„Mogelpackung“: Kein Roaming, aber auch keine echte Netzneutralität

Das Europäische Parlament hat am Dienstag ein neues Telekom-Paket angenommen. Darin enthalten ist die Abschaffung der Mobilfunk-Roaming-Gebühren innerhalb der EU ab dem 15. Juni 2017 (mit Einschränkungen). Zudem wurden erstmals EU-weite Vorschriften zur Gewährleistung des "Zugangs zu einem offenen Internet" geschaffen. Kritiker sehen in der Neuregelung allerdings den Tod der Netzneutralität. [...]

Die ursprünglich für 2018 geplante Abschaffung der Roaming-Gebühren für die Nutzung von Mobiltelefonen im EU-Ausland wurde nunmehr vorgezogen und soll schon am 15. Juni 2017 in Kraft treten. Wie üblich wird das in mehreren Schritten durchgeführt, schon ab dem 30. April 2016 dürfen die Roamingaufschläge die folgenden Beträge nicht überschreiten: 0.05 Euro je Minute für Anrufe, 0.02 Euro je SMS oder 0.05 Euro je Megabyte Datenvolumen bei mobiler Internetnutzung. Die Obergrenze für eingehende Anrufe soll später in diesem Jahr festgelegt werden und voraussichtlich weit unter jener für abgehende Anrufe liegen.

Ein Schlupfloch gibt es für Telekombetreiber aber: Wenn Betreiber ihre Kosten nachweislich nicht decken und beweisen können, dass sich dies auf die Inlandspreise auswirkt, können die nationalen Regulierungsbehörden ihnen gestatten, in Ausnahmefällen Minimalaufschläge zu erheben, um alle relevanten Kosten zu decken.

Mit der Verordnung werden außerdem Vorkehrungen für eine „angemessene Nutzung“ eingeführt, um die Industrie vor einer missbräuchlichen Nutzung oder „dauerhaftem Roaming“ (Permanent Roaming) zu schützen, beispielsweise wenn der Kunde eine SIM-Karte in einem anderen EU-Staat kauft, in dem die Inlandspreise niedriger sind, um sie bei sich zu Hause zu verwenden, oder wenn der Kunde sich dauerhaft im Ausland aufhält, aber einen in seinem und für sein Heimatland abgeschlossenen Vertrag nutzt. Die Kommission wurde beauftragt, mit den Regulierungsbehörden die Einzelheiten für diese Regelung zur angemessenen Nutzung („Fair-Use-Policy“) festzulegen.

WIE SCHNELL IST MEIN INTERNET?

Ebenfalls in der neuen Regelung enthalten: Anbieter von Internetzugangsdiensten müssen Nutzern, die kurz davorstehen, einen Vertrag fürs Fest- oder Mobilfunknetz zu unterzeichnen, eine klare und verständliche Erläuterung geben müssen, wie hoch die wirklich zu erwartenden Download- und Upload-Geschwindigkeiten sind (im Vergleich zu den beworbenen). Bei erheblichen, kontinuierlichen oder regelmäßig wiederkehrenden Abweichungen können die Nutzer ein Recht auf die Beendigung des Vertrags oder auf Entschädigung geltend machen. Es obliegt den nationalen Regulierungsbehörden, festzustellen, ob bestimmte Abweichungen vertragskonform sind oder nicht.

NETZNEUTRALITÄT

Prinzipiell klingt es ja gut: Das neue Gesetz verpflichtet die Anbieter von Internetzugangsdiensten, den gesamten Verkehr bei der Erbringung solcher Dienstleistungen gleich zu behandeln, ohne Diskriminierung, Beschränkung oder Störung, sowie unabhängig von Sender und Empfänger, den abgerufenen oder verbreiteten Inhalten, den genutzten oder bereitgestellten Anwendungen oder Diensten oder den verwendeten Endgeräten – außer zum Beispiel bei gerichtlichen Anordnungen, zur Vorbeugung gegen Cyberangriffe oder um Netzüberlastungen zu vermeiden. Falls derlei „angemessene Verkehrsmanagementmaßnahmen“ erforderlich werden, sollten sie „transparent, nichtdiskriminierend und verhältnismäßig“ sein und nicht länger dauern als unbedingt nötig.

