Modernes Supply Chain Management: Resilienz für die Lieferketten

Technologien wie Künstliche Intelligenz und Data Analytics optimieren die Planung und Durchführung von Warenströmen – für mehr Wettbewerbsvorteile. [...]

(c) pixabay.com

Alle haben wir in den vergangenen zwei Jahren eines schmerzlich zu spüren bekommen: die Instabilität von Lieferketten. Die Corona-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, wie schnell die eigentlich für gewährleistet gehaltene Versorgungssicherheit in Gefahr geraten kann und Lieferketten kollabieren. Während zu Beginn der Pandemie hauptsächlich sogenannte medizinische Schutzgüter wie Masken rar wurden, sind es mittlerweile Produkte aus allen erdenklichen Kategorien, deren schwankende Verfügbarkeit die Geduld der Verbraucher auf eine harte Probe stellt: Mal sind es Fahrräder, mal Spielekonsolen, mal Medikamente – aber auch Fahrzeuge können oft aufgrund von Chipmangel nicht gebaut werden.

In vielen Bereichen hängt die Handlungsfähigkeit der Unternehmen entscheidend davon ab, wie gut Lieferketten funktionieren. Das zeigt sich besonders bei den erwähnten Chips für Autos. Die jahrzehntelang bewährte Praxis der Just-in-time-Produktion, also der Zulieferung von Material im Fertigungstakt mit nur geringer Vorratslagerung, funktioniert nur so lange gut, wie die Lieferkette reibungslos arbeitet. Und ob Pandemie, Cyberangriffe oder geopolitische Spannungen – es gibt heutzutage zahlreiche Unwägbarkeiten, die zu einer Störung führen können.

Für Unternehmen aller Branchen und Größen stellt sich daher die Frage, wie sie ihre Lieferketten neu aufstellen sollen und welche Rolle die Digitalisierung hierbei spielt. Corona zwingt viele Betriebe in den Realitäts-Check und ein vollständig digitalisiertes Supply Chain Management wird umso wichtiger.

Was ist Supply Chain Management?

Der Begriff Supply Chain Management soll erstmals 1982 von dem Berater Keith Oliver in einem Interview mit der „Financial Times“ verwendet worden sein. Doch was verbirgt sich eigentlich dahinter? Supply Chains beziehungsweise Lieferketten wurden schon immer in irgendeiner Weise organisiert. Gemeint ist, ob deutsch oder englisch, laut Andres Friedrich in beiden Sprachen das Zusammenspiel von Lieferanten, Resellern, Distributoren, Kunden und Plattform-Providern. Der Business Owner Digital Supply Chain beim Software-Unternehmen Software One subsumiert darunter die Steuerung des gesamten Einkaufsprozesses – von der Feststellung des Bedarfs bis hin zur finalen Abwicklung der Zahlungen im Zusammenwirken mit allen Lieferanten.

„Das Supply Chain Management umfasst die Planung, die Durchführung und das Controlling aller Waren-, Informations- und Finanzströme entlang der mehrstufigen Lieferkette eines Endprodukts – vom ersten Vormaterial bis zum Endkunden“, ergänzt Marco Schmitz. Manche schließen auch die Verwertung und das Recycling der Waren in die Supply Chain mit ein, also die Kreislaufwirtschaft, so Schmitz vom Team New Solutions beim Software-Unternehmen Inform.

Kay Manke, Globaler Leiter Operations bei der Unternehmensberatung Bearingpoint, fasst Supply Chain Management in einem Satz zusammen: „Das Supply Chain Management beschreibt die integrierte und prozessorientierte Steuerung und Planung von Informations-, Waren- und Finanzflüssen über die gesamte Wertschöpfungskette vom Ursprung bis hin zum Verbraucher.“

Was zählt zur Supply Chain?

Zu einer Supply Chain gehören dabei alle Stakeholder, die zur Erstellung oder Erzeugung eines Endprodukts oder zur Verwertung nach der Nutzung beitragen. Kurzum: alle Unternehmen, die Vorprodukte oder Dienstleistungen bereitstellen, die für das Endprodukt wichtig sind. Oder die das Endprodukt nach dessen Nutzung verwerten.

