Bei Microsoft denkt das Management über die nächste Phase der Cloud nach. Wie die Ignite 2021 zeigt, rückt jetzt Edge Computing ins Rampenlicht. Dementsprechend baut der Softwarekonzern um. [...]
„Das vergangene Jahr hat den bedeutendsten Wandel in unserer Gesellschaft und Wirtschaft in der jüngeren Geschichte gebracht“, sagte Microsoft-CEO Satya Nadella zum Auftakt der Entwicklerkonferenz Ignite Anfang März. Er sprach von einer zweiten Welle der digitalen Transformation, die mittlerweile jedes Unternehmen erfasst habe. „Überall beschleunigen sich digitale Initiativen, um Widerstandsfähigkeit aufzubauen und zu transformieren.“
Der Microsoft-Chef rechnet damit, dass im Zuge der Krisenbewältigung die Anforderungen an Technologie und Cloud Computing größer werden. „Heute ist es an der Zeit darüber nachzudenken, wie sich die Cloud im nächsten Jahrzehnt verändern wird und welche Innovationen wir von ihr erwarten.“ Die Ankündigungen auf der Ignite geben einen ersten Eindruck davon, wie sich Microsoft die kommende Cloud-Welt vorstellt.
Zunächst wird sie deutlich dezentraler organisiert sein, glaubt Nadella. Physische und digitale Welt würden zudem enger zusammenwachsen. Computing werde überall eingebettet und die Art und Weise verändern, wie wir mit Menschen, Orten und Dingen interagieren. „Wir erleben einen radikalen Wandel in der Computing-Architektur“, sagte der Microsoft-CEO. Das reiche von den Materialien über die Halbleiter bis hin zu den Systemen, vom Data Center über die Cloud bis in den Edge-Bereich.
Azure-Pakete für das Edge Computing
Microsoft hat für das Edge Computing „Azure Percept“ vorgestellt. Dabei handelt es sich um eine Plattform aus Hardware und Services, die es Anwendern leichter machen soll, KI-Techniken aus Microsofts Azure-Cloud dezentral zum Einsatz zu bringen – beispielsweise in Kameras zur Objekt- oder Anomalie-Erkennung oder in Audio-Systemen, die per Mikrofon automatisch bestimmte Schlüsselwörter erkennen können. Percept ist vorintegriert mit verschiedenen Services in der der Microsoft-Cloud. Dazu zählen Azure AI, Azure Cognitive Services, Azure Machine Learning, Azure Live Video Analytics und die Azure IoT Services.
Microsoft hat zum Start verschiedene Pakete präsentiert. Mit „Azure Percept Studio“ offeriert der Hersteller ein Starterpaket, das die Anwender mit Hilfe eines Development Kit durch den gesamten KI-Lebenszyklus geleiten soll – von der Entwicklung über das Training bis hin zum Proof-of Concept (PoC) und den Praxiseinsatz. Darüber hinaus gibt es zwei Pakete für konkrete Praxisszenarien: „Azure Percept Vision“ beinhaltet eine intelligente Kamera für die automatische Bilderkennung, „Azure Percept Audio“ bringt ein Spracherkennungsmodul mit vier integrierten Mikrofonen mit. Darüber hinaus bietet Microsoft ein Trusted Platform Module an, um Edge-Devices sicher mit Firmennetzen verbinden zu können.
„Das Ziel unseres neuen Angebots ist es, den Kunden ein durchgängiges System zu bieten, von der Hardware bis zu den KI-Funktionen, das einfach ist und wenig technisches Know-how erfordert“, sagte Roanne Sones, Vice President in Microsofts Edge and Platform Group. Sie kündigte an, eng mit anderen Hardwareherstellern zusammenarbeiten zu wollen, um im Laufe der Zeit ein Ökosystem an intelligenten Geräten aufzubauen, die für die Azure-Percept-Platform zertifiziert sind. „Wir haben mit den beiden häufigsten KI-Workloads begonnen, Vision und Voice – Sehen und Hören,“ sagte Sones. Diese Blaupause könnten andere Hersteller als Grundlage verwenden und entsprechende Geräte und KI-Szenarien entwickeln.
Code, der anhand von Daten lernt
Ein weiterer Faktor, der die künftige Cloud-Ausprägung massiv beeinflussen wird, sind laut Microsoft die Daten. Vielfalt, Menge und Geschwindigkeit des Datenwachstums würden in der Cloud und vor allem im Edge-Bereich regelrecht explodieren, ist sich Nadella sicher. Das werde die darauf aufbauenden Systeme radikal verändern. „Die Business-Logik wird künftig nicht mehr auf Code basieren, der auf herkömmliche Art und Weise geschrieben wird, sondern auf Code, der anhand von Daten lernt“, prognostizierte Nadella. „Dadurch entsteht eine völlig neue Generation von Geschäftsprozess- und Produktivsystemen.“
Auf der Ignite hat Microsoft daher neue Azure-Services vorgestellt, die Anwendern das Handling von Daten und das Orchestrieren von Datenflüssen erleichtern sollen. Dazu zählen beispielsweise Erweiterungen für „Azure Synapse“. Der Softwarekonzern hatte Azure Synapse Analytics im November 2019 präsentiert. Dabei handelt es sich um eine Plattform, um Daten aus unterschiedlichen Datenquellen, Data Warehouses und Big-Data-Analysesystemen auszuwerten. Microsoft spricht von einem Analysedienst, der Datenintegration, Enterprise Data Warehousing und Big-Data-Analysen in einem System vereint.
