Nicht wenig Beschäftigte halten die Digitalisierung für einen vorübergehenden Trend. Doch der digitale Wandel ist keine Modeerscheinung, sondern die Zukunft. Nur wenn sich die Mitarbeiter für die Digitalstrategie ihres Arbeitgebers begeistern lassen, gelingt die Transformation. [...]
Mancher CIO reibt sich verwundert die Augen über den neuen Hype, den die Digitalisierung auslöst. Doch Skeptiker übersehen gerne, weshalb heute vieles anders ist. „Die Technik erlaubt erst jetzt, viele Ideen und Innovationen umzusetzen“, sagt Robert Weidinger, Chief Digital Officer (CDO) der Lebensversicherung von 1871 (LV1871) in München. Weidinger leitet seit 2003 den IT-Bereich der Versicherung und übernahm im Januar 2017 den neu geschaffenen CDO-Posten.
Eine neue, duale Organisationsstruktur soll den digitalen Wandel beschleunigen. Die LV1871-Stammorganisation mit ihren rund 450 Mitarbeitern am Lenbachplatz wird um ein digitales Netzwerk ergänzt, das 20 Mitarbeiter umfassen soll. Dafür mietete der Versicherer Büros im Münchner Osten im Werk 1 an, eines der Startup-Zentren in der Stadt. Von der Metapher, dass Konzerne Dampfern gleichen, die ein Startup gründen, das wie ein Schnellboot digitale Innovationen vorantreibt, hält Weidinger nichts. „Wir müssen auch das Stammgeschäft neu denken. Für unser Netzwerk haben wir drei neue Mitarbeiter eingestellt, doch zum Team zählen auch erfahrene Kollegen. Gemeinsam sollen sie jenseits des Tagesgeschäfts neue Produkte und Services entwickeln“, erklärt der studierte Mathematiker. Die Zusammenarbeit zwischen erfahrenen und neuen Kollegen soll fließend sein; auch räumlich pendeln sie zwischen Lenbachplatz und Ostbahnhof. „Bei uns kamen schon immer viele Ideen aus den Fachabteilungen, deren Umsetzung wollen wir mit dem Netzwerk noch stärker fördern“, so Weidinger.
Die IT steht unter Druck
Ein weiterer Treiber der Digitalisierung sind die Kunden. Sie erwarten einfache Prozesse und schnelle Antworten. „Wir sind zum Handeln gezwungen“, räumt Weidinger ein. 55 IT-Mitarbeiter beschäftigt LV1871, seit 2002 entwickeln sie Software mit agilen Methoden. „Die IT steht unter Druck, wir müssen die Geschwindigkeit erhöhen“, so der CDO. Den Karriereschritt vom CIO zum CDO sieht er als konsequent. „Anfangs dachte ich, dass ich beide Funktionen alleine erfüllen kann. Doch meine neue Rolle gleicht der eines Moderators und Supervisors, der die verschiedenen Aspekte der Digitalisierung im Auge behält und eine Klammer bildet.“
Mathias Weigert, Geschäftsführer der Unternehmerschmiede, rekrutiert und entwickelt Fach- und Führungskräfte zu Digitalunternehmern. „Der Gedanke der Plattformökonomie fehlt in Deutschland“, kritisiert Weigert. Seiner Meinung nach seien große Teile der Wirtschaft von Ingenieuren geprägt, die mehr darüber nachdenken, wie sich Maschinen und Prozesse verbessern und optimieren lassen. Der Bezug zu neuen Geschäftsmodellen fehle ihnen häufig. Doch Plattformen wie Amazon oder AirBnB nehmen keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten von etablierten Industrien. Weigert fordert: „Unternehmen müssen neue Beziehungen zum Kunden entwickeln. Dafür braucht es radikal nutzerorientiertes Denken und neue Geschäftsmodelle.“ Manche Konzerne verpassen dem gesamten Unternehmen eine Digitalstrategie, andere gründen Startups. „Wir empfehlen, auf Leuchtturmprojekte zu setzen, die eine hohe Strahlkraft haben und auch Skeptiker im Unternehmen überzeugen können“, sagt Weigert.
Weiterbildung aus eigenem Antrieb
Doch welche Qualifikationen brauchen Mitarbeiter im digitalen Wandel? „Eine technische Affinität ist in allen Positionen wichtig. Uns interessiert auch, wie Mitarbeiter privat Technik nutzen, ob die Digitalisierung ein Teil ihres Lebens ist“, erklärt Thomas Krüer, Personalleiter der LV1871. Der Münchner Lebensversicherer beschäftigt viele, die seit 30 oder mehr Jahren dort arbeiten. Gerade weil die Digitalstrategie das ganze Unternehmen verändern soll, kommt es auch darauf an, alle für den Wandel zu begeistern. „Ich führe intensive Gespräche mit dem Betriebsrat. Alle unsere Mitarbeiter durchlaufen eine Transformation. Manche frischen ihr Wissen in Betriebswirtschaft auf, andere ihre Englischkenntnisse“, nennt Krüer Beispiele. Doch entscheidend für den Personalleiter ist deren Haltung: Wie gehen Mitarbeiter mit Neuem um? Sind sie neugierig und offen, wollen dazulernen und sich weiterbilden? Weder Alter noch eine bestimmte Ausbildung sei entscheidend, wie Krüer betont. Softwareentwickler müssten nicht unbedingt ein Informatikstudium11 mitbringen, auch wer sich aus eigenem Elan weiterbildet und über Zertifikate verfügt, passe zum Unternehmen.