Dazu zählen neben den eigenen Lieferanten, den sogenannten First-Tier-Suppliern, und deren Vorlieferanten auch die Unternehmen auf der gleichen Stufe sowie auf nachgelagerten Stufen, also auf der Absatzseite eines Unternehmens. „Je nachdem, aus wie vielen Bestandteilen ein Produkt besteht und wo diese jeweils hergestellt werden, ist eine Supply Chain mehr oder weniger komplex und hat entsprechend viele Beteiligte“, so Christian Grote­meier. Der Geschäftsführer der Bundesvereinigung Logistik (BVL) fügt hinzu, dass dazu „insbesondere Rohstoff­lieferanten, Zulieferer von Bauteilen und Vorprodukten, Dienstleister wie Transport- und Lagereianbieter, der Produzent, der oder die Händler und der Endkunde zählen“.

Beispiel: Walzen as a Service

Wie eine vollvernetzte Supply Chain in der Praxis aussehen kann, zeigt das Beispiel des Stahlproduzenten Thyssenkrupp Steel – ein Anfang des 19. Jahrhunderts gegründeter Traditionskonzern, der konsequent auf die Digitalisierung setzt. Im Warmwalzwerk in Hohenlimburg wurden die einzelnen Produktionsprozesse so aufeinander angestimmt, dass das Werk seinen Kunden „Walzen as a Service“ bieten kann.

Walzen as a Service: Kunden greifen selbst in die Fertigung ihrer Bestellungen ein und legen fest, wann ihr Metall gewalzt wird. Sogar noch wenige Stunden zuvor lassen sich die Materialeigenschaften anpassen (c) Thyssenkrupp Steel Europe

Kunden geben ihren kurzfristigen Bedarf ins System ein und lösen damit den Fertigungsprozess aus. Möglich macht dies ein volldigitalisierter Bestell- und Herstellungsprozess, der auch dafür sorgt, dass eine fristgerechte Bereitstellung der dafür notwendigen Materialen erfolgt. Kunden haben die Möglichkeit, direkt in die Fertigung ihrer Bestellungen einzugreifen und mit einem Vorlauf von 48 bis 72 Stunden selbst festzulegen, wann ihr Metall gewalzt werden soll. Zusätzlich ermöglicht Thyssenkrupp Steel den Kunden, bis wenige Stunden vor der Walzung die Materialeigenschaften der bestellten Produkte bei Bedarf noch einmal anzupassen. Nach Eingang des Auftrags lässt sich der Status online, zum Beispiel per App, verfolgen.

Digital Supply Chain

Die große Anzahl an Variablen, die bei der Steuerung moderner Lieferketten eine Rolle spielen, macht es unmöglich, diese manuell zu handhaben. Mauro Adorno zufolge ist die Planung von Lieferketten darüber hinaus ohnehin ein wenig eingängiger Prozess, bei dem Entscheidungen, die auf menschlichem Instinkt beruhen, „fast immer ein Phänomen mit sich bringen, das als ,Bullwhip-Effekt‘ oder auch ,Peitscheneffekt‘ bekannt ist und zu Bestandsmangel und Überangebot an den falschen Stellen führt“.

Adorno ist Chief Operating Officer EMEA & APAC beim Software-Anbieter Tools Group. Durch die Modellierung physischer Lieferketten mithilfe moderner Planungssysteme, die Algorithmen und Machine Learning einsetzen, könnten Unternehmen alle Variablen orchestrieren und optimieren, um das angestrebte Serviceniveau zu erreichen und die Bestands- und Logistikkosten sowie den Abfall zu minimieren.

Heutige Planungssysteme sind laut Adorno auch in der Lage, die Nachfrage zu erkennen – „man spricht hier auch von ,Demand Sensing‘ –, indem sie eine Reihe von Nachfragesignalen von PoS-Systemen, Wetter, Werbe­aktionen, Social-Media-Feeds und anderen externen Quellen analysieren.“ Durch den Einsatz solcher Systeme würden Unternehmen in der Regel 15 bis 30 Prozent des Lagerbestands einsparen.

Insbesondere globale Lieferketten sind heutzutage höchst komplex. Bei der Erstellung und Verteilung der (Vor-)Produkte würde eine riesige Menge an Daten anfallen, so Marco Schmitz. „Diese bieten das Potenzial, die Produktion und Verteilung der Produkte effizient und nachhaltig zu gestalten.“ Dafür brauche es sowohl leistungsfähige Hardware als auch intelligente Software, die stets verbessert werde und in immer größerem Umfang zur Verfügung stehe. „Die Digitalisierung betrifft dabei potenziell alle Aufgaben und Prozesse, die zur Erstellung und Erzeugung sowie zum Transport der Waren notwendig sind – von digitalen und softwaregestützten Produktionsprozessen bis hin zu autonomen Fahrzeugen, die die Waren verteilen.“ Hierbei spricht man dann häufig von einer Digital Supply Chain.