Nun hat Microsoft den Dienst „Azure Synapse Pathway“ angekündigt. Mit wenigen Klicks sollen Kunden ihre Quellsysteme scannen und ihre vorhandenen Skripte automatisch in T-SQL übersetzen können. Transact-SQL (T-SQL) ist eine Erweiterung des SQL-Standards um Funktionen wie zum Beispiel prozedurale Programmierung, lokale Variablen und Fehlerbehandlung. „Was früher Wochen oder Monate gedauert hat, kann jetzt in wenigen Minuten erledigt werden“, versprach Rohan Kumar, Corporate Vice President für den Bereich Azure Data. Pathway unterstütze Anwender bei der Migration ihrer Systeme von Teradata, Snowflake, Netezza, AWS Redshift, SQL Server und Google BigQuery.
Außerdem hat Microsoft die Reichweite seines im vergangenen Dezember vorgestellten Data-Governance-Service „Azure Purview“ vergrößert. Anwender können damit heterogen zusammengesetzte Systemlandschaften nach Datenbeständen scannen und diese klassifizieren. Bis dato war dies für Teradata-Systeme sowie Microsoft-Lösungen wie die On-premises-Variante des SQL Server, Azure Data Services und Power BI möglich. Künftig könnten Anwender auch AWS S3, Oracle-Datenbanken sowie SAP-Systeme wie ECC und S/4HANA in ihre Datenlandkarten einbinden. Darüber hinaus verzahnt Microsoft Purview eng mit Azure Synapse.
Mit Azure Arc die Multi-Cloud im Griff
Mit den verteilteren Datenlandschaften und dem Ausbau der Edge-Strukturen erweitert Microsoft auch sein Management-Toolset rund um „Azure Arc“, das der Konzern Ende 2019 vorgestellt hatte. Hier finden Anwender verschiedene Werkzeuge, um heterogen zusammengesetzte IT-Infrastrukturen aus Cloud- und On-premises-Bestandteilen verwalten zu können. Dem Anbieter zufolge umfasst das auch andere Clouds, insbesondere die von Amazon und Google.
Künftig sollen Data Scientists und Entwickler über Azure Arc auch Machine Learning Services in hybriden IT-Umgebungen und Multi-Cloud-Landschaften entwickeln und ausrollen können. Dazu könnten die Modelle direkt dort trainiert werden, wo die Daten liegen, verspricht Microsoft. Das reduziere den Aufwand, um Daten zu aggregieren und zwischen den verschiedenen Systemen hin- und her zu bewegen. Außerdem sollen Anwender ab sofort Kubernetes-Cluster via Azure Arc aufsetzen und verwalten können. Microsoft hatte dieses Feature bereits im vergangenen Herbst angekündigt. Nun ist die Container-Funktionalität für Cloud-, On-premises und Edge-Infrastrukturen verfügbar.
Mit den neuen Kubernetes-Diensten will Microsoft Anwendern auch die Migration auf Azure erleichtern. Im Rahmen von „Azure Migrate“ bietet der Softwarekonzern beispielsweise Container-Tools an, um beliebige SQL-Server und andere Datenbanken auf Azure SQL umzuziehen. Zudem soll das neue Azure-PowerShell-Modul Anwender dabei unterstützen, unter VMware laufende virtuelle Maschinen in die Microsoft-Cloud zu migrieren. Das funktioniert dem Hersteller zufolge weitgehend automatisch und erfordert keine aufwendige Installation und Einrichtung von Softwareagenten.
Teams optimiert Kundenansprache
Neben den Erweiterungen im Cloud-Backend hat Microsoft auf der Ignite auch zahlreiche neue Funktionen für das Frontend angekündigt, beispielsweise für Dynamics 365 Marketing und Dynamics 365 Customer Insights. Im April-Update der ERP/CRM-Lösung sollen Anwender bessere und vor allem schnellere Einblicke in das Verhalten ihrer Kunden bekommen. Damit ließen sich je nach Situation bestimmte Interaktionen in Sachen Marketing, Vertrieb oder Service anstoßen – und das nahezu in Echtzeit, verspricht der Hersteller.