Der Text sieht allerdings auch vor, dass Internetanbieter Spezialdienste anbieten dürfen (z. B. eine für bestimmte Dienste wie Internet-TV, Videokonferenzen oder bestimmte Anwendungen im Gesundheitswesen benötigte verbesserte Internetqualität), jedoch nur unter der Bedingung, dass sich dies nicht auf die allgemeine Internetqualität auswirkt.

In einem englischsprachigen FAQ-Text geht die EU-Kommission auf einige der damit verbundenen Fragestellungen ein.

BEGEISTERUNG? FEHLANZEIGE!

Kritiker sind wenig begeistert von der neuen Regelung. „Was den Verbraucherinnen und Verbrauchern als Erfolg verkauft wird, ist eine riesige Mogelpackung. Die konservativen und sozialdemokratischen Abgeordneten haben die Netzneutralität geopfert. Sie ist nach dieser Abstimmung de facto abgeschafft. Telekom-Unternehmen dürfen in Zukunft bevorzugte Sonderdienste im Internet einführen und entsprechend verrechnen. Das Ergebnis ist ein Zwei-Klassen-Internet, in dem derjenige bevorzugt wird, der mehr bezahlen kann“, erklärt beispielsweise Michel Reimon, EU-Abgeordneter der Grünen, in einer Aussendung.

Auch Niko Alm, netzpolitischer Sprecher von NEOS, ist enttäuscht: „Unsere Hoffnungen lagen bis zuletzt bei den EU-Abgeordneten. Leider hat die Roaming-Erpressung durch die Kommission und den Rat, das heißt die Regierungen der Mitgliedstaaten, funktioniert und das Parlament so zu einem zu hohen Preis die riesigen Schlupflöcher bei der Netzneutralität durchgewunken.“

Josef Weidenholzer, Vizepräsident der sozialdemokratischen Fraktion (S&D), sieht in der Einigung zwar auch positive Aspekte, unterm Strich handle es sich aber um kein gutes Gesetz. Problematisch sieht Weidenholzer vor allem die Regelung betreffend der Einführung von Spezialdiensten im Internet. Es konnte zwar mitaufgenommen werden, dass die Qualität der regulären Internetverbindung in Bandbreite und Geschwindigkeit durch diese Spezialdienste nicht leiden darf, die Spezialdienste dürfen aber als „Pay-for-Priority“-Dienste gegen Bezahlung prioritär durchs Netz geleitet werden. „Auf diese Weise wird eine Überholspur im Internet und somit ein Zwei-Klassen-Internet geschaffen.“ Der Vorschlag würde damit sogar die Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten wie Slowenien und Niederlande, die bereits über eine gesetzliche Regelung verfügen, untergraben, so Weidenholzer.

ÖVP-Telekomsprecher Paul Rübig wiederum lobt die heutige Entscheidung, auch wenn er es bedauerlich findet, „dass so viel politischer Druck notwendig war, bis die europäische Telekom-Industrie zeitgemäß handelt und Kommunikationsfreiheit ohne Roaming in Europa möglich wird.“ Der Europaabgeordnete zur Netzneutralität: „Ohne das EU-Parlament hätte es keine Regeln zum Schutz des freien Zugangs zum Internet gegeben, sondern nur ’nationale Fleckerlteppiche‘. Mit diesen detaillierten Regeln ist die EU Vorreiter. Es sind weltweit die ersten gesetzlichen Verpflichtungen und können nicht einfach ausgehebelt werden. Das ist in den USA nicht der Fall. Das EU-Parlament trifft heute eine historische Entscheidung für Freiheit, Offenheit und Innovationskraft des Internets“, so Rübig.

Ebenfalls auf die USA Bezug nehmend, aber deutlich pessimistischer, ist der Netzneutralitäts-Experte Thomas Lohninger von der Initiative für Netzfreiheit. „Heute ist ein schwarzer Tag für Europa, für die Netzpolitik und alle Internet-Nutzer. Aber wir geben nicht auf. Die USA haben auch zwei Anläufe gebraucht, um letztendlich zu einer guten und stabilen Netzneutralitäts-Regelung zu kommen“, so Lohninger in einer Aussendung. (rnf)


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