Die Digitalisierung ermöglicht laut Kay Manke von Bearingpoint die Vernetzung der Lieferkette, indem neue Technologien und innovative Modelle eine Vielzahl an Prozessen verknüpfen (Internet of Things), identifizieren und visualisieren (etwa über Dashboards), analysieren und vorhersagen (etwa mittels prädiktiver Analytik und KI) sowie handeln und optimieren (Reduktion von Emissionen und Steigerung der Automatisierung). „Somit kann eine intelligente und verknüpfte Supply Chain geschaffen werden“, fasst er zusammen, „die schneller, flexibler, granularer, akkurater und effizienter ist.“

Christian Grotemeier betont, dass die Themen Digitalisierung und Transparenz der Lieferkette ein riesiges Optimierungspotenzial eröffnen: „Wer sich rechtzeitig vorbereitet, wird zum Beispiel besser mit Engpässen umgehen, derjenige, der weiß, dass ein Lieferant ausfällt, kann rechtzeitig umplanen.“

(c) Fraunhofer IPA

Transparenz zwischen so vielen Beteiligten sei nur über umfassende digitale Vernetzung möglich. Er fügt an, dass die Vernetzung jedoch ausgebremst werde, unter anderem durch die Sorge, die Hoheit über die eigenen Daten zu verlieren. Hinzu komme die technische Hürde einer Vielzahl von verschiedenen Standards bei den Schnittstellen und die Tatsache, dass manche Dokumente noch immer zwingend der Papierform bedürfen.

„Es wird intensiv an universellen Schnittstellen und Open-Source-Angeboten gearbeitet, und die Partner in der Supply Chain verstehen immer besser, warum sie ihre Daten untereinander teilen sollten. Außerdem wird nach Lösungen gesucht, um auch die letzten ,Papier-Saurier‘ zu beseitigen“, so Grotemeier.

Die Bundsvereinigung Logistik hat zum Beispiel gemeinsam mit GS1 – einer Organisation, die weltweit Standards für unternehmensübergreifende Prozesse entwickelt – und Praxispartnern ein Pilotprojekt „digitaler Lieferschein“ durchgeführt. Die Dauer einzelner Lieferprozesse verkürze sich damit, so der Geschäftsführer der BVL, um bis zu zehn Tage, denn Spediteure sparten sich den gesamten Aufwand der Dokumentation von analogen Lieferscheinen – vom Einscannen übers Archivieren bis hin zur Auskunftspflicht.

„Unternehmen sollten ihre Abläufe auf den Prüfstand stellen und sich von Unnötigem verabschieden“

Paige Cox, Senior Vice President
und Global Head of Business
Network bei SAP (c) SAP

Mittlerweile spricht man in Zusammenhang mit Lieferketten häufig von digitalem Supply Chain Management. Doch was ist daran neu? Und was wird überhaupt alles digital? com! professional spricht darüber mit Paige Cox. Sie ist Senior Vice President und Global Head of Business Network bei SAP.

com! professional: Frau Cox, was verstehen Sie eigentlich unter dem Begriff Supply Chain Management?

Paige Cox: Das Supply Chain Management bündelt und organisiert alle Abläufe, die in einem Unternehmen hinter den Kulissen ablaufen, um Produkte herstellen und ausliefern zu können. Das beinhaltet Einkauf und Bestellung, Fertigung, Bestandsführung, Transport, Logistik und mehr. Damit die gesamte Wertschöpfungskette möglichst reibungsfrei funktioniert, gilt es, die Prozesse effizient zu managen und kontinuierlich zu optimieren.

com! professional: Immer öfters spricht man von einer digitalen Supply Chain und der Optimierung von Lieferketten …

Cox: Bisher waren Lieferketten häufig linear organisiert. Jüngste Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie, Naturkatastrophen und die Blockade des Suezkanals im Frühjahr 2021 haben gezeigt, wie anfällig globale Lieferketten sind, und dass der internationale Handel mit traditionellen, fragmentierten Lieferketten nicht länger funktioniert. Die Folge: In unserer globalen, vernetzten Wirtschaft treten belastbare und reaktionsfähige Ökosysteme an die Stelle von Wertschöpfungsketten, die bisher fragmentiert oder undurchsichtig waren.
Um die globale Vernetzung zu stärken, Risiken zu minimieren und ihre Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, müssen Unternehmen nicht nur ihre eigenen Abläufe transparenter machen, sondern auch die ihrer Handelspartner.„Durch die Digitalisierung von Supply-Chain-Prozessen und die Integration in ein zentrales ERP rücken Unternehmen und Lieferanten noch enger zusammen.“

com! professional: Was genau wird denn digitaler?