Auch diese Funktionen sind eng verzahnt mit den Backend-Services in Azure. Beispielsweise könnten Anwender von Dynamics 365 Customer Insights mit Hilfe von Azure Synapse Analytics bestimmte Kundengruppen effizienter und genauer segmentieren und damit letztendlich auch passgenauer mit entsprechenden Angeboten ansprechen. KI-Modelle sollen Anwender dabei unterstützen, das Kundenverhalten vorherzusagen.
Eine zunehmend wichtigere Rolle in der Weiterentwicklung seiner Business-Lösungen spielt für Microsoft das Collaboration-Tool Teams. Dieses Werkzeug wird enger mit Dynamics 365 verknüpft. Künftig können beispielsweise Vertriebsmitarbeiter in Dynamics 365 Sales direkt einen Teams-Chat aufrufen, um dort mit Kollegen alle relevanten Informationen zu einem bestimmten Kunden einzusehen und zu analysieren.
Darüber hinaus hat Microsoft anlässlich der Ignite neue Funktionen für Teams vorgestellt. Beispielsweise soll sich mit Hilfe von Dynamic View künftig die Teams-Ansicht je nach gezeigtem Inhalt, also ob jemand spricht oder eine Präsentation gezeigt wird, automatisch anpassen. Per Auto-Adjust würden zum Beispiel Sprecher im oberen Teil des Fensters positioniert, also in aller Regel in der Nähe der Kamera, was für einen etwas natürlicher anmutenden Augenkontakt sorgen soll.
Per Teams sollen sich künftig auch Webinare abhalten lassen. Dabei könnten Microsoft zufolge bis zu 1000 Personen an interaktiven Formaten teilnehmen. Moderatoren könnten also Redner und Chats zulassen. Sind derartige virtuelle Veranstaltungen auf das reine Zuhören beschränkt, seien sogar Teilnehmerzahlen von bis zu 20.000 möglich. Ausbauen will Microsoft außerdem die Analyse- und Berichtsfunktionen in Teams. Ab dem zweiten Quartal dieses Jahres sollen sich Veranstalter von Teams-Meetings anzeigen lassen können, welche Teilnehmer wie lange an einem virtuellen Treffen teilgenommen haben.
Virtuell meeten mit Microsoft Mesh
Eine völlig neue Form virtueller Meetings hat der Softwarekonzern mit Microsoft Mesh vorgestellt. Die auf Mixed Reality basierende Plattform bietet Nutzern die Möglichkeit, als Avatar in virtuelle Welten einzutauchen. In einer kommenden Ausbaustufe soll es sogar möglich sein, sich selbst als holografisches Abbild in den virtuellen Raum zu portieren. Microsoft spricht von einer Holoportation. Auf der Ignite zeigte der Hersteller ein Beispiel mit einer Gruppe von Ingenieuren, die als Avatare in einem virtuellen Mesh-Raum gemeinsam an 3D-Modellen arbeiten.
Virtuelle Mesh-Räume seien zunächst mit Microsofts eigenem Mixed-Reality-Headset, der HoloLens 2, sowie einer Reihe verschiedener zertifizierter Virtual-Reality-Headsets, Smartphones, Tablets und PCs zugänglich, hieß es. Microsoft zeigte zudem in einer Vorschau eine Mesh-App für HoloLens, die darauf abzielt, dass Mitarbeiter aus der Ferne miteinander zusammenarbeiten können. Bald sollen Entwickler Tools an die Hand bekommen, um selbst Avatare und Mesh-Räume zu bauen. Die Microsoft-Verantwortlichen planen darüber hinaus, Mesh in Teams zu integrieren. So könnten Teams-Meetings innerhalb eines virtuellen Mesh-Raums abgehalten werden.
„Es gibt kein Zurück mehr“, sagte Microsoft-Chef Nadella. Die Erwartungen der Mitarbeiter hätten sich verändert, Flexibilität werde künftig der Schlüssel sein. „Wir werden auch sehen, wie die digitale und die physische Welt mit Mixed Reality zusammenkommen“, prophezeite der CEO. Als Beispiel nannte Nadella Michael Marin, einen Gefäßchirurgen am Mount Sinai Hospital in New York City. Mit der HoloLens 2, Dynamics 365 Remote Assist und Teams sei Marin in der Lage gewesen, einen Chirurgen, der einen komplexen Eingriff 7.000 Meilen entfernt im Osten Ugandas durchführte, in Echtzeit zu coachen.
„Dieses Beispiel zeigt nur den Anfang dessen, was möglich ist, wenn man Bits mit den Atomen der realen Welt verbindet“, verkündete Nadella hoffnungsvoll. „Wenn man die Art und Weise verändert, wie man die Welt sieht, verändert man die Welt, die man sieht.“
*Martin Bayer: Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP; Betreuung von News und Titel-Strecken in der Print-Ausgabe der COMPUTERWOCHE.
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