Die Psychotherapeutin Nora Dietrich über die psychischen Herausforderungen von New Work – und Unternehmen als Resonanzfläche für Gesundheit. [...]
Durch die Digitalisierung und neue Technologien hat sich die Arbeitswelt in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Mobiles Arbeiten, Homeoffice und Videokonferenzen sind für viele Arbeitnehmer mittlerweile Alltag. Während die einen die Möglichkeiten der New Work als Geschenk empfinden, hadern andere damit.
Eine im März dieses Jahres veröffentlichte Studie des IT-Dienstleisters Lufthansa Industry Solutions kommt zu dem Ergebnis, dass sich fast ein Drittel der Arbeitnehmer überfordert fühlt vom neuen Arbeiten. Da stellt sich die Frage: Was macht New Work mit den Mitarbeitern und wie schafft man es als Unternehmen, alle Kollegen mit ins Boot zu holen? com! professional spricht darüber mit der Berliner Psychotherapeutin und Organisationsdesignerin Nora Dietrich.
com! professional: Frau Dietrich, Corona hat die Arbeitswelt komplett durcheinandergewirbelt. Wie kommen Mitarbeiter und Führungskräfte damit zurecht?
Nora Dietrich: Es ist deutlich geworden, dass dieser Shift von einem Tag auf den anderen unglaublich viel Unruhe ins System gebracht hat. Wir haben binnen weniger Tage die Ärmel hochgekrempelt und unser Leben umgestellt. So wurde zum Beispiel aus der morgendlichen Yoga-Session eine Kinderbetreuung. Das war zwar alles anstrengend – hat uns aber auch sehr nahe zusammengebracht. Jetzt sind wir allerdings schon seit eineinhalb Jahren in diesem System und merken, wie erschöpft wir eigentlich sind. Viele Mitarbeitenden sprechen von Müdigkeit, von hohem Workload, weil wir trotzdem in vielen Organisationen extreme Erfolgszahlen gesehen haben. Die Menschen mussten ihren Alltag bewältigen, ihr Familienleben bewältigen und dazu noch all die Projekte und neuen Kommunikationswege. Es gab einfach zu wenig Zeit, sich an all das zu gewöhnen. Ich glaube, diese Belastung und Erschöpfung spüren wir gerade.
Gleichzeitig hat Corona aber auch eine Art Enthusiasmus entfacht – dass wir uns verändern können und müssen, wenn der Druck hoch genug ist. Und es hat sich eine neue Flexibilität eingestellt.
com! professional: Sie propagieren eine „Mental health culture“. Was ist darunter zu verstehen?
Dietrich: Eine mental gesunde Organisationskultur bedeutet, dass die Organisationen verstehen, dass Gesundheit keine Selbstverständlichkeit ist. Unsere Mitarbeitenden verbringen im Schnitt rund 90.000 Stunden ihres Lebens an der Arbeit – Überstunden nicht mitgerechnet. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir das wertschätzen und dass wir die Menschen unterstützen – durch unsere Arbeitsstrukturen und unsere Arbeitskultur.
„Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass Wandel immer nur von innen heraus funktioniert.“
Fühlen sich die Mitarbeitenden wohl, dann sind die Strukturen so beschaffen, dass sie ihre Arbeit bestmöglich machen können. Auch wollen die Mitarbeitenden als ganze Menschen gesehen werden.
Stress im Beruf ist einer der Hauptfaktoren für Stress im Leben. Und dafür müssen wir Verantwortung übernehmen.
com! professional: Ist denn in Zeiten von New Work die Notwendigkeit größer geworden, sich um ein gesunde Arbeitskultur zu bemühen?
Dietrich: Ich glaube, die Belastungsfaktoren waren auch früher schon da. Aber durch die Entstigmatisierung von mentalen Belastungsfaktoren sprechen wir mehr darüber. Das erhöht natürlich auch den Druck auf Organisationen. Und wir sehen, dass die jüngeren Generationen einfach mehr von ihrem Arbeitsplatz erwarten – weg vom reinen Profit und der Performance hin zu mehr Nachhaltigkeit, hin zu Organisationskulturen, die sie wachsen lassen und sie unterstützen.
com! professional: Es gibt die lateinische Redewendung „Mens sana in corpore sano“ – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Lässt sich hier eine Verbindung zur Arbeitswelt von heute herstellen?
Dietrich: Wenn es um Leadership oder um Team-Spirit geht, dann brauche ich gesunde Strategien, um die Mitarbeiter zu fördern. Also, ja, ich meine schon, dass der Ort, an dem wir so viel Zeit verbringen, in jedem Fall eine Resonanzfläche sein sollte für Gesundheit.
com! professional: Aber was sollten Unternehmen konkret tun? Und welche Fehler sollten sie vermeiden?
Dietrich: Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass Wandel immer nur von innen heraus funktioniert. Mitarbeiter mitzunehmen und partizipativ neue Strukturen und Kulturen zu entwickeln, die auf derer Bedürfnislage beruhen – das ist essenziell. Man sollte es als eine Art Experimentierraum sehen. Einer der größten Fehler ist, die Menschen nicht mitzunehmen und zu erwarten, dass sie die Veränderungen einfach mitgehen.