Cox: Durch die Digitalisierung von Supply-Chain-Prozessen und die Integration in ein zentrales Enterprise-Resource-Planning-System (ERP) rücken Unternehmen und Lieferanten noch enger zusammen und verstärken ihre Beziehungen auf lange Sicht. Digitale Plattformen fördern dabei Kommunikation und Collaboration, machen Abläufe transparent und vereinfachen den Austausch von Informationen. Unternehmen können umfassenden Einblick in die miteinander verknüpften Prozesse von Käufern, Lieferanten und Partnern gewinnen, zum Beispiel in den Bereichen Beschaffung, Logistik, Finanzen oder Personaleinsatz. Knappe Bestände oder Lieferengpässe lassen sich schnell erkennen, sodass Unternehmen und Lieferanten gemeinsam Lösungen für Verzögerungen oder Rohstoffmangel finden können.

Außerdem entlasten digitale Lösungen alle Beteiligten der Lieferkette, indem sie Routineaufgaben und Workflows in der Beschaffung und beim Vertrags- und Rechnungsmanagement automatisieren. Intelligente Assistenten überprüfen über eine zentrale Datenbank sämtliche Dokumente auf landesspezifische Regelungen und Compliance-Konformität. Damit lässt sich der Aufwand reduzieren und Risiken werden frühzeitig sichtbar.

„Von einer digitalen Lieferkette können Großkonzerne und mittelständische Unternehmen gleichermaßen profitieren.“

com! professional: Ist eine digitale Supply Chain nur etwas für große Konzerne oder auch für den kleineren Mittelständler?

Cox: Von einer digitalen Lieferkette können Großkonzerne und mittelständische Unternehmen gleichermaßen profitieren. Weil sie alle vor ähnlichen Herausforderungen stehen, die sich mit der Digitalisierung meistern lassen.

Laut der Konjunkturumfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) belasteten Unsicherheit und Volatilitäten in den Wertschöpfungsketten im Frühjahr 2021 gut 50 Prozent der Firmen – egal welcher Größe. Rund 15 bis 20 Prozent der Befragten berichteten von schwerwiegenden Problemen in ihrem Umfeld. Vor allem die Industrie, aber auch Baufirmen waren betroffen.

„Unternehmen brauchen ein dynamisches Liefernetzwerk, das im Gegensatz zu traditionellen Lieferketten dank einer Many-to-many-Struktur eine 360-Grad-Sicht ermöglicht.“

com! professional: Unternehmen müssen sich über traditionelle Lieferkettenmodelle hinaus innovativer aufstellen …

Cox: Unternehmen brauchen ein dynamisches Liefernetzwerk, das im Gegensatz zu traditionellen Lieferketten dank einer Many-to-many-Struktur eine 360-Grad-Sicht ermöglicht. Sobald ein Unternehmen an ein Netzwerk angeschlossen ist, wird es sowohl zum Käufer als auch zum Lieferanten und erhält einen umfassenden Einblick in die vernetzten Abläufe seiner Handelspartner.

com! professional: Und welche Rolle spielen dabei die Themen Künstliche Intelligenz und Data Analytics?

Cox: Mit KI und Data Analytics können Unternehmen einen Datenschatz heben. Mit Predictive Analytics erkennen sie zum Beispiel weit im Voraus wichtige Markttrends. Die auf Algorithmen basierenden Vorhersagen speisen sich aus Informationen der Supply-Chain-Partner und weiteren externen Quellen. So werden Unternehmen nicht mehr von Lieferengpässen oder Verzögerungen überrascht.

Die einheitlichen, zentral verfügbaren Daten eines Business-Netzwerks können Unternehmen nutzen, um gemeinsam Produkte zu entwickeln, Arbeitsabläufe zu bündeln oder flexible Lösungen für das Personalmanagement zu finden.

