei den Skills und dem Know-how des KI-Zeitalters hinterher. Diese wachsende Diskrepanz zwischen technologischem Potenzial und tatsächlicher Implementierung könnte den Wirtschaftsstandort zunehmend gefährden. [...]
Eine aktuelle Analyse des Unternehmensberaters EY zeigt ein differenziertes Bild: Im Finanzsektor haben 35 Prozent der österreichischen Unternehmen KI-Technologien strategisch implementiert, in der Industrie sind es 31 Prozent. Diese Vorreiter kontrastieren jedoch stark mit dem Gesamtbild – landesweit haben nur 12 Prozent aller Unternehmen KI-Systeme als integralen Bestandteil ihrer Geschäftsmodelle etabliert. Das ist ernüchternd.
Vibecoding, die Demokratisierung der Softwareentwicklung?
Besonders deutlich wird diese Zurückhaltung im Bereich der KI-gestützten Softwareentwicklung, wo international durch Vibecoding neue Standards entstehen. Die jüngste Generation von KI-Programmiertools wie Cursor, Bolt und Lovable ermöglicht zunehmend die Demokratisierung der Entwicklungsprozesse. Diese Werkzeuge erlauben es, durch Anweisungen in natürlicher Sprache funktionale Software zu erstellen – ohne tiefgreifende Programmierkenntnisse. „Erstelle mir eine To-Do-App mit Kalender und Exportfunktion!“:so kann etwa ein Marketingexperte den Prototypen einer Anwendung entwickeln – ein Prozess, der traditionell Wochen oder Monate in Anspruch nehmen würde
Noch sind diese Tools auf der Stufe eines „sehr fleißigen Junior-Entwickler“ – produktiv, aber aufsichtsbedürftig. Ohne fundamentales Verständnis des generierten Codes können kritische Sicherheitslücken entstehen, wie dokumentierte Fälle von KI-generierten Anwendungen zeigen, die kurz nach Veröffentlichung Cyberangriffen zum Opfer fielen. Aber in drei Jahren sind sie weiter.
Neuausrichtung der Arbeitsprozesse
Die eigentliche Herausforderung liegt nicht in der bloßen Anwendung von KI-Tools, sondern in der strategischen Neugestaltung von Arbeitsprozessen. Effektive Integration bedeutet, dass sich Rollen verschieben: Entwickler werden verstärkt zu Architekt*innen und Qualitätssichernden, während die KI repetitive Codierungsaufgaben übernimmt. Diese Transformation erfordert sowohl technische als auch organisatorische Anpassungsfähigkeit.
Die Produktivitätsgewinne durch diese Neuausrichtung könnten erheblich sein, doch sie werfen auch strukturelle Fragen auf. Einstiegspositionen im Technologiesektor könnten wegfallen, während gleichzeitig der Bedarf an hochqualifizierten Spezialisten steigt, die KI-Systeme effektiv steuern können. Diese Verschiebung stellt besonders für den österreichischen Arbeitsmarkt mit seinem akuten IT-Fachkräftemangel eine Herausforderung dar.
Der internationale Wettbewerb intensiviert sich
Währenddessen verschärft sich der internationale Wettbewerb. Apple hat eine strategische Partnerschaft mit Anthropic angekündigt, um KI-Funktionen in seine Entwicklungsumgebung Xcode zu integrieren. Berichte über die Akquisition des KI-Programmierassistenten Windsurf durch OpenAI für eine geschätzte Summe von über drei Milliarden Dollar – obwohl noch unbestätigt – signalisieren die strategische Bedeutung, die diesen Technologien beigemessen wird.
Handlungsbedarf für Österreich
Für Österreichs Wirtschaft bedeutet diese Entwicklung einen dringenden Handlungsaufruf. Der gegenwärtige experimentelle Ansatz vieler Unternehmen muss einer strategischen Implementierung weichen. Initiativen wie die techConference Anfang Juni in der Messe Wien bieten wichtige Orientierungshilfen und praxisnahe Workshops wie „Von No-Code zu Pro-Code“. Doch es bedarf kluger strategischer Unternehmensentscheidungen, um den wichtigsten Technologiesprung der Gegenwart zu nutzen. Von bereichsübergreifender Kompetenzentwicklung im Unternehmen bis hin zu kollaborativer Innovation: Besonders kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die oft nicht über ausreichende Ressourcen verfügen, sollten Kooperationsmodelle prüfen.
Die Entscheidungen, die österreichische Unternehmen heute treffen, werden ihre Wettbewerbsfähigkeit im kommenden Jahrzehnt maßgeblich bestimmen. Es geht nicht mehr um die Frage, ob KI implementiert werden sollte, sondern wie dieser Übergang gestaltet wird – mit strategischem Weitblick und dem notwendigen Bewusstsein für technologische und ethische Komplexitäten.
*Valerie Michaelis ist Division Lead Talent Services beim Bildungsanbieter ETC.

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