Krüer möchte Mitarbeiter motivieren, sich in neue Themen einzuarbeiten und Weiterbildung als Teil ihrer Arbeit zu sehen. Statt Tagesseminare schult die LV1871 ihre Mitarbeiter über drei bis vier Monate. Eine Auftaktveranstaltung vermittelt den theoretischen Hintergrund. Hausaufgaben, die sie auch in Arbeitsgruppen mit Kollegen lösen, Seminare mit externen Trainern ergänzen das Curriculum. „Manche sehen noch nicht die Notwendigkeit, sich weiterzubilden. Wer 30 oder mehr Jahre beim selben Arbeitgeber beschäftigt ist, neigt dazu, die Digitalisierung als Trend abzutun, nach dem Motto: ich habe schon viele Krisen erlebt. Doch die Digitalisierung ist kein Trend, sondern die Zukunft“, sagt Krüer.
Digitalisierung als Change-Prozess in Firmen
Peter Bruhn wechselte vor einem dreiviertel Jahr auf die neu geschaffene Position des Senior Digital Advisors bei Takkt, einer Management-Holding mit sechs Sparten und Firmensitz in Stuttgart, die im B2B-Versand tätig sind. Jede der Töchter beschäftigt einen CDO, Bruhns Aufgabe ist es, den Überblick über die Digitalisierungsaktivitäten zu behalten und die im vergangenen Jahr entwickelte Digitalstrategie „Vision 2020“ umzusetzen. Ein Ziel ist das Kundenerlebnis zu verbessern. Während ein Katalog mit Foto und Produktbeschreibung arbeitet, eröffnet der Web-Shop die Chance, den Kunden ausführlichere Informationen, wie Videos oder Virtual- und Augmented-Reality16-Inhalte anzubieten. „Wir sind ein Serviceanbieter und wollen hier unsere Kompetenz weiter ausbauen“, erklärt Bruhn.
Um neue digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln, will das Unternehmen rund 100 neue Mitarbeiter finden. Vor allem im Online-Marketing und Data Mining sieht Bruhn gute Chance für Bewerber. Auch Data-Analysten und Data Scientists sucht Takkt. „Von neuen Mitarbeitern für die digitale Transformation erwarten wir fundiertes Verständnis für digitale Technologien und Geschäftsmodelle“, so der Wirtschaftsinformatiker Bruhn. Ein Informatikstudium sei nicht verpflichtend, die Kombination von Technik und Wirtschaft sei bei vielen Aufgaben entscheidend, auch erfolgreiche Entrepreneure sind willkommen. „Mitarbeiter müssen die richtigen Fragen stellen, aus Daten Erkenntnisse und Ideen für Geschäftsmodelle ableiten können“, erklärt er die Anforderungen und fügt hinzu: „Wir investieren viel in die Weiterbildung unserer Mitarbeiter.“
Mit einem neu aufgelegten Trainee-Programm spricht Takkt Young Professionals an, die nach Ausbildung oder Studium in einem Startup gearbeitet haben und sich in 18 Monaten zum Corporate Digital Entrepreneur weiterbilden möchten. Reizvoll für die ersten sieben Teilnehmer, die kürzlich starteten, ist auch der dreimonatige Aufenthalt bei einem Startup im Silicon Valley. „Jeder Trainee unseres Corporate-Digital-Entrepreneur-Programms hatte Vorstellungsgespräche mit zwei Vorstandsmitgliedern. Uns ist es sehr wichtig, dass die Leute zu unserer offenen Unternehmenskultur passen“, erklärt Bruhn und fügt hinzu: „Wenn ein Praktikant eine gute Idee für ein Projekt hat, erfährt er die gleiche Wertschätzung wie ein erfahrener Mitarbeiter.“
Digitalisierungsstudie: Optimistische Amerikaner
Europa vergleicht sich gerne mit den USA, auch zum Stand der digitalen Transformation. Eine Studie, die Etventure gemeinsam mit der GfK Nürnberg und YouGov USA in deutschen und US-amerikanischen Großunternehmen erhoben hat, beschäftigt sich mit Aspekten der Arbeitsplatzentwicklung, Unternehmenskultur und Personal:
- In den USA sehen sich 85 Prozent der Firmen „sehr gut“ oder „gut“ auf die Digitalisierung vorbereitet, hierzulande sind es nur 35 Prozent.
- 90 Prozent der US-amerikanischen Firmen sehen ihre Mitarbeiter ausreichend qualifiziert für den digitalen Wandel, in Deutschland sind es nur 42 Prozent.
- Hierzulande befürchtet jeder fünfte Konzern (20 Prozent), dass im Zuge der Digitalisierung Arbeitsplätze abgebaut werden. In den USA sagt das mit vier Prozent nahezu keines der befragten Großunternehmen. Vielmehr erwarten sechs von zehn US-Firmen (59 Prozent) neue Arbeitsplätze durch die Digitalisierung – in Deutschland sind es nur zwei von zehn (19 Prozent).
In den Studienergebnissen spiegelt sich vermutlich nicht nur die tatsächliche wirtschaftliche Situation wider, sondern auch kulturelle Unterschiede; während US-Amerikaner oft optimistischer in die Zukunft sehen und Deutsche tendenziell pessimistischer und selbstkritischer sind, liegt die Wahrheit vermutlich irgendwo zwischen den Zahlen.
* Ingrid Weidner schreibt für IDG Deutschland.
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