Des Weiteren können sich die Partner hinsichtlich der Logistik abstimmen, um Transportmittel besser auszunutzen und Leerfahrten zu vermeiden. Nicht zuletzt tragen netzwerkweite, transparente Informationen dazu bei, ökologische und soziale Ziele gemeinsam schneller zu erreichen.

com! professional: Ohne Daten geht also nichts mehr. Können Sie ein Beispiel geben, was man mit Daten in einer digitalen Supply Chain konkret machen kann?

Cox: Ein Beispiel sind vom Sturm verwüstete Infrastrukturen, starkes Hochwasser oder Hitzewellen: Extreme Wetterphänomene nehmen im Zuge des Klimawandels deutlich zu. Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie in Zukunft agilere und flexiblere Lieferketten brauchen, um sich auf die Effekte von Natur- und Klimakatastrophen einzustellen.

Mit Location Intelligence und wetterabhängigen Bedarfsanalysen können Unternehmen ihre Supply Chain vor negativen Effekten schützen. Um sich auf die künftigen Klimaszenarien einzustellen, brauchen sie bessere Analysemöglichkeiten und ein deutlich weiter gefasstes Supply Chain Risk Management. Das geht nur mit der richtigen Technologie: Um mit den Informationen der Lieferanten, Kunden, Partner und Wetterdienste ganzheitliche, belastbare Prognosen zu erstellen, sind nahtlos integrierte Datensysteme gefragt. Auf diese Weise können Logistikexperten frühzeitig etwaige Geo-Risiken erkennen und ihre Lieferketten gezielt anpassen.

com! professional: Was sind für Unternehmen die größten Herausforderungen bei der Digitalisierung der Lieferketten?

Cox: Die Prozesse entlang der Lieferkette werden nicht einfacher, sondern immer umfassender und komplexer. Unternehmen sollten ihre Abläufe auf den Prüfstand stellen und sich von Unnötigem verabschieden. Hier können cloudbasierte Lösungen den Unternehmen helfen, bisherige Prozesse zu überdenken und sich zu fragen: Brauchen wir diese Ausnahme wirklich oder können wir vielleicht unsere Geschäftsabläufe so anpassen, dass wir den standardisierten Prozess verwenden können? Eine Cloud-Transformation kann Unternehmen dazu veranlassen, Prozesse entlang der Lieferkette zu durchleuchten und falls möglich zu simplifizieren.

Darüber hinaus besitzen viele Unternehmen heterogene IT-Landschaften, in denen relevante Daten in unterschiedlichen Systemen versteckt sind. Es gilt, solche Silos aufzubrechen und für eine einheit­liche Datenbasis zu sorgen. So gibt es unternehmensweit nur noch eine Single Source of Truth, was die Transparenz in der Lieferkette erhöht.

com! professional: Sie haben das Thema Naturkatastrophen angeprochen. Welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit in Bezug auf Lieferketten?

Cox: Klima- und Umweltschutz, soziale Verantwortung und nachhaltiges Handeln gehören zu den dringlichsten Themen, mit denen wir uns heute beschäftigen. Die UN-Klimakonferenz (COP26) hat 2021 Vertreter:innen aus fast 200 Ländern im Kampf gegen den Klimawandel zusammengebracht. Unternehmen müssen Veränderungen vornehmen, um der Umwelt zu helfen und sich an ethische Grundsätze zu halten.

Die Digitalisierung spielt eine große Rolle bei der Entwicklung einer langfristigen Strategie, die ökologische, soziale und ethische Faktoren in allen Prozessen der Wertschöpfungskette abbilden kann.

Intelligente Lieferketten

In der Logistik und dem Supply Chain Management setzt man laut Christian Grotemeier schon lange auf digitale Technologien – von Computern, die in vielen Speditionen in den 1970er-Jahren die Touren berechnet hätten, über Barcode-Scanner zur schnelleren Erfassung von Sendungsdaten in den 80ern bis hin zu vollvernetzten und transparenten Lieferketten mit Einsatz von Algorithmen, Künstlicher Intelligenz, Drohnen, Exoskeletten oder Datenbrillen, wie wir sie heute erlebten.

