Nachfragebedingte Risiken in der Lieferkette: weniger sichtbar, aber nicht weniger gefährlich

Diskussionen über Risiken in der Lieferkette konzentrieren sich in der Regel auf größere Versorgungsunterbrechungen wie Umweltkatastrophen und Pandemien. Es gibt jedoch noch eine andere Art von Risiko, die auf lange Sicht Schaden anrichten kann, aber weniger Beachtung findet: das nachfragebedingte Risiko. [...]

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Diskussionen über Risiken in der Lieferkette konzentrieren sich in der Regel auf größere Versorgungsunterbrechungen wie Umweltkatastrophen und Pandemien. Diese dramatischen Ereignisse ziehen die Aufmerksamkeit der Medien auf sich, weil sie Lieferketten stark beeinträchtigen und das tägliche Leben– von Engpässen bei der Unterhaltungselektronik bis hin zu lebenswichtigen Medikamenten – einschränken. Es gibt jedoch noch eine andere Art von Risiko, die auf lange Sicht Schaden anrichten kann, aber weniger Beachtung findet: das nachfragebedingte Risiko. Es wird durch unerwartete, plötzliche oder schleichende Veränderungen im Verbraucherverhalten verursacht. Da  Lieferketten heutzutage nachfrageorientiert sind, ist es sinnvoll, die Risiken auch aus diesem Blickwinkel zu betrachten.

Risiko aufseiten der Lieferanten – ein Dominoeffekt

Ein nachfragebedingtes Risiko kann durch ein Risiko aufseiten der Lieferanten ausgelöst werden. So hat die Pandemie etwa dazu geführt, dass viele neue Varianten von Verbraucherprodukten auf den Markt gekommen sind, von Designer-Gesichtsmasken über HEPA-Luftreiniger bis hin zu organischen, veganen Handdesinfektionsmitteln. Laut verschiedener Studien hatte die Krise auch Auswirkungen auf andere wichtige Bereiche unseres Lebens, wie etwa unser Ernährungsverhalten. Anstatt ins Restaurant zu gehen, kochen wieder mehr Menschen zu Hause oder nutzen Lieferdienste auch zur Mittagszeit. Laut Statista ist in Österreich durch die Corona-Krise das Bewusstsein für gesunde, regionale, saisonale und nachhaltige Lebensmittel gewachsen. All dies hat Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgungsketten.

Schleichende Entwicklungen

Der Zusammenhang zwischen der wachsenden Zahl von Umweltkatastrophen in der ganzen Welt und den Versorgungsquellen ist eindeutig. So sehen Pastahersteller und Konsumenten die Einbrüche bei den Ernteerträgen von Hartweizen dieses Jahr mit Sorge. Was weniger offensichtlich ist, ist die Tatsache, dass diese Katastrophen viele Menschen dazu veranlasst, sich langsam für nachhaltigere Produkte und Dienstleistungen zu entscheiden. Die Verbraucher von heute stellen sich Fragen wie: „Gibt es eine nachhaltigere Version dieses Produkts?“, „Benötige ich dieses Produkt wirklich morgen?“, oder sogar „Benötige ich dieses Produkt überhaupt?“. 

Kurzlebige Trends

Eine andere Art von Nachfrageschwankungen tritt auf, wenn etwa globale Influencer wie Billie Eilish oder Selena Gomez Mode- und Kosmetiktrends auslösen. Das Risiko besteht dann darin, dass Unternehmen nicht in der Lage sind, diese kurzfristigen, starken Nachfragespitzen zu bedienen, und sie Kunden so auch langfristig an Wettbewerber verlieren.

Fünf Ansätze für das Management nachfrageorientierter Risiken

Laut Gartner „erfordern der Aufstieg des digitalen Geschäfts und der Wunsch der Marken, näher am Kunden zu sein, eine agile Lieferkette, um die kurzfristige Nachfrage besser vorhersagen und die Reaktionsgeschwindigkeit bei der Nachschubplanung erhöhen zu können.“ Der Schlüssel dazu ist das Management und die Minimierung von nachfrageabhängigen Risiken.

Glücklicherweise ist das nachfrageabhängige Risiko leichter zu prognostizieren als das Angebots-abhängige Risiko, weil es heute so viele verschiedene Datenquellen gibt, die den Planern helfen, Veränderungen zu erkennen. Außerdem gibt es ausgefeilte Systeme und Prozesse, die die Daten integrieren und analysieren können. 

Je nachdem, wie ausgereift eine Lieferkette ist, müssen eventuell Änderungen bei den Instrumenten, Prozessen und Mitarbeitenden vorgenommen werden, um das nachfrageorientierte Risiko effektiv zu steuern. Die folgenden fünf Ansätze bieten eine solide Grundlage für diesen Prozess:

  • Erfassen neuer Nachfrageimpulse zur Verbesserung der kurzfristigen Prognose – normalerweise werden Prognosen für einen Zeitraum von einem Monat bis zu 90 Tagen erstellt – ein zu langes Zeitfenster, als dass Planer Verbesserungen vornehmen könnten. Durch die Erfassung des kurzfristigen Absatzverlaufs und der damit verbundenen Nachfrageursachen können Unternehmen schnell und nahezu in Echtzeit Einblicke in den Monat erhalten, um Prognosen mit einem kürzeren Zeithorizont zu aktualisieren. Der Schlüssel zur Verbesserung der kurzfristigen Nachfragetransparenz liegt in der Steigerung des Umfangs und der Vielfalt der erhobenen und analysierten Datenquellen. Zu den Daten, die genutzt werden können, gehören Social Media-, Point-of-Sales-, Lagerbestands- und Regalverfügbarkeitsdaten.
  • Nachfrage Modellierung – ein Nachfragemodell hilft bei der Vorhersage des künftigen Kundenverhaltens auf der Grundlage früherer Erfahrungen. Je mehr externe Variablen in das Modell einfließen, desto genauer und vorausschauender wird dieses. Diese Variablen können externe Quellen wie Social Media Feeds, Wettbewerbsinformationen, Wettervorhersagen und Point-of-Sales-Daten sowie interne Datenquellen wie Verkaufshistorie und Informationen über Werbeaktionen und neue Produkteinführungen umfassen. 
  • Probabilistische Vorhersage – fließen mehrere Variablen in die Planung ein, kommt ein deterministischer Prognoseansatz schnell an sein Limit. Im Gegensatz dazu berücksichtigt ein probabilistischer (auch stochastischer) Prognoseprozess die Ungewissheit und hilft so beim Risikomanagement. Bei probabilistischen Prognosen analysieren fortschrittliche Algorithmen mehrere Nachfragevariablen, um die Wahrscheinlichkeiten einer Reihe von möglichen Ergebnissen zu ermitteln, von denen eines das wahrscheinlichste ist. Dies ist eine viel zuverlässigere Methode, um Vorhersagen zu treffen, wenn die Nachfragemuster variabel sind, wenn es nur eine begrenzte Auftragshistorie gibt (etwa bei der Einführung neuer Produkte) oder wenn Faktoren wie Saisonabhängigkeit ins Spiel kommen.
  • Software für die Nachfrageprognose Software für die Nachfrageprognose, die einen probabilistischen Ansatz verwendet, modelliert automatisch die Bottom-up-Nachfrage für einzelne Artikel im Detail. Sie analysiert Auftragszeilen, um sowohl historische Bedarfsmengen als auch die Bedarfshäufigkeit zu modellieren und so eine genaue Schätzung der Volatilität zu erhalten. Die Software versteht unter anderem den Unterschied zwischen einer Großbestellung von 20 Einheiten und dem 20-maligen Verkauf einzelner Einheiten desselben Produkts. Ferner kann das System die schwankende „Long Tail“-Nachfrage nach Langsamdrehern berücksichtigen, die sich nur schwer vorhersagen lässt. Auch Marktfaktoren (Trends, Saisonalität, kausale Faktoren und Schwankungen) und organisatorische Faktoren (nachfragefördernde Aktionen, neue Produkte, Prognoseverzerrungen und Bullwhip-Effekt) werden berücksichtigt.
  • Zentralisierte, integrierte, funktionsübergreifende Planung zentralisierte, integrierte, funktionsübergreifende Planung – sobald eine solide Basis-Prognose erstellt wurde, müssen die Mitarbeitenden im Unternehmen diese durch ihr Wissen und ihre Erfahrung verfeinern. Die Menschen spielen eine entscheidende Rolle bei der Lösung der vielen komplexen Kompromisse, die der Vorhersage und der Minderung des Nachfragerisikos zugrunde liegen. Nehmen wir ein Beispiel aus der Modebranche: Die Käufer der Generation Z sind sehr umweltbewusst und stehen auf Upcycling von Second-Hand-Kleidung. Gleichzeitig sind sie aber auch diejenige Bevölkerungsgruppe, die am ehesten zu „Fast Fashion“ greift, um mit den wechselnden Trends Schritt zu halten. Diese Widersprüche bedeuten, dass die Modeeinkäufer, die die Trends analysieren, ihre Informationen mit den Modeverkäufern abgleichen müssen, die näher an den tatsächlichen Verkaufszahlen sind. In jeder Lieferkette gilt: Je mehr Personen aus den Bereichen Finanzen, Marketing, Vertrieb, Betrieb und Vertriebspartner in die Verfeinerung der Nachfrageprognosen einbezogen werden können, desto zuverlässiger und genauer werden diese Prognosen im Laufe der Zeit sein.

Wie der Supply-Chain-Guru Dr. Martin Christopher einmal sagte: „Erfolgreiche Unternehmen konkurrieren heute nicht mehr als eigenständige Einheiten, sondern als Supply Chains.“ Dieser Satz war noch nie so wahr wie heute. Die Unternehmen, deren Lieferketten am besten in der Lage sind, Nachfrageschwankungen zu erkennen und darauf zu reagieren, werden nicht nur am widerstandsfähigsten gegenüber Risiken sein, sondern auch die besten Gesamtergebnisse erzielen können.

*Gastautor Mauro Adorno ist Managing Director Europe bei ToolsGroup. Der erfahrener Supply Chain Experte hilft seinen Kunden dabei, Nachfragevolatilität und Komplexität in der Supply Chain zu überwinden und hervorragende Servicequalität bei reduzierten Lagerbeständen zu erzielen.


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