Der zweite Fehler ist, einfach einen Blueprint zu kopieren, also zu sagen, andere Unternehmen machen es so und so und wir machen es genauso. Wichtig ist das Mitgestalten. Eine Idee wäre, mit einem Team zu beginnen und mit diesem eine neue Strategie auszuprobieren. Das Team also stellvertretend für die Organisation testen zu lassen, wie etwas funktioniert, zum Beispiel eine Viertagewoche oder ein Kooperations-Tool. Von diesen Erfahrungen sollte man lernen. Sind sie gut, kann man sie auf die gesamte Organisation übertragen.
Der dritte große Fehler, den ich sehe, ist, dass die Führungsebene der Mitarbeiterschaft verordnet, Veränderungen zu leben, sie selbst aber nur wenig Veränderungswillen zeigt beziehungsweise Machtstrukturen aufrechterhalten will, weil sie davon profitiert.
com! professional: Ist bei New Work aber nicht das Problem, dass die Teams gerade ein wenig auseinanderbrechen? Jeder arbeitet woanders …
Dietrich: New Work wird auch dafür Lösungen finden. Die hybride Welt dieses Ausmaßes ist ja eines der größten Experimente, die wir im letzten Jahr gestartet haben. Wir lernen auch jetzt erst, wie die Konsequenzen aussehen und was Menschen wirklich brauchen. 40 Prozent aller Mitarbeitenden würden heute sagen, dass sie sich isoliert fühlen. Wir haben nicht mehr nur Silostrukturen in den Organisationen, sondern die Mitarbeitenden fühlen sich selbst als Silos. Sie arbeiten zwar mit den Menschen zusammen, mit denen sie das beruflich müssen – aber es fehlen die Netzwerkstrukturen, sie sprechen also nicht mehr crossfunktional, weil sie keine Berührungspunkte mehr haben. Da geht viel Spontaneität verloren.
„Die Belastungsfaktoren waren auch früher schon da. Aber durch die Entstigmatisierung von mentalen Belastungsfaktoren sprechen wir mehr darüber.“
Es gibt zwar viele, für die Kollaboration online fast besser funktioniert, aber die Verbindung zueinander fehlt, die Sichtbarkeit, die emotionale Nähe. Wir sprechen weniger über die menschliche Seite des Arbeitens oder darüber, dass wir uns weniger sichtbar fühlen. Viele fürchten, dass die Karriereoptionen schlechter werden, wenn sie nicht mit ihrem Vorgesetztem an einem Ort und sichtbar sind. Es gibt auf jeden Fall negative Aspekte, bei denen wir uns überlegen müssen, wie wir damit umgehen.
com! professional: Vielleicht müsste man auch neue Rituale etablieren? Zum Beispiel, dass ein Meeting erst einmal mit fünf Minuten Small Talk beginnt …
Dietrich: Es gibt tolle Studien zum Thema Resilienz im letzten Jahr, also zu der Frage, welche Unternehmen besonders resilient waren und warum. Es hat sich gezeigt, dass Teams, die regelmäßige Rituale hatten, die zum Beispiel zusammengekommen sind ohne den reinen beruflichen Kontext, deutlich resilienter aus der Krise hervorgegangen sind. Sie hatten das Gefühl von Verbindung: Wir sitzen in einem Boot, wir unterstützen uns.
Fünf Minuten Small Talk vor Beginn des Meetings sind eine gute Idee. Oder man startet jedes Meeting mit einer Check-in-Frage, die nichts mit dem eigentlichen Kontext zu tun hat. Wir sind da wie Kinder: Alles, was uns eine Orientierungsrahmen gibt, an dem wir uns festhalten können, hilft in Zeiten von Verunsicherung.
com! professional: Und nicht alle Menschen kommen gleich gut zurecht mit virtuellen Meetings. Es sind oft dieselben Mitarbeiter, die etwas zu sagen haben. Und dieselben zurückhaltenden Naturen, die online noch weniger sagen …
Dietrich: Die Führungskraft sollte hier ins Gespräch gehen und den ruhigeren Mitarbeiter direkt fragen, was ihn unterstützen könnte, um sich mehr zu beteiligen. Aber auch der Moderator eines Meetings muss sich überlegen, wie er solche Menschen besser einbezieht. Zum Beispiel indem jeder seine Ideen aufschreiben und präsentieren muss – so hat dann jeder einen Sprechanteil.
Oder der Moderator spricht die ruhigen Kollegen einfach an, zum Beispiel „Super, Annette, was Du da sagst, aber ich habe noch gar nichts von Tom gehört.“ Man muss ein Bewusstsein dafür entwickeln, wer besonders laut ist und wer ein wenig mitgenommen werden muss.
Zur PersonNora Dietrichversteht sich als Anwältin für psychische Gesundheit. Die Psychotherapeutin übersetzt ihre Expertise aus der Verhaltenstherapie in die Unternehmenswelt. Als Organisationsdesignerin bringt sie ihr Wissen über die Komplexität der menschlichen Psyche mit den Trends in der New-Work-Welt zusammen.
*Konstantin Pfliegl ist Redakteur bei der Zeitschrift com! professional. Er hat über zwei Jahrzehnte Erfahrung als Journalist für verschiedene Print- und Online-Medien und arbeitete unter anderem für die Fachpublikationen tecChannel und Internet Professionell.
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