„Die Logistik gehört zu den Treibern digitaler Innovation, und das muss sie auch.“ Denn die Kundenanforderungen änderten sich laufend und mit ihnen würden auch die Erwartungen steigen, nicht nur bei der Zustellung von Paketen, sondern zum Beispiel auch in der Produktionslogistik und den damit verbundenen Prozessen und Schnittstellen. „Es geht vor allem um Planungssicherheit als Basis für höchstmögliche Flexibilität und Resilienz.“

Im Rahmen der Digitalisierung sind vor allem Technologien wie Künstliche Intelligenz und Data Analytics von Bedeutung und das Fundament für künftige Optimierungen im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit und auch Nachhaltigkeit. Laut Gartner würden bis 2023 mindestens die Hälfte der großen globalen Unternehmen Künstliche Intelligenz, fortschrittliche Analysen und das Internet of Things im Supply Chain Management einsetzen, zitiert Kay Manke das Analystenhaus.

Hierbei erweise sich KI als eine der innovativsten und zukunftsrelevantesten Technologien für die Verarbeitung großer Datenmengen. „Die strukturierten sowie unstrukturierten Daten können mittels der KI beziehungsweise Data Analytics wettbewerbsstärkend eingesetzt werden, um einen grundlegenden Informationsvorsprung auszubauen und historische oder auch marktspezifische Datenmengen in Entscheidungsprozesse mit einfließen zu lassen.“ Somit könnten beispielsweise Daten zur Risikoüberwachung der gesamten Supply Chain angewandt werden.

Um aus den riesigen Datenmengen einen Nutzen zu ziehen, muss man jedoch in der Lage sein, Signale von „Rauschen“ zu trennen. Fortgeschrittene Machine-Learning-Algorithmen sind hier der Schlüssel. „Auf der Grundlage probabilistischer Prognosemodelle interpretieren diese Algorithmen die inhärente Unsicherheit von Angebot und Nachfrage“, erläutert Mauro Adorno von der Tools Group.

„Bei dieser Methode wird anstelle des traditionellen ,One-Number Forecast‘, der auf der Mittelung aggregierter Daten beruht, nicht ein einziges Ergebnis angezeigt, sondern eine Bandbreite, der jeweils eine Wahrscheinlichkeit zugeordnet ist.“ Anhand dieser Details könnten Vorhersage-Algorithmen Muster erkennen, die den Disponenten helfen, zu reagieren und den Kurs zu korrigieren, bevor Krisen eintreten. Auch könnten sie so durch völlig neue Situationen navigieren, etwa die Pandemie.

In diesen Zusammenhang ist immer wieder von „intelligenten Supply Chains“ die Rede. Dabei sind die Lieferketten an sich ja nicht intelligent. Der Begriff zielt vielmehr auf intelligente Entscheidungen ab, die in der Supply Chain getroffen werden, um wirtschaftlich und nachhaltig Produkte und Dienstleistungen bereitzustellen. Von einer intelligenten Supply Chain kann man sprechen, wenn eine erfolgreiche Systemimplementierung innovativer Technologien wie KI stattgefunden hat und diese auch regelmäßig zum Einsatz kommen.

Zukunft Blockchain?

Die Blockchain-Technologie ist eine der meistdiskutierten Innovationen der digitalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Die dezentrale Datenbank eröffnet durch Eigenschaften wie Zuverlässigkeit und Fälschungssicherheit ein breites Feld an innovativen Anwendungsmöglichkeiten und neuen Kooperationsformen. Das Prinzip der Blockchain weckt bei vielen Unternehmen durchaus Interesse, doch ist die Blockchain noch wenig greifbar und es fehlen häufig auch noch die Ideen, was man mit der Technologie alles anstellen könnte.

Noch im Jahr 2017 war von einer Blockchain-Revolution in der Logistik die Rede, berichtet Grotemeier von der Bundesvereinigung Logistik. Das habe sich etwas relativiert. Konkrete Use-Cases zeichnen sich ihm zufolge aber beispielsweise bei der Digitalisierung von Verträgen und Transportbegleitdokumenten ab, ebenso bei der Nachverfolgung von Lieferketten zum Beispiel bei Lebensmitteln.

Nach Ansicht von Marco Schmitz von Inform ist die Blockchain-Technologie ein gutes Beispiel dafür, wie Technologie die Prozesse in Liefernetzwerken verändern kann. Auch Kay Manke unterstreicht, dass in den vergangenen Jahren die Blockchain-Technologie stark an Aufmerksamkeit im Bereich Supply Chain Management und der Digitalisierung der Lieferketten gewonnen hat. Die Eigenschaften der Blockchain-Technologie wie die Unveränderlichkeit von Daten sowie deren öffentlicher Zugang böten die Möglichkeit, Supply Chains effizienter, zuverlässiger und transparenter zu gestalten.

Use-Cases könnten sich ergeben, indem die Blockchain-Technologie beispielsweise Abstimmungsprobleme zwischen globalen Handelspartnern beseitige und die Durchführung von Track-and-Trace-Analysen in Echtzeit oder die Risikobewertung sowie die Beschleunigung physischer, informativer und finanzieller Lieferketten ermögliche.

Unternehmen, Ausblick und Fazit

KMU und Großunternehmen

Eine digitale Supply Chain ist dabei für alle Unternehmen geeignet. Sie ist für Unternehmen jeder Größe ein entscheidender Vorteil, wenn nicht sogar ein überlebenswichtiger Faktor. Die immer kürzer werdenden Produktlebenszyklen, die Variantenvielfalt und die fortschreitende Globalisierung erhöhen den Wettbewerbsdruck auf kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) wie auf Großunternehmen gleichermaßen. „Die digitale Supply Chain wird für alle Unternehmen Realität werden“, ist sich Marco Schmitz sicher. Kaum ein Unternehmen werde sich dem entziehen können. Kay Manke ergänzt, dass zum Beispiel kleinere Mittelständler in vernetzten Lieferketten neue Möglichkeiten erschließen und so für sich Chancen für neue Geschäftsfelder entdecken könnten.

Andreas Friedrich von Software One würde die Frage, ob sich eine Digital Supply Chain für Unternehmen aller Größen eignet, nicht unbedingt mit einem klaren Ja beantworten. „Theoretisch ist natürlich alles überall möglich und implementierbar.“ Er hat jedoch die Erfahrung gemacht, dass entsprechende Bestrebungen nach einer Prüfung nicht bei allen Unternehmen zu einem Projekt führen, weil eine digitalisierte Lieferkette für das entsprechende Unternehmen zu groß gewesen wäre. „Als Hausnummer würde ich hier ein Einkaufsvolumen von 500.000 Euro pro Jahr nennen.“

Christian Grotemeier bestätigt, dass die Digitalisierung der Supply Chain für kleinere Unternehmen mit hohen Kosten und großen Unsicherheiten verbunden ist – betont aber, dass sich eine durchgängig digitale Supply Chain nicht erreichen lasse, wenn nicht alle Beteiligten technisch eingebunden sind. Das schließt zum Beispiel auch kleinere Zufieferer mit ein. An dem Problem werde gearbeitet – zum Beispiel mit Cloud- beziehungsweise SaaS-Lösungen und Open-Source-Angeboten.

Fazit & Ausblick

Das vergangene Jahr hat eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig funktionierende Lieferketten für nahezu alle Aspekte des Lebens sind. Daher gehört es für Unternehmen aller Größen und Branchen zu den wichtigen Aufgaben, eine robuste, globale, durchgängige Lieferketteninfrastruktur aufzubauen. Das Ziel sollte sein, die Kundennachfrage auch in Zeiten von Störungen bedienen zu können.

„Das, worauf wir uns derzeit besonders konzentrieren sollten, um unserer Versorgungsfunktion gerecht werden zu können, ist, die durchgängige Digitalisierung der Wertschöpfungsketten weiter voranzutreiben“, unterstreicht auch Christian Grotemeier von der BVL. Das könne aber nur gemeinsam gelingen – mit einheitlichen Standards, einheitlichen Prozessen und größtmöglicher Kompatibilität. Dazu seien noch einige Hürden abzubauen, sowohl kulturell als auch technisch. Besonders die Cloud-Technologie biete da viel Potenzial.

Ob die neuesten Big-Data-Tools oder fortschrittliche Analyseanwendungen – „Trends und Technologien führen zu instrumentalisierten, intelligenten, vernetzten, flexi­blen und zielorientierten Supply Chains“, resümiert Kay Manke von Bearingpoint.

*Konstantin Pfliegl ist Redakteur bei der Zeitschrift com! professional. Er hat über zwei Jahrzehnte Erfahrung als Journalist für verschiedene Print- und Online-Medien und arbeitete unter anderem für die Fachpublikationen tecChannel und Internet Professionell.


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